Wahlen

Wahlrechtsgrundsätze der Bundestagswahl

Im Artikel 38 Abs.1 GG heißt es: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Wahlberechtigt ist, wer als Deutsche(r) im Sinne des Artikel 116 Abs. 1 GG gilt und das 18. Lebensjahr vollendet hat. Das Bundeswahlgesetz legt ferner fest, dass die Wahl der Abgeordneten zum Bundestag nach den Grundsätzen einer personalisierten Verhältniswahl stattfinden muss. Diese beiden Vorgaben bestimmen das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland.

Unter dem Begriff „personalisierte Verhältniswahl“ ist zu verstehen, dass die Bürger einerseits bestimmen, in welchen Anteilen die Parteien sie im Parlament vertreten; andererseits wird die Hälfte der insgesamt 598 zu verteilenden Sitze direkt in 299 Wahlkreisen in relativer Mehrheit gewählt. Das heißt, dass der Wähler hier mitentscheidet, wer ihn im Bundestag personell vertreten soll.

Das Zweistimmensystem

Jeder Wahlberechtigte hat daher zwei Stimmen auf seinem Stimmzettel, die es ermöglichen sollen, sowohl Parteien und deren Listen als auch dem Wähler lokal bekannte Personen zu wählen.

Die Erststimme

Mit der Erststimme entscheidet der Wähler sich für einen Kandidaten (überwiegend einer Partei zugehörig) in seinem Wahlkreis. Die für die erste Stimme relevanten Wahlkreise werden vom Gesetzgeber eingeteilt. Da nach dem Grundgesetz anzustreben ist, dass jede Stimme gleich viel Gewicht hat, schreibt das Bundeswahlgesetz die Veränderung der entsprechenden Wahlkreise vor, wenn sich ihre Bevölkerungszahl um mehr als ein Drittel nach oben oder unten von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise entfernt hat. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber bei der Einteilung die Übereinstimmung mit politischen Grenzen und die landsmannschaftliche Geschlossenheit des Wahlkreises zu berücksichtigen. Zur Wahlkreiseinteilung spricht die Wahlkreiskommission dem Gesetzgeber Empfehlungen aus. Diese Institution wird vom Bundespräsidenten ernannt und besteht aus dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, einem Richter des Bundesverwaltungsgerichts und fünf weiteren Mitgliedern. Neuteilungen von Wahlkreisen sind immer wieder umstritten, weil befürchtet wird, dass entweder durch geschickte Mischung der Wählerschaft oder aber durch Hochburgenbildung das Wählerpotential einer Seite neutralisiert werden könnte.

Die Zweitstimme

Mit der Zweitstimme wird eine Partei gewählt, genauer gesagt die von dem jeweiligen Landesverband einer Partei aufgestellte Landesliste für den Bundestag. Der Anteil der Zweitstimmen einer Partei entscheidet über deren Sitzanteil im Bundestag. Auf den von den Parteien aufgestellten Listen sind deren Kandidaten der Reihe nach notiert. Je weiter unten sie aufgeführt sind, desto geringer wird die Chance für die Kandidaten, in den Bundestag gewählt zu werden. Daher werden Personen, die von der Partei als Mandatsträger gewünscht werden, auf hohe, also „sichere“ Listenplätze gesetzt. Dabei kann ein Bewerber um ein Direktmandat auch gleichzeitig auf der Liste geführt („abgesichert“) werden. Schafft er die zur Mandatserlangung notwendige relative Mehrheit im Wahlkreis nicht, so kann er eventuell noch über seinen (hohen) Listenplatz als Abgeordneter in den Bundestag einziehen. Die Parteien können auf diese Weise weitgehend planen, wer in den Bundestag einzieht und wer nicht. Wenn jemand direkt nicht gewählt wurde, aber durch seinen Listenplatz in den Bundestag kommt, so wird die Personenwahl der Bevölkerung durch solche wahltaktischen und personalpolitischen Strategien der Parteien korrigiert.

Das personalisierte Verhältniswahlrechtsystem der Bundestagswahl

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Von Pers.Ver.Wahl.v4.png: Horst Frank
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Erst- und Zweitstimme: Wie funktioniert die Bundestagswahl?

Wahlrecht und Wahlarithmetik

Berechnung der Sitze im Bundestag

Nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren wird zunächst errechnet, wie viele der 656 Sitze eine Partei erhält. Hierfür wird ausschließlich der Anteil der Zweitstimmen herangezogen. Anschließend wird die für die jeweilige Partei ermittelte Zahl abermals mittels Hare/Niemeyer auf Länderebene aufgeschlüsselt. Hierzu ist entscheidend, wie viele Zweitstimmen im Verhältnis der Gesamt-Zweitstimmenanzahl einer Partei auf Bundesebene das jeweilige Bundesland beigesteuert hat. Von dieser Anzahl werden zunächst die in diesem Land errungenen Direktmandate abgezogen. Sie kommen in jedem Fall in den Bundestag, selbst wenn die Partei, der die erfolgreichen Kandidaten angehören, wegen der Sperrklausel bei der Sitzverteilung unberücksichtigt blieben. Nach Abzug der Direktkandidaten werden die restlichen Sitze durch die Landesliste der Partei aufgefüllt. Dabei werden diejenigen Personen übersprungen, die bereits durch den Wahlkreissieg in den Bundestag ziehen können.

Der Wähler wählt mit seiner Zweitstimme eine feststehende Liste, die er nicht verändern kann. Neben den erwähnten Nachteilen hat dies den Vorteil, dass die Parteien die Zusammensetzung der Fraktion nach der Repräsentation einzelner Interessensgruppen, landsmannschaftlicher Zugehörigkeit, Expertenbesetzung auf jedem wichtigem Gebiet oder Geschlechterquote relativ planungssicher gestalten kann.

Überhangmandate

Wenn eine Partei mehr Direktmandate in einem Bundesland gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil in diesem Gebiet zustehen würden, kam es zu Überhangmandaten. Weil die Gewinner eines Direktmandats ohne Zweifel eine hohe demokratische Legitimierung haben, sollten sie berücksichtigt werden. Daher  werden der Partei in einem solchen Fall Überhangmandate zugesprochen. Bei Bundestagswahlen wurden diese faktisch ausschließlich von den beiden großen Parteien errungenen. Bei der letzten Bundestagswahl waren es  insgesamt 24 Überhangmandate, die alle an die Union fielen.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat im Juli 2012 das erst 2011 beschlossene Bundestags-Wahlrecht gekippt. Das Gesetz musste also noch vor der Wahl im Jahr 2013 geändert werden. Die Richter sahen „keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren“, stellte Gerichtspräsident Voßkuhle in dem Urteil klar.

Die Richter erklärten zentrale Bestimmungen zur Verteilung der Abgeordnetensitze für unwirksam:

  • Die Sitzverteilung  verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl,
  • durch Überhangmandate würde „der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl aufgehoben„,
  • das Prinzip der Chancengleichheit der Parteien verletzt.

Die Bundestagsfraktionen einigten sich im Oktober 2012 auf ein neues Wahlrecht. Demnach sollen künftig alle Überhangmandate für eine Partei durch Ausgleichsmandate für die anderen Fraktionen kompensiert werden. Der Gesetzentwurf soll Anfang 2013 verabschiedet werden. Durch den vorgesehenen Ausgleich werden im nächsten Bundestag vermutlich mehr Abgeordnete sitzen. Im Regelfall gab es bisher 598 Parlamentarier. Hätte das neue Wahlrecht bereits bei der Wahl 2009 gegolten, säßen jetzt 671 Abgeordnete im Bundestag.

Wie funktioniert das neue Wahlrecht?

Zunächst werden die 598 regulären Mandate entsprechend der Bevölkerungsgröße auf die Länder verteilt. Nach der Wahl wird dann in jedem Bundesland dieses ermittelte Sitzkontingent auf die einzelnen Parteien nach ihrem Zweitstimmenanteil in dem Land verteilt. Dabei werden nur Landeslisten von Parteien berücksichtigt, die bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen oder mindestens drei Direktmandate errungen haben. Falls dann in einem Bundesland Überhangmandate für eine Partei anfallen, verbleiben diese dort – zusätzlich zu den Sitzen, die dem Land eigentlich zustehen. Anschließend wird auf Bundesebene die Zahl der Mandate für die anderen Parteien solange erhöht, bis das Verhältnis der Zweitstimmen trotz der Überhangmandate wieder hergestellt ist. Am Ende werden die so auf Bundesebene ermittelten zusätzlichen Mandate auf die Landeslisten der Parteien verteilt.
Ein Beispiel: Die CDU hat bundesweit 200 Sitze nach Zweitstimmen errungen, die SPD 100. Dazu kommen bei der CDU noch 20 Überhangmandate. Damit das Größenverhältnis zwischen den Parteien gewahrt bleibt, wird die Zahl der Sitze im Bundestag solange erhöht, bis die SPD im Vergleich zur CDU wieder die Hälfte der Mandate hat. Die CDU käme dann auf 220 und die SPD auf 110 Sitze.

Die Sperrklausel

Die Bundesrepublik Deutschland hat aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Republik eine Sperrklausel eingeführt. Das bedeutet, dass Parteien einen bestimmten Anteil an Stimmen erhalten müssen, um überhaupt bei der Sitzverteilung berücksichtigt zu werden. Ziel ist es, handlungs- und funktionsfähige Parlamente entstehen zu lassen und einer Zersplitterung der Parteien entgegenzuwirken. Im Laufe der Zeit hat sich die Sperrklausel nach oben hin verschoben. 1949 musste eine Partei nur 5% in einem Land oder ein Direktmandat gewinnen. Seit 1956 muss eine Partei bundesweit 5% Zweitstimmenanteil erringen oder drei Direktmandate erhalten.

Die Sperrklausel ist nicht unumstritten. Zum Beispiel wird kritisiert, dass die Sperrklausel verfassungswidrig sei und gegen die Wahlrechtsgleichheit (Artikel 38 Abs.1 GG) und gegen die Parteiengründungsfreiheit (Artikel 21 Abs.1 GG) verstoße, da durch die Klausel der Wahlerfolg für neue Parteien praktisch unerreichbar und somit die Parteigründungsfreiheit zu einem leeren Verfassungsversprechen werde. Ferner wird argumentiert, dass  die Verhältnisse im ersten und zweiten Deutschen Bundestag belegen, dass auch mit Klausel ein Parlament mit mehr als zwölf Parteien ohne weiteres möglich ist und überdies auch mit denkbar knappen Mehrheiten voll handlungs- und funktionsfähig sein kann. Eine Sperrklausel heutiger Prägung hätte weder den Wahlsieg Hitlers verhindert noch die Handlungsfähigkeit des Reichstages erhöht. Die Sperrklausel fördere die geschlossene Gesellschaft der etablierten Parteien. Es komme zu Verfestigungen und Verkrustungen der etablierten Parteien und neue Strömungen seien ausgeschlossen.

Genau diese Kritik hat das Bundesverfassungsgericht im November 2011 berücksichtigt und die Fünfprozentklausel bei den Wahlen zum EU-Parlament für verfassungswidrig erklärt. Jede Stimme muss die gleiche Chance auf Erfolg haben. So begründen die Verfassungsrichter, warum die Fünfprozentklausel bei Europawahlen nicht gelten darf. Auch eine dann eingeführte Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl wurde 2014 für verfassungswidrig erklärt. Denn Hürden seien unabhängig von ihrer Höhe nur dann zu vertreten, wenn dadurch eine Zersplitterung des Parlaments vermieden und seine Funktionsfähigkeit sichergestellt würde. Da in Straßburg aber schon jetzt 162 Parteien aus ganz Europa vertreten seien, wäre die Funktionsfähigkeit durch einen Wegfall der Sperrklausel in Deutschland nicht gefährdet. Außerdem gebe es in der EU anders als in Berlin keine Regierung, die auf eine „fortlaufende Unterstützung“ durch das Parlament angewiesen sei. Damit haben auch kleine Parteien die Chance, im Mai ins Europaparlament einzuziehen.
Möglicherweise haben diese Urteile auch auf der Bundesebene Konsequenzen. Wesentlich für die Begründung des Gerichts war die Bedeutung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit, wie er sich aus Artikel 3 des Grundgesetzes („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“) ableiten lässt. Diese Wahlrechtsgleichheit wirkt sich zudem bei einem Verhältniswahlsystem, wie es bei der Europawahl (aber eben auch bei der Bundestagswahl) vorliegt, dahingehend aus, dass neben der sogenannten Zählwertgleichheit auch die sogenannte Erfolgswertgleichheit gewährleistet sein muss. Damit ist gemeint, dass die Anzahl der Stimmen, für die eine Partei einen Sitz erhält, für alle Parteien möglichst gleich sein soll. Das heißt, dass jeder Wähler für seine Stimme den gleichen Einfluss auf die Erringung von Sitzen ausüben können muss.

Kritik

Bedenklich erscheinen die Folgen der relativen Kompliziertheit des Wahlmodus auf die Wähler. Umfragen haben immer wieder gezeigt, dass ein beachtlicher Anteil in der Bevölkerung auf die Frage: „Wissen Sie , welche Stimme für die Stärke der Parteien im Bundestag den Ausschlag gibt?“ nicht die richtige Antwort geben konnte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Wähler in der Lage sind, alle Möglichkeiten die ihnen das Wahlrecht bietet, kompetent auszuschöpfen.