Individuum und Identität
Individuum
Georg Simmel (1992): „aus Individuum entsteht die Gesellschaft, aus Gesellschaft entsteht das Individuum.“
Dies macht das Abhängigkeitsverhältnis der beiden Aspekte deutlich. Aber gerade das Individuum war für Simmel „kein Gegenstand des Erkennens, sondern nur des Erlebens“. Es ging ihm vielmehr darum, die Wechselwirkung zwischen den Individuen sichtbar zu machen.
Zu der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gibt es zwei unterschiedliche Erklärungsansätze:
Eine Seite vertritt die Auffassung, dass das Individuum autonom seine individuelle Persönlichkeit aus sich selbst heraus entwickelt. Durch gemeinsame Schnittpunkte mit anderen Menschen wird dann soziales Leben ermöglicht. Hierbei ergibt sich das Bild, dass die Gesellschaft eine Gefahr für den Einzelnen in seiner Entfaltung darstellt, da sie diese hemmen oder die Persönlichkeitsentwicklung letztlich behindern kann.
Andere Autoren sehen den Menschen hingegen in Abhängigkeit zu der Gesellschaft. Sie sind der Auffassung, dass individuelle Eigenschaften erst im Laufe seiner Entwicklung durch die sozialen Systeme in denen er lebt, ausgebildet werden (Sozialisation). Auch bei dieser Betrachtungsweise besteht die Gefahr der einseitigen Betrachtungsweise, dass der Mensch als Produkt seiner Umwelt verstanden wird.
Beide Auffassungen versuchen Gesellschaft und Individuum voneinander zu lösen. Jedoch sind beide miteinander verschränkt und bedingen sich gegenseitig. Dies wird deutlich, wenn man beide Aspekte im Wechselspiel betrachtet:
Ein soziologisches Grundmodell – drei Elemente
Anhand des soziologischen Grundmodells lässt sich das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft vereinfacht abbilden. Es besteht aus drei Grundelementen: dem Individuum, der Gruppe und der Organisation.
- Individuum: Jeder einzelne Mensch ist ein Individuum ein soziales Wesen mit eigenen Erfahrungen, eigenem Wissen, Erleben und Können und individuellen Handlungen.
So hat die VIBOS-Schülerin Nora (22 Jahre) eine Ausbildung als Altenpflegerin absolviert. Besonders interessiert ist sie an dem Bereich Demenz. Die beruflichen Erfahrungen, die sie aus der intensiven Betreuung der Bewohner, aber auch der Begleitung der Angehörigen miterlebte nimmt sie als Motivation, um sich in ihrem Fachbereich weiterzubilden und zu entwickeln. Sie möchte ihr Fachabitur nachholen und studieren.
- Gruppe: Im Laufe seines Lebens hat jeder in unterschiedlichen Gruppen gelebt und gearbeitet, z.B. in Familie, Schulklasse, Arbeitsgruppe. In einer Gruppe mit mehreren Mitgliedern interagieren diese miteinander und steuern sich gegenseitig. Es werden in den sozialen Beziehungen Auffassungen getauscht, z.B. Verhaltensregeln, Zusammenarbeit, gemeinsame Werte etc.
Die Pflegekräfte steuern das Verhalten der Bewohner und umgekehrt. Sie entwickeln das Bild ihrer Gruppe: „Das ist unsere intakte Wohngruppe, in der wir uns wohlfühlen. Wir erwarten, dass sich die Mitglieder gegenseitig helfen, wenn jemand in Not ist.“
- Organisation: Individuen und Gruppen stehen nicht nur untereinander, sondern auch mit ihrer Umgebung in Beziehung. Sie können Organisationen bilden und/oder angehören. Organisationen sind soziale Gebilde, die beständig ein Ziel verfolgen, ihre Mitglieder auf das spezifische Ziel ausrichten und eine formale Struktur aufweisen.
Leben die Mitglieder in einem Pflegeheim, so ist ihr Bezugsrahmen eine Institution. Darunter versteht man ein soziales Gebilde, das darauf ausgerichtet ist, soziale Bedürfnisse zu befriedigen. Die Institution Pflegeheim hat einen Träger, z.B. Diakonie. Beide bieten in geordneten Verhältnissen Altenpflege an. Sie werden darum umfassend als Organisation bezeichnet.
weitere Einflussfaktoren: Die Elemente Individuum, Gruppe und Organisation stehen nicht nur untereinander in Wechselwirkung, sie werden von mehreren Faktoren beeinflusst:
- Zeit (z.B. das Lebensalter eines Menschen prägt seine Rolle in der Gesellschaft)
- Raum (z.B. fühlen sich Menschen die auf dem Dorf aufgewachsen sind in der Großstadt überfordert von den Eindrücken)
- Gesellschaft (z.B. hat hohe Arbeitslosigkeit Einfluss auf das System der Alterssicherung)
- Kultur (z.B. das Leitbild einer Organisation richtet sich nach der Weltanschauung des Trägers)
Die Einflussfaktoren verbinden und schließen alle Elemente zu einem Ganzen zusammen. Verändert sich ein Faktor, z.B. die Gesellschaft, hat dies Auswirkung auf das Ganze. Die Wechselwirkung zwischen den drei Elementen und ihre Verbindung durch die Einflussfaktoren verdeutlicht das erweiterte soziologische Grundmodell.
Identität
In der Soziologie gibt es verschiedene Betrachtungsweisen der Identität. Eine grobe Unterteilung wurde von William James und Georg H. Mead durch die Trennung von sozialer und personaler Identität vorgenommen.
Die soziale Identität („me“) umfasst die Summe der Bereiche, die durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entstehen, wie z.B. Kultur, Religion, Familie, Natur. Das heißt sie umfasst kollektive Identitäten (z.B. Deutscher, Frau, Mittelschicht), soziale Rollen (z.B. Angestellte, Mutter, Single, Schüler) und symbolisch-materielle Elemente. Die soziale Identität lässt den Menschen sich fragen, „Wie sehen mich andere und welche Erwartungen haben diese an mich?“.
Die personale Identität („I“) umfasst alle spezifischen Eigenheiten des Individuums, wie seine Anlagen, Biografie, Persönlichkeitsmerkmale, aber auch Fähigkeiten, Intelligenz, Begabung welche auf dieses einwirken. Der Mensch kann demnach impulsiv und aus Affekt heraus gesteuert handeln. Hierbei wird dem Individuum Selbstbestimmtheit und Autonomie zugestanden.
Eine Schnittstelle von sozialer und personaler Identität ist die Biografie. Der Lebenslauf eines Menschen ist weitestgehend frei wählbar und ist individuell gestaltbar. Gewisse Teile bleiben trotz alledem aber institutionalisiert, wie z.B. die Bildung durch das Schulsystem. Hieraus entsteht die Ich-Identität („self“). Diese versucht die sozialen Erwartungen der Gesellschaft mit der eigenen Biografie und den personalen Veranlagungen zu vereinen und in Balance zu bringen. Aufgrund der Interaktion mit anderen Menschen entsteht das subjektive Bild von sich selbst, das Selbstbild des Menschen. Die Person stellt sich nicht nur die Frage, wer bin ich, sondern auch wer möchte ich sein?