Arbeitsmigration nach Deutschland

Arbeitsmigration der 50er Jahre aus Italien

Der wirtschaftliche Aufschwung der deutschen Wirtschaft nach der Einführung der D-Mark 1948 führte schon in den 50er Jahren zu einer großen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland, der mit den einheimischen Kräften nicht abgedeckt werden konnte. Der enorme wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands in Europa führte auch zu Ungleichgewichten in der Handelsbilanz mit den anderen europäischen Staaten, so zum Beispiel mit Italien. Das Handelsbilanzdefizit veranlasste die italienische Regierung 1953 dazu, mit der westdeutschen Regierung darüber zu verhandeln, wie die Leistungsbilanz Westdeutschlands und Italiens ausgeglichen werden könnten. Ein Angebot der italienischen Regierung bestand darin, dass Arbeitnehmer aus dem strukturschwachen Süden des Landes („Mezzogiorno“) von Westdeutschland angeworben werden sollten. Nach anfänglicher Skepsis auf deutscher Seite, inbesondere auch von von den Gewerkschaften, die ein Lohndumping befüchteten, kam es 1955 zum ersten deutsch-italienischen Anwerbeabkommen, der „Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland„. Zunächst sollten die italienischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und im Hotel- und Gaststättengewerbe befristet auf maximal ein Jahr eingesetzt werden. Schon bald aber stellten auch Unternehmen in der Industrie und im Bergbau Vermittlungsanträge für die „Gastarbeiter“, wie die ausländischen Arbeitskräfte genannt wurden. Die Rezession Mitte der 1960er Jahre schwächte die Anwerbung der Arbeitskräfte stark ab und mit der „Ölkrise“ von 1973, die deutliche wirtschaftliche Abschwächung bewirkte,  erließ die westdeutsche Regierung einen totalen Anwerbestopp.

Einen guten Einblick in diese Zeit und die Arbeits- und Lebensbedingungen für italienische Arbeitsmigranten bekommen Sie auf der Webseite „Angekommen…„.

Schulung italienischer Gastarbeiter, die im Bergbau eingesetzt werden sollen (Duisburg, 1962)

Bundesarchiv B 145 Bild-F013070-0005, Walsum, Unterricht Gastarbeiter.jpg

Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F013070-0005 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link

Gastarbeiter von Volkswagen in Wolfsburg, 1973

Bundesarchiv B 145 Bild-F038815-0012, Wolfsburg, VW Autowerk, Unterkunft Gastarbeiter.jpg
Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F038815-0012 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link

Insgesamt sind ca. 4 Millionen italienische Arbeitskräfte auf der Basis dieses Anwerbeabkommens zugewandert, die weitaus meisten von ihnen kehrten nach Italien zurück. Ähnliche Vereinbarungen gab es auch mit Spanien, Griechenland, Portugal und Jugoslawien in den 60er Jahren.

Arbeitsmigration der 60er Jahre aus der Türkei

Eine große Gruppe von Arbeitsmigranten, die in die Bundesrepublik zuwanderte, kam aus der Türkei. Im Oktober 1961 wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen abgeschlossen. Die 50jährige Geschichte der türkischen Einwanderer in Deutschland hat unsere Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell stark beeinflusst. In einem Kommentar zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei heißt es treffend:

„Heute gibt es deutsche Politiker, die Evrim Baba, Mustafa Kara, Eran Toprak oder Nesrin Yilmaz heißen, es gibt eine Sozialministerin Aygül Özkan in Niedersachsen, eine Integrationsministerin Bilkay Öney in Baden-Württemberg und einen Parteivorsitzenden namens Özdemir. Die Kanzlerin hat vor einem Jahr, nach einem Fußballsieg über die Türkei, dem deutschen Nationalspieler Mesut Özil in der Umkleidekabine gratuliert. In Roisdorf zwischen Bonn und Köln gibt es eine Karnevalsprinzessin namens Füsun I. Es gibt Allianz-Manager, IT-Spezialisten, Feuerwehrkommandanten und Tennisvereinskassierer mit vielen Ö und Ü im Namen. Ein deutsch-türkischer Unternehmertypus ist gewachsen – ziemlich fleißig, ziemlich zuverlässig und sehr dienstleistungsstark.“ (H.Prantl, SZ vom 22.10.2011)

Die Arbeitsmigranten der 60er Jahre holten ihre Familien nach Deutschland und richteten sich in der Bundesrepublik ein. Der Dichter Max Frisch brachte diesen Prozess mit einem berühmten Satz auf den Punkt: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“
Heute leben in Deutschland etwa 3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die ihre Wurzeln in der Türkei haben.

Das folgende Video gibt einen guten Einblick in die Geschichte der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik der 1950er bis in die 80er Jahre;

Aus datenschutzrechtlichen Gründen benötigt YouTube Ihre Einwilligung um geladen zu werden. Mehr Informationen finden Sie unter Datenschutz.

Nach der Wende 1990 kamen viele Migranten

In Deutschland leben 10,7 Millionen Zuwanderer, jeder achte Einwohner ist somit im Ausland geboren und in den vergangenen 60 Jahren nach Deutschland gekommen. Dies teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden im Dezember 2012 mit.
Bemerkenswert ist vor allem, in welcher Zeit die meisten Menschen zuwanderten. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass Deutschlands vergleichsweise hoher Migrantenanteil auf die Anwerbung von Gastarbeitern bis zum Jahr 1973 zurückgeht, fanden die meisten Migranten ihren Weg später nach Deutschland, vor allem in den 1990er Jahren, als Hunderttausende Aussiedler aus Osteuropa sowie Asylbewerber zuzogen.

Die meisten Migranten, 7,4 Millionen, stammen aus Europa, fast die Hälfte davon aus EU-Ländern (3,5Millionen). Die Hauptherkunftsländer sind die ehemalige Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten mit 2,4 Millionen, die Türkei (1,5 Millionen) und Polen, aus dem 1,1 Millionen Zuwanderer stammen. Ein Großteil von ihnen dürften Aussiedler sein, also der deutschen Minderheit dieser Staaten entstammen. Sie erhielten in der Regel sofort einen deutschen Pass. Nach einem leicht rückläufigen Trend hat sich die Zahl der Zugewanderten nach Angaben der Statistiker seit 2010 wieder erhöht, seit 2011 sogar deutlich: 550 000 Menschen sind von Januar 2011 an eingewandert, fast 300 000 allein im ersten Halbjahr 2012. Ein Teil dieses Anstiegs geht auf die wachsende Zahl von Asylbewerbern zurück, vor allem vom Balkan. Die Motive der Zuwanderer wandelten sich im Laufe der Zeit. Während bei den Gastarbeitern das Hauptziel war, Arbeit zu finden und mit dem Ersparten möglicherweise heimzukehren, überwogen später die Flüchtlinge, die beispielsweise den Kriegen in Ex-Jugoslawien entkamen.

In den vergangenen Jahren kamen die Flüchtlinge unter anderem aus Serbien, Mazedonien, Irak, Iran, Afghanistan und arabischen Staaten. Quelle: SZ vom 19.12.2012

Die neue Arbeitsmigration: junge Spanier kommen 2012 nach Deutschland

Die Süddeutsche Zeitung berichtet im Juni 2012 von der Auswanderungswelle junger Spanier nach Deutschland, weil viele junge Spanier keine Job im eigenen Land finden. Die Krise im eigenen Land zwingt junge Spanier dazu, das zu tun, was ihre Großväter taten. Sie wandern aus. In Deutschland sind sie willkommen, hier werden sie gebraucht. Im Folgenden werden Auszüge aus der Reportage wiedergegeben:

Clara Romo hat geschuftet, zehn Stunden pro Tag hat sie Akten sortiert und beschriftet, Hauspost verteilt, für drei Euro pro Stunde. Sieben Monate lang. Dann lief ihr Vertrag bei einer Madrider Zertifizierungsfirma aus, die studierte, 27 Jahre alte Agronomin und Weinexpertin war wieder ohne Job. ‚Ich habe Hunderte Bewerbungen geschrieben, sogar umsonst hätte ich gearbeitet‘, sagt die Madrilenin. Aber es kam: nichts. ‚Stellen Sie sich das mal vor! Ich habe zwei Masterabschlüsse, spreche Englisch, Französisch und ein bisschen Deutsch – und trotzdem hatte niemand einen Job für mich. Deprimierend ist das.‘ Im Fernsehen hatte Clara Romo gehört, dass in Deutschland Ingenieure gesucht werden, und in Deutschland hatte sie schon mal ein Praktikum gemacht, in einem Labor. In Freising war das, im Winter. Romo hatte damals gefroren, und verstanden hatte sie die Bayern auch nicht. ‚Aber mir hat es gefallen, denn es gab Arbeit. Also hat Romo im April ihre Sachen gepackt, sich von ihren Eltern verabschiedet und ist in einen Flieger gestiegen. Nach Berlin.

In der Krise mit gut 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit ist Deutschland für junge, gut ausgebildete Spanier ein gelobtes Land geworden. Politiker wie Angela Merkel und Rainer Brüderle haben dies mit ihren Aufrufen befeuert, Deutschland brauche Ingenieure. Seitdem ist ein alter Film in Spanien aus den 1960er Jahren zu neuer Popularität gelangt. In ‚Vente a Alemania, Pepe‘ (Komm nach Deutschland Pepe), spielte Alfredo Landa, eine Art spanischer Heinz Erhardt, einen heimwehkranken Kastilier mit Baskenmütze, der in München den Drill des deutschen Arbeitslebens durchleidet. Die Zeitung El País wandelte den Titel kürzlich ab: ‚Komm nach Deutschland, Ingenieur Pepe‘ müsse es nun heißen.

Berlin ist ihr Lieblingsziel, denn Berlin ist in gewisser Weise das Spanien Deutschlands. ‚Es ist wie in Barcelona‘, sagt Clara Romo. Zwei Monate ist es her, dass sie Spanien verlassen hat. Sie wohnt in Kreuzberg in einer Vierer-Wohngemeinschaft, pro Tag hat sie drei Stunden Deutschunterricht. Die übrige Zeit sucht sie im Internet nach Jobs – oder sie sitzt einfach nur in einem der vielen Cafés und schwärmt. Von Berlin. ‚Alles ist so multikulturell, so kosmopolitisch, so locker.‘ Das informelle Ambiente macht den Spaniern den Einstieg leicht. Die große Latino-Gemeinde mit ihrer Infrastruktur, ihren Blogs, Jobbörsen und Treffs, ist eine bequeme Andockstation. Aber eigentlich ist Berlin der falsche Ort.

Während die vielen Spanier den Kneipenwirten in Neukölln und Kreuzberg schon auf die Nerven gehen, werden sie woanders sehnsüchtig erwartet. In der deutschen Provinz gibt es Dutzende Initiativen, arbeitslose junge Spanier zu holen. Es sind Orte wie Wunsiedel, Schwäbisch Hall oder das nördliche Emsland – Landstriche mit einer teils hoch spezialisierten Wirtschaft, aber wenig Nachwuchs. ‚Wir haben ein demografisches Problem‘, sagt Dirk Lüerßen, Geschäftsführer der Ems-Achse e.V. in Papenburg, einer Wirtschaftsförderungsagentur, die in Spanien gezielt Lehrlinge anwirbt.

Das nördliche Emsland knüpfte Kontakte nach Murcia und Kastilien-La Mancha, der Heimat Don Quijotes, die zu den ärmsten spanischen Regionen zählen. Während des Booms warb Kastilien Arbeitskräfte in Ecuador an. Nach dem Platzen der Immobilienblase und dem Wegfall tausender Jobs auf dem Bau muss es nun die eigenen Leute in die Emigration schicken. Ein dramatischer Wandel. ‚Anfangs hatten wir ein schlechtes Gewissen‘, berichtet Ems-Achse-Geschäftsführer Lüerßen, man wollte den armen Gegenden nicht die Arbeitskräfte wegnehmen. Doch in Albacete bat ein Berufsschulrektor die Norddeutschen inständig: ‚Nehmen Sie so viele sie können, und nehmen Sie unsere besten.‘ ‚Das hat dann die Bedenken vertrieben‘, sagt Lüerßen. Man nahm 15 junge Leute mit, die nun im Emsland Praktika bei Betrieben absolvieren, im August entscheidet sich, ob daraus eine Lehre wird. Die Spanier freuen sich über die ungewohnte Wertschätzung, sie wurden sogar von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen begrüßt, die sie aufforderte, doch bitteschön recht lange zu bleiben.

Dem Ruf gefolgt ist Ginés Huertas Llamas aus Murcia. Der 24-Jährige arbeitet jetzt bei einem Online-Weinhandel in Rhede. Mit dem Job komme er prima zurecht, sagt er, aber die Umstellung des Lebensumfeldes sei brutal. Einen größeren Kontrast als zwischen dem staubtrockenen Murcia und dem nassen Emsland kann man sich kaum vorstellen. Es kann hart sein, wenn man der einzige Spanier in einem Dorf der norddeutschen Tiefebene ist. Ginés lebt in einem Wohnheim der Jagdschule, um den nächsten Landsmann zu sehen, muss er kilometerweit radeln. Immerhin gibt es noch einen Mexikaner in der Gegend. Lüerßen sagt, die meisten Spanier hätten sich trotzdem gut integriert, die Hälfte spiele schon Fußball in Vereinen.

Der kurzlebige Boom nach dem EU-Beitritt hatte die spanische Elterngeneration mit beträchtlichem Wohlstand ausgestattet, den viele jedoch in der Immobilienblase verjubelt haben. Dass ihre Kinder nun ins Ausland müssen, empfinden einige als Tragödie. Immerhin ermöglichen Skype, Chat und E-Mail ständigen Austausch. Es ist nicht mehr wie in den Zeiten Pepes, als die Gastarbeiter mit einem Karton voller Chorizo-Wurst nach tagelanger Zugfahrt in einem völlig unbekannten Land ankamen und Jahre nicht mehr heimkehrten. Die Migranten von heute fliegen Low-Cost-Airline und haben den Laptop unter dem Arm.

Geschockt allerdings waren die Spanier im Emsland, dass sie noch einmal eine Ausbildung beginnen sollten, wo sie doch schon eine hatten. Doch Berufsausbildungen sind in Spanien zu theoretisch für den deutschen Geschmack. Es gibt kein duales System. Von der Einstellung der Neuankömmlinge sind die meisten Unternehmer aber begeistert: ‚Ihre Motivation ist ansteckend‘, – ein Urteil, das man oft hört über spanische Arbeitskräfte. Die Sprache ist natürlich eine Hürde. Im Emsland werden alle in Crashkurse geschickt. Ginés konnte als einziger schon etwas Deutsch. Aber beim Programmieren, sagt Ginés, spiele Deutsch ohnedies keine große Rolle.

In Spanien hat sich inzwischen herumgesprochen, dass man in Deutschland Deutsch können muss und im Beruf nicht mit Englisch durchkommt. Seitdem boomen die Sprachkurse. Wer kann, reist zum Lernen gleich nach Deutschland.

In Düsseldorf gibt es eine große spanische Gemeinde. Viele kamen schon vor der Krise und sind etabliert, das Erasmus-Programm hatte bereits eine große Wanderung ausgelöst. Sara Rioboo aus Malaga lebt seit sieben Jahren am Rhein und arbeitet als Projektmanagerin bei einer international tätigen Software-Firma. Ihr Deutsch hat einen rheinischen Singsang. Ihr gefalle Deutschland, sagt die 33-Jährige. Die Begeisterung habe sie von der Mutter geerbt, die schon in den 60er Jahren Sprachkurse in Deutschland und England absolvierte. ‚Sie hat die deutsche Kultur geliebt und mir das vermittelt.‘ Sara findet die Deutschen ‚authentisch und intensiv‘.

Nur mit der Kontaktaufnahme sei das nicht immer einfach, sagt sie. Deutsche Männer tauten oft erst nach dem sechsten Bier auf. Dann kämen sie in der Kneipe angewankt und stammelten Sätze wie: ‚Du hast so schöne Haare.‘ – ‚Nach dieser Kraftanstrengung kollabieren sie meistens‘, lacht Sara. Trotzdem schätzt sie Düsseldorfer Hinterhofkneipen wie den Seifen-Horst in Unterbilk, die entfernt an die verschwundene Madrider Szene der wilden 80er Jahre erinnert. Deutsche und Spanier kämen trotz aller Gegensätze gut miteinander zurecht, findet Sara. Sie will bleiben, fühlt sich gut integriert.

Fehlen diese Menschen nicht einem Land, das so dringend Talente bräuchte? An der spanischen Botschaft in Berlin ist man nicht dieser Meinung. Von dort aus werden die Arbeitseinsätze junger Spanier gefördert und koordiniert. Dahinter steckt nicht nur die Hoffnung auf sinkende Arbeitslosenzahlen – man hofft auch, dass die Leute langfristig mit neuen Kenntnissen zurückkehren, ähnlich wie damals die Gastarbeiter, die Spanien öffneten und deren Ersparnisse einen Wohlstandsschub auslösten.

Denn auf eines kann man sich bei Spaniern verlassen – auf ihre Heimatverbundenheit. Raquel Pinán aus Bilbao absolvierte Ende der 90er Jahre Praktika bei deutschen Industriebetrieben und vertrat lange einen baskischen Autozulieferer in Baden-Württemberg. Dann kehrte sie heim nach Bilbao, vertritt heute die baskische Autozulieferindustrie im Ausland. ‚Ich bin überzeugt, dass die meisten zurückkommen werden, so wie ich, persönlich und beruflich bereichert, mit mehr Horizont und Weltsicht – reicher.

Quelle: Süddeutsche Zeitung,16. Juni 2012