Bürgerinitiativen
Geschichte und Formen
Im Zuge einer allgemeinen Politisierung der bundesdeutschen Gesellschaft entwickelte sich am Ende der sechziger Jahre eine neue Form „basisdemokratischer“ politischer Beteiligung. Als Bürgerinitiativen traten spontane Zusammenschlüsse von Personen auf, die zumeist auf lokaler Ebene tätig wurden, um Missstände zu beseitigen (Beispiele: gegen Gefährdung der Umwelt, Abriss von Altbauten, Verkehrsplanungen; für Kindergärten, Spielplätze, kleinere Klassen). Sie mobilisierten die Öffentlichkeit und übten Druck auf die Behörden aus, manchmal beschritten sie den Weg der Selbsthilfe (Frauenhäuser). Hier artikulierte sich das Unbehagen vieler Bürger über staatliche Maßnahmen, die Auswirkungen auf das unmittelbare Lebensumfeld hatten und die man nicht ohne weiteres hinnehmen wollte. Daraus ergaben sich auch die Besonderheiten dieser Form politischer Beteiligung, die das Grundgesetz eigentlich nicht vorgesehen hatte: Bürgerinitiativen erfassen meist nur einen sehr engen, lokal begrenzten Personenkreis und sind auf ein bestimmtes, konkretes Ziel festgelegt; wenn dieses Ziel erreicht ist, lösen sich die Gruppen meistens auf.
Im Laufe der siebziger Jahre wurden solche Initiativen immer mehr überregional aktiv und schlossen sich zu auch zu Organisationen zusammen; zum Beispiel schlossen sich die meisten Umweltinitiativen 1972 im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz zusammen. Charakteristisch wurden nun koordinierte Massenaktionen gegen Großprojekte (Beispiele: Proteste gegen die Atomkraftwerke Wyhl, Kalkar, Brokdorf; oder gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens). Dabei wurden neue Aktionsformen wie Straßenblockaden, Sit-ins, Go-ins, Mahnwachen und andere Formen des passiven Widerstands angewandt.
Umweltbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung und andere Bewegungen, die sich zum Beispiel aus Selbsthilfegruppen im Sozial- und Gesundheitsbereich rekrutieren, werden – ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen Anliegen und Organisationsformen – gemeinsam als „Neue Soziale Bewegungen“ bezeichnet. Ihr Entstehen ist Ausdruck eines Wandels der politischen Kultur und des Bedürfnisses nach alternativen Politikstilen, d.h. nach Formen der politischen Beteiligung, die über die herkömmlichen Formen, wie Wahl oder Parteimitgliedschaft, hinausgehen. Aus den Reihen der Bürgerinitiativen und dem Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen bildete sich Ende der siebziger Jahre die Partei „Die Grünen“.
Bürgerinitiative gegen „Stuttgart 21“
Von Jacques Grießmayer – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link
2011 setzte sich die vieldiskutierte Bürgerinitiative gegen „Stuttgart 21“ für den Baustopp am neuen Bahnhof in Stuttgart ein. Die breite mediale Diskussion und die heftige politische Auseinandersetzung um das Bauprojekt trug nach allgemeiner Einschätzung auch zum Sturz der Landesregierung in Badenwürttemberg und zur Wahl der ersten Grün-Roten Landesregierung bei. Die Grünen, die die Bürgerinitiative stark unterstützt hatten, stellen nun den ersten Ministerpräsidenten in einem Bundesland.
Bürgerbewegung in der DDR
Auch in der DDR gab es Bürgerbewegungen, die seit den späten siebziger Jahren entstanden. Sie sind allerdings aufgrund der anderen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mit den Neuen Sozialen Bewegungen Westdeutschlands vergleichbar. Oppositionelle aus sehr unterschiedlichen Richtungen – undogmatische Marxisten, Reformsozialisten, Liberale, Konservative und Christen – schlossen sich in informellen Zirkeln zusammen, um gegen staatliche Unterdrückung und Bevormundung die demokratischen Grundrechte durchzusetzen. Während der „Wende“ 1989 waren sie ein wichtiges Element des Widerstands gegen das SED-Regime; sie gründeten die „Runden Tische“ und leiteten demokratische Reformen ein. Durch den wachsenden Einflusses der Westparteien haben die Bürgerbewegungen ab 1990 stark an Einfluss eingebüßt.
Kennzeichen von Bürgerinitiativen

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI)
Auf der Ebene der EU kann man auf das Instrument der EBI als weitere Möglichkeit zur Partizipation hinweisen. Sie ist ein durch den Vertrag von Lissabon beschlossenes Instrument der direkten Demokratie in der Europäischen Union. Durch dieses Instrument können die EU-Bürger bewirken, dass sich die Europäische Kommission mit einem bestimmten Thema befasst. Hierfür müssen in zwölf Monaten insgesamt eine Million gültige Stimmen in einem Viertel aller EU-Mitgliedsstaaten gesammelt werden.
Eine von Gewerkschaften und Bürgerbewegungen getragene Kampagne, die unter dem Namen ‚Right2Water‚ für ein Menschenrecht auf Wasser eintrat, konnte in wenigen Monaten mehr als 1,5 Millionen Unterschriften sammeln – und schrieb damit europäische Geschichte. ‚Right2water‘ wurde zur ersten erfolgreichen europäischen Bürgerinitiative, weil sie die notwendigen Mindestanforderungen erfüllte, um die EU-Kommission dazu zu zwingen, sich mit dem Thema „Wasserversorgung muss staatlich bleiben“ zu befassen.