Sozialer Wandel
Der Wandel der Familie
Eine der Grundformen des menschlichen Zusammenlebens ist die Familie. Wir haben hier eine sehr alte Form der sozialen Gruppe vor uns, die – wie alle sozialen Erscheinungen – nicht statisch ist, sondern gerade in den letzten Jahrzehnten einem deutlichen Wandel unterlag. An diesem Entwicklungsprozess der „Familie“ soll verdeutlicht werden, wie sich das menschliche Zusammenleben in einer Gesellschaft ändert und dass soziale Formen einem Wandel unterliegen.

Von Stilfehler – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link
Anteil der Ehepaare mit 0, 1, 2, 3, 4 und mehr Kindern, nach Heiratsjahr (Deutschland bzw. BRD, 1900–1972)
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Von CvetanPetrov1940 – Family album of Cvetan Petrov, CC BY-SA 3.0, Link
Bulgarische Familie um 1912
Junge Familie heute
Das Grundgesetz legt der Familie einen sehr hohen Verfassungsrang bei, in Artikel 6 des Grundgesetzes wird festgelegt, dass „Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stehen. Zur Frage, was unter Familie zu verstehen sei, hüllt sich nicht nur die Verfassung in Schweigen, sondern auch das gesamte kodifizierte Recht; die ansonsten präzise formulierte Ordnung versagt der „kleinsten Zelle des Staates“ eine Legaldefinition. Wie sind Staat und Gesellschaft bisher in der Bundesrepublik mit dem Begriff umgegangen? Sind junge Eltern, die ohne Trauschein zusammenleben, eine Familie? Ist das lesbische Paar, das sich um die Adoption eines Kindes bemüht, eine Familie? Oder verhält es sich so, wie in einem Gerichtsurteil aus den 50er Jahren? Was Anstand und Recht damals verlangten, hat der Strafsenat des Bundesgerichtshofes der Nachwelt in einem denkwürdigen Beschluss hinterlassen. Er verkündete 1954: „Die sittliche Ordnung will, dass sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist.“ Man sieht, dass sich das Verständnis von Familie gewandelt hat. Heute erscheint unsere soziale Welt vielfältig, mit Stief-, Patchwork- oder Ein-Eltern-Familien als Varianten des traditionellen Modells.
Im Folgenden soll ein kleiner historischer Überblick zum Wandel der Familie gegeben werden.
Die bäuerliche Großfamilie des 18. Jahrhunderts kannte nur eine starre Rollenverteilung der einzelnen Familienmitglieder. Der Bauer war die Autorität in der Familie, er verrichtete mit seinen Söhnen und den Knechten die Feldarbeit. Die Familienmitglieder waren ihm, als Patriarchen der Familie, zu Gehorsam verpflichtet. Die Mutter und die Töchter waren zuständig für Haus-, Stall- und Gartenarbeiten, sie hatte die Nebengewalt in der Familienhierarchie inne. Die Sozialisation der Kinder geschah durch Zusehen, Nachahmen und Mitarbeit innerhalb der Familie.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderten sich dann die gesellschaftlichen Verhältnisse und die inneren Strukturen der Familien. In der „Bürgerfamilie“ war die Einheit von Leben und Arbeiten weitgehend aufgehoben, der Arbeitsplatz lag meist vom Wohnort entfernt, die Sozialisation der Kinder übernahmen zu Teilen staatliche Einrichtungen, wie z.B. die Schule. Die Rolle der Frau reduzierte sich häufig auf die Rolle der „Nur-Hausfrau“. Friedrich von Schiller zeichnet in seinem Gedicht „Das Lied von der Glocke“ 1799 ein treffendes Bild von den Rollen, die in dieser Zeit Mann und Frau zugewiesen wurden. Dieses bürgerliche Bild von Ehe und Liebe, von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau war noch bis ins 20 Jahrhundert hinein geläufig.
In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bestand die durchschnittliche Familie der Bundesrepublik aus Mann, Frau und 2 Kindern. Im Laufe der 60/70er Jahre kam es dann zu einer starken gesellschaftlichen Änderung vor allem im moralisch-ethischen Bereich. Ein Wandel im Verhältnis zur Sexualität und Moral führte auch zu einem Bruch mit bisherigen Formen des Zusammenlebens. Ehe und Familie, die Rollenbilder von Mann und Frau unterlagen einem einschneidenden Wandel.
Einen guten Einblick in die Entwicklung der Familie in den letzten Jahrzehnten bietet dieser Film >>>.
Die Bundesregierung hat in ihrem ‚Familienreport 2017‘ das aktuelle Bild präsentiert, das die Deutschen von Familie haben. Der Bericht gilt als umfangreichste Datensammlung zur Lage der Familien. Sie listet von der Geburtenzahl bis zur ‚Häufigkeit von Bildungsaktivitäten‘ von Kindern aus Migrantenfamilien der dritten Generation jeden nur erdenklichen Fakt auf. Hier eine Auswahl der wichtigsten Ergebnisse >>
Quelle: Informationen zur politischen Bildung (Heft 269), Sozialer Wandel in Deutschland
Vielfalt als Krise der Familie?
Der demografische, kulturelle und strukturelle Wandel der Familie wird immer wieder als krisenhafte Entwicklung gedeutet. Familie, so die These in diesem Zusammenhang, wandelt sich nicht, sie verschwindet (Popenoe 1993). Im Zuge der zunehmenden Individualisierung, so wird weiter argumentiert, sind Menschen heute nicht mehr wie in der Vergangenheit bereit, Zeit, Geld und Energie in die Familie zu investieren; sie investieren lieber in sich selbst (ebd., S. 527).
Die Vorstellung von der „richtigen“ Familie, die bedroht ist und die es zu bewahren gilt, ist jedoch überholt. Die Entwicklung der Familie in Deutschland seit den 1960er-Jahren ist von ausgeprägtem Wandel, aber auch von bemerkenswerter Beständigkeit gekennzeichnet. Es gibt keine empirische Evidenz, dass sich Familie auflösen oder ihren Charakter grundlegend verändern würde. Die stattfindenden Veränderungen sind Ausdruck des fortlaufenden historischen Wandels und keine typische Erscheinung der Gegenwart. Daher geben die gegenwärtigen Entwicklungen der Familie, insbesondere auch die sich ausbreitende Vielfalt der Familienformen und des Familienlebens, keinen Anlass für Krisenszenarien. Im Gegenteil, die Wertschätzung der Familie ist heute auch bei jungen Menschen außerordentlich hoch. Die allgemeine Lebenszufriedenheit wird auch aktuell hauptsächlich durch die Zufriedenheit mit dem eigenen Familienleben bestimmt.
Vielfalt ist mithin kein Indikator für die Auflösung oder Transformation, sie ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit der Familie.
Vielfalt der Familie und Familienpolitik
Welche Konsequenzen resultieren aus dem Wandel der Familie und ihrer wieder gewachsenen Vielfalt für familienpolitisches Handeln? Festzuhalten bleibt zunächst, dass Familienpolitik in modernen Gesellschaften nicht legitimiert ist, direkt Einfluss auf die Gestaltung der Familie und des Familienlebens zu nehmen. Auch ist sie nicht legitimiert, ein Leitbild von der „richtigen“ oder „erwünschten“ Familie vorzugeben und einseitig zu fördern. Eine moderne Familienpolitik benötigt eine klare Zielbestimmung und kommt ohne die radikale Akzeptanz der Vielfalt der Familie nicht aus.
Im Mittelpunkt einer modernen Familienpolitik sollte die Verbesserung der Lebensqualität der Menschen, insbesondere von Eltern und Kindern stehen. Lebensqualität gründet dabei auf den Säulen Chancengleichheit, wirtschaftliche Stabilität und Wahlfreiheit (Schneider et al. 2013). Damit Wahlfreiheit bei der Lebensführung besteht, müssen die Menschen die Chance haben, Familie – in den rechtlich gesteckten Grenzen – so zu leben und so zu gestalten, wie sie es wünschen und für richtig erachten. Die Chancen auf berufliche, familiale und gesellschaftliche Teilhabe dürfen nicht durch Geschlecht oder Lebensform begrenzt werden. Gesellschaftliche Strukturen, die in dieser Hinsicht einschränkend wirken, sind durch eine gezielte familienorientierte Politik umzugestalten, soweit dies möglich ist.
Die Vielfalt der Erscheinungsformen und der Entwicklungsverläufe sind Kernmerkmale von Familie und kennzeichnen die Lebensrealität in Deutschland. Politisch wird diese Vielfalt bislang noch nicht angemessen anerkannt und nicht hinreichend adressiert.
Solange zum Beispiel das Angebot an Kinderbetreuungsplätzen und an Teilzeitarbeitsplätzen hinter der Nachfrage zurückbleibt und der Abschied vom immanenten Leitbild der „bürgerlichen Normalfamilie“ nicht erfolgt, ist die Wahlfreiheit der Lebensführung begrenzt und die Lebensqualität für viele Menschen in Deutschland beeinträchtigt.
Quelle: Norbert F. Schneider für bpb.de, by-nc-nd/3.0/ , Link
