Komplexe technische Systeme – Radioaktivität
Strahlenarten
Die Bindungsenergiekurve zeigt, dass die Kernbausteine der verschiedenen Kerne unterschiedlich stark gebunden sind. Außer den stabilen Kernen gibt es auch instabile Kerne, die unter Aussendung von Teilchen in einen energetisch günstigeren Zustand übergehen. Solche Kerne bezeichnet man als radioaktiv. Man unterscheidet nach den ausgesandten Teilchen, die als radioaktive Strahlung bezeichnet werden, drei Arten von Radioaktivität:
-Strahlung
Es wird ein 4He-Kern, den man deswegen auch als -Teilchen bezeichnet, aus dem radioaktiv zerfallenden Kern ausgesandt, so dass sich folgende Kernumwandlung ergibt (X bzw. Y sind die Kerne vor bzw. nach dem Zerfall):
-Strahen aben nur eine geringe Reichweite (in Luft einige cm, in festen und flüssigen Stoffen Bruchteile von 1 mm); sie sind also leicht abschirmbar, jedoch biologisch sehr gefährlich, wenn sie in den Körper aufgenommen werden.
β-Strahlung:
Beim β-Zerfall wird im radioaktiven Kern ein Neutron in ein Proton umgewandelt, wobei ein Elektron, deshalb auch β-Teilchen genannt, aus dem Kern ausgesandt wird. Es ergibt sich folgende Kernumwandlung:
Die Reichweite der β-Strahlen ist größer als die der a-Strahlen, sie reicht in Luft einige Meter weit, in festen oder flüssigen Stoffen einige cm weit. Auch die b-Strahlen sind biologisch gefährlich. Neben diesem β-Zerfall kennt die Kernphysik auch noch den β+-Zerfall, bei dem ein Positron, das ist das Antiteilchen zum Elektron, ausgesandt wird. Teilchen und Antiteilchen haben die gleiche Masse, ihre betragsmäßig gleich großen Ladungen haben entgegengesetzte Vorzeichen. Die Gleichung der Kernumwandlung bei β+-Zerfall kann man sich leicht überlegen. Zur Unterscheidung vom β+-Zerfall wird der gewöhnliche β-Zerfall auch als β–-Zerfall bezeichnet.
Ɣ-Strahlung:
Die dritte radioaktive Strahlungsart besteht aus elektromagnetischen Wellen hoher Energie, sie ist also von ihrer physikalischen Struktur her eine elektromagnetische Welle wie das sichtbare Licht, allerdings mit höherer Frequenz und kürzerer Wellenlänge.
Da sich die ausgesandten Ɣ-Strahlen wie Teilchen verhalten, spricht man auch von g-Quanten, die keine elektrische Ladung tragen und keine Ruhemasse besitzen. Ɣ-Strahlung tritt auf, wenn energetisch angeregte Kerne (oben mit X* bezeichnet) ihre überschüssige Energie abgeben und dadurch von einem angeregten Zustand in einen energetisch günstigeren Zustand übergehen. Es findet keine Kernumwandlung statt: Ɣ-Strahlen treten meist als Begleiterscheinung des – und β-Zerfalls auf. Die Reichweite der Ɣ-Strahlen ist sehr groß, in Luft mehrere km. Zur Abschirmung verwendet man Materialien mit hoher Dichte wie z.B. Blei und Stahlbeton. Ihre biologische Wirkung ist geringer als die der – und β-Strahlen.
Neben diesen drei klassischen Strahlungsarten zählt man heute auch die Neutronenstrahlung zu den radioaktiven Stahlen hinzu.
Zerfallsgesetz
Obwohl die radioaktiven Zerfallsprozesse zufällig sind, gehorchen sie einem einheitlichen Zerfallsgesetz. Hat man zum Zeitpunkt t = 0 noch No unzerfallene Kerne eines radioaktiven Isotops, so sind zur Zeit t nur noch N(t) unzerfallene Kerne vorhanden, wobei der Zusammenhang gilt:
N(t) = Noe–lt
Dabei bezeichnet e die Euler’sche Zahl (hier: die e-Funktion) und l eine vom radioaktiven Material abhängige Zerfallskonstante. In der nachfolgenden Abbildung ist das Zerfallsgesetz grafisch dargestellt. Anschaulicher als die Zerfallskonstante l ist die sog. Halbwertszeit T1/2. Das ist die Zeit, die vergeht, bis die Hälfte der vorhandenen radioaktiven Kerne zerfallen ist. Dafür setzt man das Zerfallsgesetz folgendermaßen an:
No/2 = Noe–lt ; man löst nach T1/2 auf, es ergibt sich T1/2 = ln2/l.

Die obige Abbildung zeigt, dass nach etwa fünf, sechs Halbwertszeiten fast alle radioaktiven Kerne zerfallen sind. Es gibt je nach radioaktivem Stoff sehr unterschiedliche Halbwertszeiten von Bruchteilen von Sekunden bis zu vielen Jahrtausenden. Die Halbwertszeiten radioaktiver Kerne findet man in physikalischen Formelsammlungen.
In der Regel wird nach einem Zerfall eines Kerns noch kein stabiler Endzustand erreicht, so dass der zerfallene Kern selbst auch radioaktiv ist und weiter zerfällt. Auf diese Weise entstehen sog. Zerfallsreihen, an deren Ende dann ein stabiler Kern steht. Die stabilen Kerne sind Isotope des Elements Blei. Auch die Zerfallsreihen sind in der Physik-Formelsammlung zu finden.
Nachweisgeräte für radioaktive Strahlung
Radioaktive Strahlung kann relativ einfach gemessen werden. Dabei wird die ionisierende Wirkung der radioaktiven Strahlung ausgenutzt, also die Fähigkeit der Strahlung aus der Hülle von Atomen Elektronen herauszulösen und damit geladene Teilchen, eben Ionen, zu erzeugen. Die radioaktiven Strahlen fallen deshalb auch unter den Oberbegriff der ionisierenden Strahlen.

n der Abbildung ist das Prinzip des Nachweises für ionisierende Strahlen schematisch dargestellt: Die Strahlung tritt in die gasgefüllte Ionisationskammer ein und löst dort negativ geladene Elektronen aus den Hüllen der Gasmoleküle, die damit positiv geladen zurückbleiben. Die herausgelösten Elektronen werden von der positiven Elektrode (der Anode) und die positiven Ionen von der negativen Elektrode (der Katode) angezogen. Dadurch kommt es zu einem Stromfluss, der mit einem Messgerät registriert wird.
Meist wird zur Registrierung ionisierender Strahlen ein Geiger-Müller-Zähler verwendet. Das ist eine besonders empfindliche Ionisationskammer, mit der einzelne radioaktive Teilchen nachgewiesen (gezählt) werden können. Häufig ist daran auch ein Lautsprecher angeschlossen, so dass ein radioaktiver Zerfall als deutlich hörbares Knacken vernommen wird.
Biologische Wirkung
Radioaktive Strahlung tritt bei der Energiegewinnung mittels Kernumwandlungen auf, also insbesondere bei noch zu besprechenden Kernspaltung. So stellt die Radioaktivität der Spaltprodukte das Hauptproblem bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie dar. Da radioaktive Strahlung Leben schädigen kann, wirkt sie stark umweltbelastend.
Die natürliche Radioaktivität auf der Erde wird aus zwei Quellen gespeist. Zum einen sind radioaktive Isotope in der Erdkruste enthalten, beispielsweise Uranerzeinschlüsse in bestimmten Gesteinsarten. Das ist auch ein Grund dafür, dass die natürliche Radioaktivität je nach Standort erhebliche Schwankungen aufweist. Dieser Teil der natürlichen Radioaktivität wird terrestrische Strahlung genannt. Zum anderen wird die natürliche Radioaktivität durch die auf die Erde einfallende kosmische Strahlung hervorgerufen. Diese energiereiche Strahlung trifft, aus dem Weltall kommend, auf die Atome in der Lufthülle. Durch Wechselwirkungen der kosmischen Primär-strahlung mit den Kernen der Luftmoleküle entsteht eine radioaktive Sekundärstrahlung, die bis zum Erdboden gelangt.
Die künstliche Radioaktivität wird durch technische Eingriffe des Menschen erzeugt. Dazu gehören die Anwendungen in der Medizintechnik, wie Röntgenuntersuchungen, „Bestrahlungen“ usw., frühere oberirdische Kernwaffenversuche, das Betreiben technischer Geräte, die Strahlung abgeben (beispielsweise Monitore), und der Betrieb kerntechnischer Anlagen, insbesondere Kernkraftwerke.
Jedes Lebewesen auf der Erde ist dieser natürlichen und künstlichen Radioaktivität ausgesetzt, wobei die Strahlenbelastungen je nach Standort und nach Zeitpunkt erheblich unterschiedlich sein können.
Um die schädigende biologische Wirkung radioaktiver Strahlung quantitativ angeben zu können, muss man dafür geeignete Maße wie die Energiedosis und die Äquivalentdosis einführen. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.
Für die Wirkung der radioaktiven Strahlung in lebenden Organismen ist die Ionisationsfähigkeit der Strahlung ausschlaggebend. Dadurch entstehen in den Körperzellen chemisch sehr reaktionsfähige Stoffe (Zellgifte, freie Radikale), die chemische Veränderungen in den Zellen auslösen. Als Folge davon kann die Zelle absterben oder in ihrer Funktion gestört sein. Diese Veränderungen können sich auch auf den genetischen Code auswirken, so dass diese Schäden bei Zellteilungen an die Tochterzellen weitergegeben werden (Spätschäden wie Strahlen-krebs). Tritt eine Schädigung der Keimzellen auf, so können Erbschäden, wie z.B. Missbildungen, in der Nach-kommenschaft auftreten. Der Mensch ist radioaktiver Strahlung aus zwei Richtungen ausgesetzt: Zum einen durch Strahlenquellen, die von außerhalb auf ihn einwirken. Zum anderen nimmt er radioaktive Substanzen über die Atemluft und Nahrung in den Körper auf, man sagt, er inkorporiert sie. Diese Stoffe können sich bevorzugt an bestimmten Stellen im Körper ansammeln (Lunge, Schilddrüse, Knochen usw.), so dass zwar nur eine geringe Ganzkörperbestrahlung resultiert, lokal können sich aber dadurch wesentlich höhere Strahlenbelastungen ergeben.
Strahlenschutz
Um die Bevölkerung und beruflich exponierte Gruppen vor der Gefahr der radioaktiven Strahlung zu schützen, ist in Deutschland der Strahlenschutz in der Strahlenschutzverordnung staatlich geregelt. Dort sind auch Grenzwerte angegeben, die etwa in Kernkraftwerken nicht überschritten werden dürfen.
Aus physikalischer Sicht sind vor allem zwei Maßnahmen zu nennen, die vor schädigender radioaktiver Strahlung schützen:
- Abschirmung: Beim Durchlauf durch Materie wird die radioaktive Strahlung geschwächt, und zwar um so mehr, je dichter das Material (Blei, Stahlbeton) und je dicker es ist.
- Abstand: Die radioaktive Strahlung nimmt mit dem Quadrat des Abstandes ab. Das bedeutet, dass bei doppelten Abstand nur noch ein Viertel der Strahlungsintensität im Vergleich zum einfachen Abstand herrscht.
Hinzu kommt die
- Aufenthaltsdauer: Der Umgang mit radioaktiver Strahlung soll möglichst kurz sein, d.h. z.B. es werden in der Regel nur Röntgenbilder statt Röntgenfilme gemacht.