Das Differenzierbarkeitskriterium

Voraussetzungen für das Verständnis dieses Kapitels

Da in diesem Kapitel Tangentensteigungen mithilfe von sog. Ableitungen berechnet werden, sind für das Verständnis dieses Kapitels Kenntnisse über

  • die Bedeutung der Ableitung \(f^{\large\prime}\) einer Funktion \(f\)
  • grundlegende Ableitungsregeln

nötig.\(\newcommand{\IR}{\mathrm{I\!R}} \newcommand{\curvelinks}{\style{display: inline-block; transform: rotate(0.5turn);}{\curvearrowleft}}\newcommand{\lightning}{\Large\unicode{x21af}}\newcommand{\mylim}[3][x]{ \lim\limits_{#1\ \rightarrow\ {#2}} \!\bigl(\,{#3}\,\bigr) }\)

Der eindeutige Grenzwert der Sekantensteigungen einer Funktion \(f\) an einer Stelle \(x_0\),

also \(\lim\limits_{x\ \rightarrow\ {x_0}} \left(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\right)\),

wird als Ableitung \(f^{\large\prime}(x_0)\) bezeichnet
(oder auch als: „Differenzialquotient„).

  • \(f^{\large\prime}(x_0)\) gibt die Steigung einer
    Tangente am Graphen von \(f\) an der Stelle \(x_0\) an.
  • \(f^{\large\prime}(x_0)\) beschreibt damit auch,
    wie „steil“ der Graph von \(f\) an der Stelle \(x_0\) ist, und,
    ob der Graph von \(f\) (von links nach rechts betrachtet) „ansteigt“ oder „abfällt“.

\(\begin{array}{lcl}
f(x) = c  & \Rightarrow & f^{\large\prime}(x)= 0\\
f(x) = x & \Rightarrow & f^{\large\prime}(x)= 1\\
f(x) = x^n & \Rightarrow& f^{\large\prime}(x)= n\cdot x^{n-1}\\
f(x) = a\cdot g(x) & \Rightarrow & f^{\large\prime}(x)= a\cdot g^{\large\prime}(x)\\
f(x) = g(x)+h(x) & \Rightarrow & f^{\large\prime}(x)= g^{\large\prime}(x) + h^{\large\prime}(x)
\end{array}\)

Beispiel:

\(\phantom{\Rightarrow\ } f(x) = -\frac{1}{4}x^2+\frac{1}{2}x-\frac{5}{4}\)
\(\Rightarrow\  f^{\large\prime}(x)= -\frac{1}{4}\cdot 2x+\frac{1}{2} = -\frac{1}{2}x+\frac{1}{2}\)

Wiederholung: Grenzwert, Stetigkeit, Differenzierbarkeit, Ableitung

Definition: linksseitiger Grenzwert

Wenn \(x \rightarrow {x_0}^{\color{red}{–}} \) und dabei gilt: \(f(x) \rightarrow {y_{G}} \),
so heißt \(y_{G}\)
linksseitiger Grenzwert von \(f(x)\) für \(x \rightarrow {x_0}^{\color{red}{–}}\).

Schreibweise: \(y_{G} = \mylim{  {x_0}^{\color{red}-}  }{ f(x) } \)

Definition: rechtsseitiger Grenzwert

Wenn \(x \rightarrow {x_0}^{\color{forestgreen}{+}}\) und dabei gilt: \(f(x) \rightarrow {y_{G}}\),
so heißt \(y_{G}\)
rechtsseitiger Grenzwert von \(f(x)\) für \(x \rightarrow {x_0}^{\color{forestgreen}{+}}\).

Schreibweise: \(y_{G} = \mylim{ {x_0}^{\color{forestgreen}{+}} }{ f(x) }\)

Definition: Grenzwert

Wenn \(y_{G} = \mylim{ {x_0}^{\color{red}-}} {f(x)} = \mylim{{x_0}^{\color{forestgreen}{+}}} {f(x)}\)   ,
heißt \(y_{G}\) Grenzwert von \(f(x)\) für \(x \rightarrow {x_0}\).

Schreibweise: \(y_{G} = \mylim{x_0}{f(x)}\)

Genauer:

  • Nur dann, wenn \(y_G\) endlich ist, sagt man:
    „Der Grenzwert von \(f\) bei \(x_0\) existiert.“
  • Nur dann, wenn \(y_G=-\infty\) oder \(y_G=+\infty\) ist,
    heißt \(y_G\) „uneigentlicher Grenzwert“.

Anmerkung:

  • Nur dann, wenn \(y_G\) endlich ist, sagt man:
    „Der Grenzwert von \(f\) bei \(x_0\) existiert.“
  • Nur dann, wenn \(y_G=-\infty\) oder \(y_G=+\infty\) ist,
    heißt \(y_G\) „uneigentlicher Grenzwert“.

Definition: Stetigkeit an der Stelle \(x_0\)

Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

\(f\) heißt stetig an der Stelle \(x_0 \in D_f\), wenn

\(\mylim{{x_p}^{\color{red}{–}}} {f(x)} = f(x_0)\)  und  \(\mylim{{x_p}^{\color{forestgreen}{+}}} {f(x)} = f(x_0)\)

Definition: Stetigkeit einer Funktion

Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

Ist \(f\) an jeder Stelle \(x_0 \in D_f\) stetig,
so heißt \(f\) stetig (in \(D_f\)).
\(\ \)

Definition: Differenzierbarkeit und Ableitung bei \(x_0\)

Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

Wenn der Grenzwert von \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\) für \(x \rightarrow {x_0}\) existiert, so

  • heißt \(f\) differenzierbar an der Stelle \(x_0 \in D_f\)
  • wird der Grenzwert mit \(f^{\large\prime}(x_o)\) bezeichnet:
    \(\ \)
    \(f^{\large\prime}(x_o) = \lim\limits_{x\ \rightarrow\ {x_0}} \left(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\right)\)

\(f^{\large\prime}(x_o)\) heißt auch „Ableitung von \(f\) an der Stelle \(x_0\)„.

Sprechweise: „\(f\) Strich von \(x_0\)“

Definition: Differenzierbarkeit einer Funktion

Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

Ist \(f\) an jeder Stelle \(x_0 \in D_f\) differenzierbar,
so heißt \(f\) differenzierbar (in \(D_f\)).

Anmerkungen:

  • Man kann zeigen, dass jede ganz-rationale Funktion \(f\) mit Definitionsmenge \(D_f=\IR\) differenzierbar (und somit auch stetig) ist.
  • Bei abschnittsweise definierten Funktionen, die aus differenzierbaren Teilfunktionen zusammengesetzt sind, muss die Differenzierbarkeit nur an den Nahtstellen überprüft werden.

Beschleunigung der Untersuchung: Das Differenzierbarkeitskriterium

Problem:

Im vorherigen Abschnitt „Differenzierbarkeit (Definition)“ wurde in einem Beispiel vorgeführt, wie man rechnerisch untersuchen kann, ob eine Funktion an einer bestimmten Stelle \(x_0\) differenzierbar ist.

Die Berechnungen haben sich an der Definition der Differenzierbarkeit orientiert, welcher zufolge jeweils der links- und der rechtseitige Grenzwert der Sekantensteigungen bzgl. \(x\) und \(x_0\) ermittelt werden muss, also

  • \(\lim\limits_{x\ \rightarrow\ {x_0}^-} \left(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\right)\)  und
  • \(\lim\limits_{x\ \rightarrow\ {x_0}^+} \left(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\right)\).

Dabei wurde deutlich, wie aufwändig die Berechnung des links- und rechtseitigen Grenzwerts der Sekantensteigungen sein kann.

Bevor man \(x\to x_0\) gehen lassen konnte, musste man bei beiden Grenzwert-Berechnungen zuerst den Bruchterm \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\) „entschärfen“: man musste es irgendwie schaffen, der Nenner \((x-x_0)\) wegzukürzen, um nicht durch \(0\) zu teilen.

Das war beim linksseitigen Grenzwert noch harmlos, aber beim rechtsseitigen Grenzwert war eine Faktorisierung des Zählers nötig. Bei höhergradigen Funktionen kann so eine Faktorisierung sehr aufwändig sein.

Lösung:

Es gibt ein schnelleres Verfahren zur Untersuchung einer Funktion auf Differenzierbarkeit: es nutzt das sog. „Differenzierbarkeitskriterium„.

Dabei beobachtet man

  • nicht die Steigungen von 2 Sekanten,
  • sondern die Steigungen von 2 Tangenten.

Dieses Verfahren wird in diesem Kapitel vorgestellt.

ACHTUNG:

Da man die Steigung einer Tangente am Graphen einer Funktion \(f\) an der Stelle \(x_0\) mit dem Ableitungsterm \(f^{\large\prime}(x_0)\)  berechnet, benötigt man für die Anwendung des Differenzierbarkeitskriteriums das Wissen darüber, wie man die Ableitung \(f^{\large\prime}\) einer Funktion \(f\) mithilfe der sog. „Ableitungsregeln“ ermitteln kann.

Differenzierbarkeitskriterium

Gegeben sei eine Funktion \(f\) mit Definitionsmenge \(D_f\), die

  • bei \(x_0\) stetig ist,
  • unmittelbar links von \(x_0\) differenzierbar ist.
  • unmittelbar rechts von \(x_0\) differenzierbar ist.

Wenn zusätzlich gilt:

  • \(\mylim{{x_0}^{\color{black}{–}}} {f^{\large\prime}(x)} = \mylim{{x_0}^{\color{black}{+}}} {f^{\large\prime}(x)}\),
  • und der gemeinsame Grenzwert ist endlich,

so ist \(f\) auch bei \(x_0\) differenzierbar.

Beobachten Sie im nebenstehenden Geogebra-Applet, dass für \({\color{forestgreen}{x_L}}\to {\color{red}{x_0}}\) und \({\color{magenta}{x_R}}\to {\color{red}{x_0}}\) die Tangentensteigungen

  • \(m_{{\color{forestgreen}{\textsf{Tangente,L}}}} = f^{\large\prime}({\color{forestgreen}{x_L}})\) und
  • \(m_{{\color{magenta}{\textsf{Tangente,R}}}} = f^{\large\prime}({\color{magenta}{x_R}})\)

beide nur in Beispiel 1 nicht auf denselben Wert zulaufen.

Warum ist die Funktion \(f\) aber nur in Beispiel 2 differenzierbar?

  • In Beispiel 3 und Beispiel 4 ist die Funktion \(f\) jeweils bei \(x_0\) nicht stetig, weshalb \(f\) nicht differenzierbar sein kann.
  • In Beispiel 5 ist der gemeinsame Grenzwert der Tangentensteigungen bei \(x_0\) nicht endlich
    (und somit ein sog. „uneigentlicher Grenzwert“),
    was ein Ausschlusskriterium für die Differenzierbarkeit bei \(x_0\) ist.
  • Häkchen bei [  ] Tangente bei \(x_P\) bzw. [  ] Tangente bei \(x_R\) setzen: jeweilige Tangente einblenden.
  • Punkte \(L\) und \(R\) langsam auf den Punkt \(P\) zubewegen (mithilfe der Mause)
  • Menü [Beispiel x] anklicken, um anderes Beispiel auszuwählen.
 

 

Beispiel: Rechnerische Vorgehensweise beim Differenzierbarkeitskriterium

Gegeben ist die Funktion \(f: x\mapsto \begin{cases} -\frac{1}{4}(x+1)^2 +2 & \text{ für } x<1\\ \frac{1}{4}(x^3-6x^2+5x+4) & \text{ für } x\geq 1\end{cases}\) mit Definitionsmenge \(D_f=\IR\).

Untersuchen Sie, ob \(f\) an der Nahtstelle \(x_0 = 1 \) differenzierbar ist.

Lösungsvorschlag:

Vorüberlegungen:

I) Die in der hier angegebenen Funktion \(f\) vorkommenden Teilfunktionen sind differenzierbar, weil es sich um ganz-rationale Funktionen handelt. Das bedeutet, dass wir immerhin diese Teilfunktionen ableiten dürfen – schlauerweise mithilfe der Ableitungsregeln (siehe 2. Schritt).

II) Für das Differenzierbarkeitskriterium benötigen wir außerdem:

  • eine Bestätigung, dass die Funktion \(f\) an der Stelle \(x_0\) stetig ist.
  • die Berechnung von \(\mylim{{x_0}^{\color{black}{–}}} {f^{\large\prime}(x)}\) und \(\mylim{{x_0}^{\color{black}{+}}} {f^{\large\prime}(x)}\) – beide müssen den gleichen und endlichen Wert liefern .

1. Schritt: Überprüfung der Stetigkeit der Funktion f an der Stelle x0 = 1

Wir überprüfen zuerst, ob \(f\) stetig bei \(x_0=1\) ist. Falls das nicht der Fall ist, würde daraus sofort folgen, dass \(f\) auch nicht differenzierbar \(x_0=1\) ist.

Annäherung von links an \(x_0=1\):

Für \(x<1\) gilt: \(f(x) = -\frac{1}{4}(x+1)^2 +2\)

\(\Rightarrow \mylim{{1}^-}{f(x)} = \mylim{{1}^-}{-\frac{1}{4}(x+1)^2 +2 }\)

\(\phantom{\Rightarrow \mylim{{1}^-}{f(x)}} = -\frac{1}{4}\left((1)+1\right)^2 +2 = 1\)

Annäherung von rechts an \(x_0=1\):

Für \(x>1\) gilt: \(f(x) = \frac{1}{4}(x^3-6x^2+5x+4) \)

\(\Rightarrow \mylim{{1}^+}{f(x)} = \mylim{{1}^-}{\frac{1}{4}(x^3-6x^2+5x+4)}\)

\(\phantom{\Rightarrow \mylim{{1}^+}{f(x)}} = \frac{1}{4}\left((1)^3-6\cdot(1)^2+5\cdot(1)+4\right) = 1\)

Funktionswert bei \(x_0=1\):

Für \(x=1\) gilt: \(f(x) = \frac{1}{4}(x^3-6x^2+5x+4) \)

\(\Rightarrow f(1) = \frac{1}{4}\left((1)^3-6\cdot(1)^2+5\cdot(1)+4\right) = 1\)

Wir stellen fest: \(\mylim{{1}^-}{f(x)} = \mylim{{1}^+} {f(x)} = f(1)\). Folglich ist die Funktion \(f\) an der Stelle \(x_0 = 1\) stetig.

Die Funktion \(f\) kann bei \(x_0 = 1\) also tatsächlich sogar differenzierbar sein. Das müssen wir nun überprüfen.

2. Schritt: Berechnung des links- und rechtsseitigen Grenzwerts der Tangentensteigung  \(f^{\large\prime}(x)\)

Annäherung von links an \(x_0=1\):

Für \(x<1\) gilt:

\(f(x) = -\frac{1}{4}(x+1)^2 +2\)
\(\phantom{f(x)} = -\frac{1}{4}(x^2+2x+1) +2\)
\(\phantom{f(x)} = -\frac{1}{4}x^2-\frac{1}{2}x+\frac{7}{4}\)

\(\Rightarrow f^{\large\prime}(x) = -\frac{1}{2}x-\frac{1}{2}\)

\(\Rightarrow \mylim{{1}^-}{f^{\large\prime}(x)} = \mylim{{1}^-}{-\frac{1}{2}x-\frac{1}{2}}\)

\(\phantom{\Rightarrow \mylim{{1}^-}{f^{\large\prime}(x)}} = -\frac{1}{2}\cdot(1)-\frac{1}{2} = -1\)

Annäherung von rechts \(x_0=1\):

Für \(x>1\) gilt:

\(f(x) = \frac{1}{4}(x^3-6x^2+5x+4)\)

\(\Rightarrow f^{\large\prime}(x) = \frac{1}{4}(3x^2-12x+5)\)

\(\Rightarrow \mylim{{1}^+}{f^{\large\prime}(x)} = \mylim{x{1}^+}{\frac{1}{4}(3x^2-12x+5)}\)

\(\phantom{\Rightarrow \mylim{{1}^+}{f^{\large\prime}(x)}} = \frac{1}{4}\left(3\cdot(1)^2-12\cdot(1)+5\right) = -1\)

Zusammenfassung und Folgerungen:

Wir haben gezeigt:

  • Die Funktion \(f\) ist der Stelle \(x_0=1\) stetig.
  • \(\mylim{{1}^{\color{black}{–}}} {f^{\large\prime}(x)} = \mylim{{1}^{\color{black}{+}}}{f^{\large\prime}(x)} = -1\)

Also ist \(f\) bei auch bei \({\color{red}{x_0=1}}\) differenzierbar,
und wir wissen nun: \(f^{\large\prime}(1) = -1\).
Somit ist \(f\) insgesamt differenzierbar.

Wenn man will, kann man \(f^{\large\prime}(x)\) nun ebenfalls in abschnittsweise definierter Form angeben:

\(f^{\large\prime}(x) = \begin{cases} -\frac{1}{2}x-\frac{1}{2} & \text{ für } x<1\\ \frac{1}{4}(3x^2-12x+5) & \text{ für } x\geq 1\end{cases}\)