Gesellschaftsmodelle: Soziale Schichten
Wenn man die Sozialstruktur einer modernen Gesellschaft analysieren will, bietet die Soziologie drei Ansätze mit unterschiedlichen Fragestellungen und Modellen an, die Modelle der sozialen Schichten, der sozialen Lagen und des sozialen Milieus.
Die Schichtungsanalyse kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie wurde von Theodor Geiger (1891-1952) – einem von den Nationalsozialisten nach Skandinavien vertriebenen Klassiker der deutschen Soziologie – in Auseinandersetzung mit der Klassentheorie von Karl Marx (1818-1883) in den dreißiger Jahren entwickelt und wird heute noch in modernisierten Varianten eingesetzt. Schichtungsanalytiker untergliedern die Bevölkerung nach „Schichten“ – manche sprechen auch von „Klassen“ in einer modernen, nichtmarxistischen Version – und beachten dabei Unterschiede in zwei Bereichen: Zu einer Schicht werden Menschen mit ähnlichen „äußeren“ Lebensbedingungen sowie ähnlichen „inneren“, „psychischen“ Merkmalen zusammengefasst.
Zu den äußeren Lebensbedingungen gehören insbesondere die Berufsposition, Einkommen und Besitz, das Qualifikationsniveau sowie Einfluss und Sozialprestige. Häufig orientieren sich Schichteinteilungen an der Berufsposition, weil damit die anderen Kriterien für eine Schichtenzuweisung tendenziell verknüpft sind. So setzen hohe Berufspositionen in aller Regel eine gute Qualifikation voraus und ermöglichen vergleichsweise hohe Einkommen, hohes Sozialprestige und hohen Einfluss.
Die Schichtanalyse geht davon aus, dass Menschen in ähnlichen Lebensbedingungen ähnliche Lebenserfahrungen machen und dass die „äußere Lebenslage“ daher einen gewissen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf das Verhalten der Menschen ausübt. Man nimmt an, dass sich schichttypische Mentalitäten und Lebensstile herausbilden. Dabei wird nicht unterstellt, dass das Sein das Bewusstsein bestimme bzw. dass die „äußeren“ Lebensbedingungen die „inneren“ Merkmale und Verhaltensweisen festlegen. Aber es wird empirisch überprüft, in welchen Bereichen und wie stark innere und äußere Strukturen zusammenhängen. Eine weitere wichtige Grundannahme ist, dass das Zusammenwirken von schichttypischen Lebensbedingungen und schichttypischen Mentalitäten und Verhaltensweisen dementsprechende Lebenschancen zur Folge hat; Schichten unterscheiden sich in der Regel auch durch typische Privilegien und Benachteiligungen.
Die folgende Grafik zeigt ein Schichtenmodell, das auf einer Untersuchung von 1965 basiert, die Ralf Dahrendorf („Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“) durchgeführt hat:
Verschieben Sie den Regler um das Modell zu entfalten!
Dass die Gesellschaft einem dynamischen Änderungsprozess unterliegt, zeigt die Grafik zur sozialen Schichtung in den 80er Jahren:
Verschieben Sie den Regler um das Modell zu entfalten!
Um Missverständnissen bei der Interpretation von Schichtmodellen vorzubeugen, sind vier Besonderheiten der Schichten in modernen Sozialstrukturen zu beachten:
- Die eingezeichneten Linien im Modell bedeuten nicht, dass Schichten scharf gegeneinander abgegrenzt sind. Scharfe Abstufungen dieser Art existieren in ständischen Gesellschaften oder im Kastensystem; in modernen Sozialstrukturen dagegen weisen Schichten keine klaren Grenzen auf, sie gehen vielmehr ineinander über und überlappen sich zunehmend.
- Es gibt eine langfristige historische Tendenz zur Differenzierung und Auflockerung der Schichtstruktur. Die Zusammenhänge zwischen äußeren Lebensbedingungen einerseits und Mentalitäten und Verhaltensweisen andererseits lockern sich in einigen Bereichen auf; schichttypische und schichtunspezifische Verhaltensweisen existieren nebeneinander. So sind zum Beispiel die Minimalformen politischer Teilnahme wie die Beteiligung an Bundestagswahlen weitgehend unabhängig von Schichtzugehörigkeit, während das Engagement in Parteien oder Bürgerinitiativen deutlich schichttypisch variiert: In höheren Schichten ist es erheblich stärker ausgeprägt als in unteren Schichten.
- Schichttypische Unterschiede sind im Zeitalter des Massenkonsums manchmal nicht „auf den ersten Blick“ an der lebensweltlichen Oberfläche zu beobachten, sie müssen erst durch sozialwissenschaftliche Studien sichtbar gemacht werden. So steht zum Beispiel heute in den Wohnungen aller Schichten das sofort wahrnehmbare Farbfernsehgerät, aber die Art, wie es genutzt wird, welche Sendungen gesehen werden, ist nach wie vor schichttypisch unterschiedlich.
- Schließlich sind die Schichten durch soziale Mobilität durchlässiger geworden. Die sozialen Schichtungen sind nicht streng gegeneinander abgeschottet, sondern Übergänge sind möglich.