Grundlagen der Staatsordnung
Überblick
Oberstes Leitprinzip der im Grundgesetz festgelegten Staatsordnung der Bundesrepublik ist die Menschenwürde. Artikel 1 Abs. 1 GG erhebt die Unantastbarkeit der Menschenwürde zum obersten Rechtsprinzip und bindet die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht:
„Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Um diesen Anspruch im politischen Alltag einzulösen, muss der Staat die Grundordnung unserer Gesellschaft in besonderer Weise gestalten. Staatliche Organe dürfen das Individuum nicht zum verfügbaren Objekt degradieren, sondern müssen alles unternehmen, um Verletzungen der Menschenwürde entgegenzuwirken. Dazu bedarf es einer besonderen Ordnung des Gemeinwesens, deren zentrale Merkmale in Artikel 20 GGangesprochen werden; diese Strukturprinzipien sind ebenso wie die Grundsätze nach Artikel 1 GG vor jedem staatlichen Eingriff geschützt. Artikel 79 Abs. 3 GG legt ausdrücklich die Unabänderbarkeit von Artikel 1 und 20 – also auch nicht durch verfassungsändernde Gesetze – fest („Ewigkeitscharakter“).
Diese Merkmale in Art. 20 GG sind die tragenden Säulen der staatlichen Ordnung in Deutschland:
Demokratie
Was ist Demokratie?
Der Begriff „Demokratie“ ist uns im Alltag geläufig, jedoch ist eine genaue Definition schwierig. Das Wort stammt aus dem Griechischen und kann mit „Volksherrschaft“ übersetzt werden. Allerdings ist dann zu klären, was „Herrschaft des Volkes“ genau bedeutet.
Betrachtet man die Geschichte, muss man feststellen, dass sehr verschiedene Formen der Demokratie existierten. In der Zeit der antiken griechischen Polis bedeutete „das Volk“: Die freien Männer; und nur diese kamen zusammen und durften über öffentliche Angelegenheiten abstimmten. Betrachtet man heute die politischen Systeme, stellt man fest, dass viele Länder der heutigen Welt den Anspruch haben, eine Demokratie zu sein. Kaum eine Regierung bezeichnet sich als nicht demokratisch, auch autoritäre Herrschaftssysteme auf die Demokratie wie traditionell demokratische Länder der westlichen Welt. Das galt auch für die zusammengebrochenen Länder des Ostblocks, die sich als „Volksdemokratie“ bezeichneten, aber tatsächlich herrschte dort eine Gruppe von Parteibürokraten über das Volk.
Was also ist Demokratie genau? Eine allgemeine Ansicht ist, dass in modernen Massendemokratien die Herrschaft nur mittelbar und indirekt ausgeübt werden kann, indem Vertreter (Repräsentanten) bestimmt werden. Vertreter sind also nötig, die im Namen der Wähler die Macht ausüben – allerdings auf Zeit und kontrolliert. Die Verfassungsväter der Bundesrepublik haben sich für ein reines Repräsentativsystem entschieden. Das Volk übt die Staatsgewalt nicht direkt aus, sondern überträgt sie durch Wahlen Repräsentanten, den Abgeordneten, die in seinem Auftrag die Entscheidungen im Staat treffen. Neben unserer parlamentarisch-repräsentativen sind noch folgende weitere Erscheinungsformen der Demokratie zu nennen: die direkte (oder plebiszitäre) Demokratie und die präsidiale Demokratie.
In der Demokratie herrschen ferner die Gesetze, nicht Menschen über Menschen. Gesetze müssen ordnungsgemäß zustande kommen und verkündet werden, damit der Staatsbürger sie kennen und befolgen kann. Es darf keine Geheimgesetze geben. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit steht im engen Zusammenhang mit dem der Demokratie. Zentral wichtig ist der Begriff der Volkssouveränität: Jede staatliche Machtausübung muss durch das Volk legitimiert sein. Staatliche Organe müssen, wie die Parlamente, aus Wahlen hervorgehen oder, wie die Regierung, von den gewählten Repräsentanten eingesetzt werden. Die Amtsinhaber sind dem Volke bzw. seinen Repräsentanten verantwortlich und werden in ihren Ämtern kontrolliert.
Viele Landesverfassungen der Bundesländer enthalten Bestimmungen über Volksbegehren und Volksentscheide. In den letzten Jahrzehnten mehren sich die Forderungen nach einer direkten Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen, auch auf der Bundesebene. Für die Funktionsweise einer Demokratie gilt der Grundsatz, dass bei Wahlen und Abstimmungen die Mehrheit entscheidet und dass die unterlegene Minderheit die Mehrheitsentscheidung anerkennt. Sie hat dann die Möglichkeit, bei den nächsten Wahlen und Abstimmungen ihrerseits die Mehrheit zu erringen. Das Mehrheitsprinzip bedeutet nicht, dass eine „richtige“ Entscheidung getroffen wurde, sondern sichert lediglich, dass eine momentane Konfliktsituation, in der verschiedene Parteien unterschiedliche Meinungen haben, durch das Mehrheitsprinzip friedlich ausgetragen wird. In einer Demokratie wird die Machtausübung durch allgemeine, gleiche, freie, geheime und direkte Wahl für eine begrenzte Zeit übertragen. Eine Wahl genügt demokratischen Vorstellungen nur, wenn sie eine Auswahl zwischen Alternativen bietet. Eine bloße Bestätigung, eine Abstimmung über einen einzigen Vorschlag mit Ja oder Nein, wäre keine echte Wahl, da nicht unter verschiedenen Möglichkeiten ausgewählt werden kann. Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt, freie Information, Minderheitenschutz und freie Opposition sind Voraussetzungen für demokratische Wahlen.
Die Demokratie in der Bundesrepublik versteht sich als „streitbare Demokratie“. Dieses Verständnis ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen Weimarer Republik zu verstehen; diese Verfassung hatte es zugelassen, dass ihre Feinde sie zerstören konnten. Jede Bestimmung der Weimarer Reichsverfassung konnte mit Zweidrittelmehrheit geändert werden, sogar die Grundrechte konnten außer Kraft gesetzt und die Demokratie beseitigt werden. Die Demokratie des Grundgesetzes ist dagegen nicht nur eine formale Demokratie, sondern eine Wertordnung, die die freiheitliche demokratische Grundordnung mit unantastbaren Prinzipien schützt; so enthält das Grundgesetz in Artikel 79 Abs. 3 eine „Ewigkeitsklausel“, wonach eine Änderung der in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze (Menschenwürde, Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt, Staatsstrukturprinzipien) unzulässig ist.
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Demokratie als Auftrag
Wenn man die Bundesbürger zu ihrem Verhältnis zur Demokratie befragt, ergibt sich, dass 2011 fast die Hälfte der Bürger (49%) unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland war. Von den befragten Bürgern in den östlichen Bundesländern zeigten sich sogar 61% „weniger zufrieden“ oder „unzufrieden“ mit der Art und Weise, wie Demokratie in Deutschland funktioniert. Man kann also keineswegs von einer „selbstverständlichen“ Akzeptanz der Demokratie in der Bevölkerung ausgehen, sondern muss wohl erkennen, dass für diese Staatsform immer wieder geworben und Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. Die Demokratie kann in Deutschland nicht, wie in den alten Demokratien des Westens, auf eine ungebrochene Tradition zurückblicken. Die Geschichte der Demokratie in Deutschland war eine Geschichte gescheiterter Versuche. Erst der zweite demokratische Staat ist bisher eine Erfolgsgeschichte gewesen. Dass dies keineswegs als selbstverständlich gelten kann, wurde anhand aktueller Umfragen deutlich. Politische Bildung wird hier als wichtiges Handlungsfeld deutlich. Die Botschaft, die es immer wieder neu zu vermitteln gilt, lautet wohl, dass es eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaft nirgendwo gibt und die Demokratie zwar nicht als ideale Ordnung von Staat und Gesellschaft gelten kann, dass sie uns aber ein flexibles System von Spielregeln bietet, in dem Konflikte friedlich geregelt und Fehler korrigiert werden können.
Winston Churchill wird ein Zitat zugeschrieben, das diese Einschätzung von Demokratie auf den Punkt bringt:
„Democracy is the worst form of government except for all those others that have been tried.“
Probleme der Demokratie
Unter dem Titel „Defekte Demokratie“ wurde in der Wochenzeitung „Die Zeit“ am 04.04.2002 eine Analyse der Probleme westlicher Demokratien veröffentlicht. Der Autor spricht von „beunruhigenden Tendenzen“ in diesen Staaten. Der folgende grafische Überblick zeigt die vom Autor angeführten Beispiele und kritischen Entwicklungen im Einzelnen.
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Der Autor spricht davon, dass sich das westliche Ordnungsmodell gegenüber anderen politischen Systemen durchgesetzt hätte. Doch in den neuen und den alten Demokratien zeigen sich politische Entwicklungen ab, die beunruhigen: Parlamente verlören an Macht, und die autoritäre Versuchung würde in Teilen der Bevölkerung wachsen.
Rechtsstaat
Überblick
Rechtsstaat bedeutet, dass staatliche Organe den Vorrang des Rechts für die gesamte staatliche Tätigkeit anerkennen. Wichtige Kennzeichen des Rechtsstaats sind die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Gerichtsschutz, die Gewaltenteilung und die Rechtssicherheit.
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Artikel 20 Abs. 3 GG) heißt, dass die vollziehende Gewalt nicht gegen geltendes Recht, insbesondere nicht gegen Verfassung und Gesetze, verstoßen darf (Vorrang des Gesetzes), Eingriffe in die Rechts- und Freiheitssphäre des Einzelnen bedürfen der Grundlage in einem förmlichen Gesetz (Vorbehalt des Gesetzes). Dieser klassische Gesetzesvorbehalt ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einem generellen Parlamentsvorbehalt erweitert worden. Danach gebietet das Rechtsstaatsprinzip, dass das Parlament alle wesentlichen Entscheidungen, die einer Regelung durch Rechtsnormen zugänglich sind, selbst trifft.
Die Gewährleistung des Gerichtsschutzes eröffnet demjenigen, der sich durch Akte der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt fühlt, die Befugnis, die unabhängigen Gerichte anzurufen (Artikel 19 Abs. 4 GG); auf diese Weise lässt sich die Wahrung des rechtsstaatlichen Prinzips zugleich individuell durchsetzen. Hier zeigt sich allerdings auch eine Gefahr für den Rechtsstaat. Wenn für jeden, auch für den geringfügigsten Eingriff die Gerichte strapaziert werden, wird der Rechtsstaat möglicherweise überfordert.
Das Prinzip der Gewaltenteilung (Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG) ordnet die staatlichen Funktionen unterschiedlichen Organen mit begrenzten Kompetenzen zu; das führt zu einer wechselseitigen Hemmung und Kontrolle der Gewalten, bändigt die Macht des Staates und sichert zusätzlich die Freiheit der Bürger.
Der Grundsatz der Rechtssicherheit gewährleistet für den Bürger Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlicher Maßnahmen, z.B darf der Staat nur auf der Grundlage von bestehenden Gesetzen handeln, rückwirkende Gesetze sind nicht zulässig.
Der Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes geht jedoch über diese formellen Merkmale, die bereits weitgehend die Staatsauffassung des Liberalismus im 19. Jahrhundert prägten, weit hinaus. Er ist mehr als ein bloßes System rechtstechnischer Regelungen zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit. Der Rechtsstaat beinhaltet nicht nur eine formelle, sondern zugleich eine materielle Ordnung, die vor allem durch die die staatlichen Gewalten unmittelbar bindenden Grundrechte (Artikel 1 Abs. 3 GG) bestimmt ist. Das zeigt sich vor allem dort, wo der Staat in die Rechts- und Freiheitssphäre der Bürger besonders intensiv eingreift: im Strafprozess. Der Beschuldigte hat Anspruch auf ein faires Verfahren; er darf nicht als bloßes Objekt der Ermittlungsbehörden und des Gerichts behandelt und nur für solche Taten belangt werden, die er schuldhaft begangen hat. Oberstes Ziel des Rechtsstaates ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Darin berührt sich das Rechtsstaats- mit dem Sozialstaatsprinzip, wie es auch in der im Grundgesetz verwendeten Formel vom „sozialen Rechtsstaat“ (Artikel 28 Abs. 1) zum Ausdruck kommt.
Der Rechtsstaatsgrundsatz hat zur Konsequenz, dass auch diejenigen von ihm profitieren, die seine Gegner sind oder waren. Auch sie haben Anspruch darauf, im Rahmen und auf der Grundlage des geltenden Rechts behandelt zu werden. Das rechtsstaatliche Prinzip gebietet es daher, dass z.B. ehemalige leitende Staats- und Parteifunktionäre der DDR alle Schutzrechte, die aus diesem Prinzip resultieren, in Anspruch nehmen können. Manchen Opfern fällt es verständlicherweise schwer einzusehen, dass der Schutz des Rechtsstaats auch den Tätern zugute kommt.
