Wahrnehmung als Konstruktionsprozess/ Subjektivität der Wahrnehmung

Aufgaben:

1. Reflektieren Sie Ihr eigenes Erleben und Verhalten, wenn Sie unausgeschlafen, hungrig und unmotiviert in die Arbeit kommen. Welche Änderungen treten ein, wenn sie große Freude an ihrer beruflichen Tätigkeit empfinden und in einem harmonischen Team tätig sind?

2. Kommen Sie mit Hilfe der untenstehenden Materialien zu einer Antwort auf die Frage, warum Wahrnehmung nie objektiv ist.

3. Bestimmen Sie den Begriff „Konstruktivismus“ und tragen Sie zentrale Informationen zu den Einflussfaktoren in einer anschaulichen MindMap zusammen.

Informationstext

Beim Wahrnehmungsprozess werden Reize über die Rezeptoren in den Sinnesorganen an unser Gehirn weitergeleitet. Diese Informationen werden dann in Empfindungen umgewandelt und es entsteht eine innere Vorstellung von den eingegangenen Informationen.

Dieser Prozess und damit auch das Ergebnis der Wahrnehmung sind aufgrund verschiedener äußerer und innerer Einflussfaktoren von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Wir nehmen also die Welt individuell unterschiedlich wahr. Das was wir sehen, riechen, hören oder schmecken ist nicht ein einfaches Abbild der Wirklichkeit. Vielmehr handelt es sich um eine individuelle Konstruktion unseres Umfelds. Vertreter der radikalen Strömungen des Konstruktivismus sind der Meinung, dass es keine absolute Wirklichkeit gibt, sondern jeder seine eigene Wirklichkeit konstruiert.

Exemplifikation:

Wir nehmen ein 20 Grad warmes Zimmer bei sehr heißer Außentemperatur als angenehm kühl, bei starker Kälte als angenehm warm wahr. Beeinflusst wird diese Wahrnehmung auch vom eigenen Wärme-Kälte-Empfinden. Dies kann bei Paaren zu Streitigkeiten darüber führen, ob man im Wohnzimmer das Fenster öffnet oder ob man den Kamin schürt. 

Allgemein wird unserer Wahrnehmung vor allem über die folgenden Faktoren beeinflusst:

  • biologische,
  • psychologische und
  • soziokulturelle Einflussfaktoren.

Faktoren der Wahrnehmung: biologische Einflussfaktoren

Unabhängig von persönlichen Interessen (psychologische Aspekte) und dem Einfluss anderer Personen (soziokulturelle Aspekte) kommt hinsichtlich der Wahrnehmung vor allem auch der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane und des Nervensystems eine entscheidende Bedeutung zu.

Folgende Faktoren beeinflussen sowohl die Art und den Umfang der Reizaufnahme als auch die Qualität der Reizverarbeitung:

  • Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane allgemein
  • Krankheitsbedingte Beeinträchtigung von Sinnesorganen
  • Beeinträchtigungen durch Einnahme psychotroper Substanzen (Drogen, Medikamente)
  • Vorrübergehende Bewusstseinszustände (Schlafmangel)
  • Verwehrte Grundbedürfnisse (Hunger, Schlafmangel)

Wie wichtig ausreichend Schlaf ist, lässt sich eindrücklich an folgendem Experiment erkennen:

https://www.spektrum.de/news/muede-erkennen-wir-andere-schlechter/1425901.

Faktoren der Wahrnehmung: Psychologische Einflussfaktoren

Von psychologischen Einflussfaktoren auf die Wahrnehmung spricht man, wenn es sich um Persönlichkeitsaspekte handelt, wie z.B.

  • Erwartungen,
  • Erfahrungen,
  • Gefühle bzw. Stimmungen,
  • Triebe bzw. Bedürfnisse,
  • Interessen und verinnerlichte Wertvorstellungen,
  • Vorurteile und Einstellungen,
  • Intelligenz und Begabung
  • sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Die Wahrnehmungsobjekte werden im Zuge des Wahrnehmungsprozesses mit Gedächtnisinhalten verglichen, so dass es zu einer individuellen Identifikation des Wahrgenommenen kommt. In diesem Teil der Reizverarbeitung wird ganz entscheidend von Seiten des Gehirns bzw. Gedächtnisses Einfluss auf das Wahrnehmungsergebnis genommen.

Exemplifikation:

CC0, https://pixabay.com/photo-23764/

So sehen viele junge Männer in nebenstehender Abbildung das Gesicht einer jungen Frau (sie haben das Bedürfnis/den Wunsch/die Erwartung eine junge Frau zu sehen), wohingegen Freunde der Saxophon-Musik (Interesse) wahrscheinlich sofort den Saxophonisten sehen werden und für die junge Frau eher „blind“ bleiben.

Eine Person, die großen Hunger hat (Trieb/ Bedürfnis), wird in der Fußgängerzone vermehrt Lebensmittelläden wahrnehmen.

Wer Angst hat (Gefühl), nimmt Geräusche in der Nacht bedrohlich wahr. Wer gute Laune hat (Stimmung), sieht häufig eher die positiven Dinge des Tages.

Treffen wir auf der Straße eine Person in normaler Kleidung, die uns erzählt, sie sei von Beruf Polizist, so werden wir all die Erfahrungen, die wir mit Polizisten gemacht haben, in unsere Wahrnehmung dieses Menschen einfließen lassen.

Faktoren der Wahrnehmung: Soziokulturelle Einflussfaktoren

Der Wahrnehmungsprozess, sowie die Interpretation der aufgenommenen Reize wird neben individuellen Faktoren stark von sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst. Darunter verstehen sich beispielsweise andere Personen bzw. Personengruppen, Medien und Bildungseinrichtungen sowie die Wert- und Normvorstellungen der entsprechenden Gesellschaft.

Ein Experiment des amerikanischen Psychologen Solomon Asch verdeutlicht, wie Personen unsere Wahrnehmung bzw. unser Wahrnehmungsurteil verändern können:

Versuchspersonen sollten in einer Gruppe benennen, welche der drei Vergleichslinien (A), (B) oder (C) die gleiche Länge wie die Standardlinie hat. Die anderen Personen der Gruppe waren vom Versuchsleiter eingeweiht. Sie mussten bei Ihrer Antwort angeben, dass Linie (A) genauso lang wie die Standardlinie sei. Die nicht eingeweihten Versuchspersonen passten sich (meistens) dem Urteil der anderen Personen an. Sie gaben ebenfalls an, dass Linie (A) die gleiche Länge wie die Standardlinie besitzt.

Wir passen also unsere Wahrnehmung und unser Wahrnehmungsurteil an andere Personen an. Dieser Einfluss ist umso größer, je geschlossener die Gruppe auftritt.

Eine explizite Umsetzung des Experimentes mit weiteren Erläuterungen finden Sie in der Mediathek des WDR unter https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/quarks-und-co/video-das-asch-experiment-100.html .

Ein anderes Experiment von Bruner und Goodman (1951) zeigt, wie die Wert- und Normvorstellungen einer Gesellschaft bzw. einer ihrer Gruppen unsere Wahrnehmung beeinflussen:

Geld und Konsum haben in unserer Gesellschaft einen hohen Wert. In dem genannten Experiment teilte man zehnjährige Kinder in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe war entsprechend ihrer Herkunft und ihres familiären Hintergrunds die „reiche Gruppe“, die andere die „arme Gruppe“. Sie bekamen verschiedene Geldmünzen vorgelegt, deren Größe sie schätzen sollten. Es zeigte sich, dass alle Kinder die Größe der Münzen überschätzten, die Kinder aus „armen“ Familien jedoch deutlich stärker als die Kinder aus „reichen“ Familien.

Das generelle Überschätzen der Größe wird damit erklärt, dass die Kinder aufgrund des hohen Wertes von Geld und Konsum die Münzen größer wahrnehmen, als sie tatsächlich sind. Dies ist bei armen Kindern noch deutlich stärker ausgeprägt, da für sie Geld einen noch höheren Wert hat.

Probieren Sie es aus!

Können Sie die Beispiele den jeweiligen Einflussfaktoren richtig zuordnen?