„Konsequenzen der Moderne

Ähnlich Ulrich Beck oder Jürgen Habermas sieht sich Giddens als Vertreter einer „kritischen Theorie“ der modernen Gesellschaft, die zur Bewusstseinsbildung beitragen soll. Als „Sozialtheoretiker“ wird ein kategorialer Raster zur Beschreibung von Gesellschaft entwickelt, dieser aber nicht durch empirisch überprüfbare Hypothesen untermauert.

Modernisierung wird als kontinuierlich stattfindender, prinzipiell unabgeschlossener Prozess politischer, technischer und sozialer Innovationen verstanden. Anthony Giddens spricht von „Zweiter Moderne“ oder „reflexiver Moderne“ (Vgl. Ulrich Beck) und will damit verdeutlichen, dass sich die Konsequenzen der Moderne radikalisieren und allgemeiner auswirken als bisher (Moderne als weltweites Alltags-Experiment, als gefährliches Abenteuer), aber nicht in ein neues Zeitalter der Postmoderne führen. Der von Beck geprägte Begriff der „Welt-Risikogesellschaft“ (Zunahme selbsterzeugter, schwer kalkulierbarer globaler Risiken) wird aufgegriffen. Diese These arbeitet mit der Dualität der Struktur: Handlungen, die für das Funktionieren moderner Gesellschaft nötig sind, verursachen gleichzeitig universelle Risiken (Konsequenzen) als Bedingungen weiteren Handelns in der „Zweiten Moderne“. Entscheidendes und gefordertes Merkmal einer reflexiven Modernisierung ist die Reflexion der Konsequenzen der Moderne. Der Modernisierungsprozess / soziale Wandel samt seinen geplanten und ungeplanten Folgen muss reflektiert und darf nicht sich selbst überlassen bleiben. Wobei Giddens dem orientierungslos gewordenen Individuum wenig Kontrollmöglichkeit einräumt und somit die Steuerbarkeit einer Gesellschaft (da Unübersichtlichkeit, unüberschaubare Nebenfolgen, Nicht-Linearität…) anzweifelt.

Der „radikalisierte“ soziale Wandel verursacht erhebliche Veränderungen an der modernen Gesellschaftsstruktur: u.a. Individualisierung, Enttraditionalisierung, Entbettung aus lokalen Zusammenhängen, Globalisierung, Trend zur Dienstleistung, neue Armut, Migration… und erfordert permanente und aktive Anpassung der Akteure, um den Konsequenzen der Moderne gerecht zu werden. Die Handlungsmöglichkeiten der fortgeschrittenen Moderne sind ins Extreme gesteigert.

Als eine allgemeine Gefahr sieht Giddens die Unfähigkeit, sich von der Vergangenheit als Tradition bzw. verinnerlichte einzige Möglichkeit zu lösen, was als Zwangshandeln bezeichnet wird und die Kehrseite der „kognitiven Revolution“ der Moderne darstellt.

Moderne Gesellschaften als auch deren Dynamik zeichnen sich nach Giddens wesentlich durch drei Mechanismen aus:

1. Trennung / Umgestaltung von Zeit und Raum: Beide Dimensionen werden aus lokalen Zusammenhängen gelöst und globalisiert; eine Abstandsvergrößerung unbegrenzter Reichweite findet statt. Handlungskoordination jenseits aller örtlichen Gebundenheit wird ermöglicht bzw. gefordert.

2. Entstehung von Entbettungsmechanismen: Soziale Beziehungen und gesellschaftliches Tun werden aus örtlich begrenzten und normativ verfestigten Interaktionszusammenhängen enthoben und umstrukturiert. Dadurch wird die Integration in ein traditionales System geschwächt, was auch eine individuelle Identitätsschwächung mit sich bringt. Zusätzlich wird das Vertrauen in abstrakte Systeme zur Voraussetzung zum Funktionieren des Alltags. Personales Vertrauen und Intimität sind massiven Veränderungen unterworfen.

3. Reflexive Aneignung des Wissens: Fortschreitende Enttraditionalisierung führt zur Reflexivität als Grundbedingung; zunehmendes Wissen („Informationsgesellschaft“) unterminiert unser Vertrauen in Expertensysteme und symbolische Zeichen und lässt das allgemeine Risikobewusstsein steigen. Gegensätzliche Informationen führen oft eher zur Verunsicherung als zur Bewusstseinsbildung. Die Erzeugung systematischen Wissens über Sozialität trägt zur Reproduktion des sozialen Systems bei. Wobei anzumerken ist, dass kein „Wissen“ der Moderne mehr als unumstößlich oder gewiss gelten kann (Moderne als „Institutionalisierung des Zweifels“). Besondere Bedeutung erhalten auch die nicht intendierten Konsequenzen von Handeln („Dialektik von Wissen und Handeln“).

Als institutionelle Dimensionen der Moderne bezeichnet Giddens den Kapitalismus (->Kapitalakkumulation), den Industrialismus (arbeitsteiliges industrielles Produktionssystem), die militärische Macht und das System der Überwachung, die allesamt globale Auswirkungen zeigen.

Die Institutionen der Moderne vergleicht Giddens mit einem hinduistischen Dschagganath-Wagen: Sie sind kaum steuerbar, potentiell zermalmend aber nicht gänzlich unangenehm oder unbefriedigend. Reflexive Modernisierung bedeutet auch, dass sich Institutionensysteme einer drastischen Kritik stellen müssen.“ [https://de.wikibooks.org/wiki/Soziologische_Klassiker/_Giddens,_Anthony#Theorie_der_Strukturierung, aufgerufen am 31.07.20, 21:47]

Aufgaben:

1. Erläutern Sie Giddens drei Mechanismen anhand aktueller Verschwörungstheorien.

2. Welche Herausforderungen für das Individuum bedeuten diese Mechanismen und Veränderungen? In der Expertenrunde im nächsten Kapitel werden viele Beispiele genannt und eingeordnet.