Individualisierung nach Ulrich Beck
Das Leben des Harry“
Es ist 7 Uhr morgens, als der Wecker den restalkoholisierten Fachoberschüler Harry unsanft aus dem Reich seiner Träume holt. Er ließ sich gestern noch zum Diskobesuch überreden, obwohl er ursprünglich lernen wollte. Lustlos und müde schält sich Harry aus dem Bett – ihm wird bewusst, dass er nur noch wenige Tage Zeit hat, um sich für einen Studiengang einzuschreiben. Seit Monaten schiebt er die Sache vor sich hin, doch jetzt muss er sich endlich entscheiden: Jurastudium, zwecks der guten Berufsaussichten, oder doch lieber auf die Musikhochschule und seiner großen Leidenschaft nachgeben? Was, wenn er seine Entscheidung bereut? Egal, in jedem Fall wird er Bayreuth verlassen müssen und damit auch sein Elternhaus. Zwar freut er sich schon auf eine eigene Wohnung, doch der Gedanke, sich sein Essen selbst kochen zu müssen, bereitet ihm ernsthafte Probleme. Als er sich völlig abgemagert an einem gefrorenen Fischstäbchen knabbern sieht, versucht er seiner aufsteigenden Panik entgegenzusteuern und an etwas Positives zu denken: Sarah, seine Freundin. Kaum gedanklich bei ihr angekommen, bemerkt Harry, dass er das Prinzip Verdrängung nicht begriffen hat. Denn auch was seine Beziehung betrifft, tun sich in letzter Zeit Probleme auf: Sarah studiert seit kurzem Landschaftsbau und lebt deshalb in Freising. Harry zieht es aber nach Hamburg, vielleicht auch Berlin. Wird seine Partnerschaft über eine solche Distanz auf Dauer funktionieren können, zumal es momentan ohnehin etwas kriselt? Und was wird aus seinen Kumpels? Wird er sie noch regelmäßig sehen können, wenn sie alle in verschiedenen Städten studieren oder arbeiten? Als er so ins Grübeln kommt, wird Harry klar, dass er lieber vor 50 Jahren jung gewesen wäre.
Individualisierungstheorie
Ulrich Beck (1986) ist der Auffassung, dass die Menschen aufgrund des gesellschaftlichen Wandels seit 1960 (u.a. Mobilität, steigendes Bildungsniveau und Wohlstand) individueller handeln können bzw. müssen. Die Ausgestaltung des Lebenslaufs bleibt nun den Einzelnen überlassen. Vormals wurde der zukünftige Wertegang eines Menschen von der Herkunftsfamilie, Schicht, Gemeinde oder Religion vorgegeben. Diese Entwicklung bezeichnet Ulrich Beck als Individualisierung. (1986: 206).
Die neue Lebensform bringt Freiheit und Zwang zugleich mit sich. Zum einem ist es dem Menschen nun möglich frei, welche Biografie er begehen möchte. Er kann autonom entscheiden. Anderseits fehlt es nun den Einzelnen an Vorbildern und festen Mustern, was das Problem der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit mit sich bringt.
Der Prozess der Individualisierung bringt daher in einer modernen Gesellschaft mehrere Phänomene zum Vorschein:
- Pluralisierung der Lebensformen, welche neue soziale Milieus, Lebensstile und Identitäten entstehen lässt
- Bildung von neuen Gemeinschaften, um wieder Stabilität und Sicherheit zu erlangen
- Festhalten an konventionellen Lebensstilen
Beck spricht von drei Dimensionen der Individualisierung:
- Freisetzungsdimension: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge
- Entzauberungsdimension/ Dimension des Stabilitätsverlust: Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen
- Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension: Entstehung neuer Art der sozialen Abhängigkeit Einbindung und Kontrolle
Demnach bedeutet es nicht, dass in einer individualisierten modernen Gesellschaft abertausende Lebensformen koexistieren. Sondern neben dem autonomen Einzelnen eine Vielzahl an neuen Gemeinschaften entsteht.