Der Umgang mit Text-Quellen

Die Analyse von Texten als historischer Quelle umfasst viel mehr als nur die Entnahme von Informationen. Texte wurden von Personen erfasst, die eine bestimmte Sichtweise, bestimmte Werte und bestimmte Interessen haben (Bzw. von KI, die sich aus Texten von solchen Personen speist). Das macht die Arbeit an Texten komplizierter, aber auch wesentlich interessanter. Als Einstieg können Ihnen die folgenden Aspekte dienen, gegliedert nach der Frage: WER hat WAS, WANN und WIE WEM geschrieben?

Fragen zum Autor:

  • soziokultureller Hintergrund
  • Amt
  • Funktion
  • Biographie
  • Standort
  • Perspektive

Verlangt ist hier:

  • Beurteilung der politischen und gesellschaftlichen Position
  • Beurteilung des Blickwinkels
  • Beurteilung der Parteilichkeit
  • Beurteilung der normativen Gebundenheit (d.h., auf welche Werte und Normen stützt sich der Autor?)

Zur Quelle:

  • Textart
  • Textsorte
  • Zentrale Thesen
  • Leitgedanken
  • Schlüsselbegriffe
  • Aufbau
  • Rhetorische Strategien und ihre sprachliche Umsetzung

Verlangt ist hier:

  • Erfassen der inhaltlichen Thesen
  • Analyse von Absichten des Autors und deren sprachlicher Umsetzung
  • Einordnung der Quelle in ihren geschichtlichen Zusammenhang
  • Vergleich mit anderen Quellen und Darstellungen

Zum Adressat:

  • Privatperson?
  • Öffentlichkeit?
  • Machthaber?
  • Nachwelt?

Erwartet wird hier:

  • Erfassen des Rezeptionszusammenhangs
  • Analyse der angestrebten Wirkung (Information, Meinungsbildung, Manipulation) und Reaktion (Verhaltensänderung, Beruhigung, Einschüchterung)
  • Analyse der Zielgruppenorientierung (Anpassung von Sprache, Satzbau; Anknüpfung an Werte und Normen der Rezipienten)

Wie bereits diese ersten Fragen gezeigt haben, ist Sprache viel mehr als nur ein Mittel der Information. Mit Sprache lassen sich Stimmungen und Wertungen vermitteln, mit denen man Sachverhalte in ein bestimmtes Licht rücken kann. Eigene Wertungen und Interessen können damit verfolgt werden, ohne dass dies am dargstellten Sachverhalt etwas ändert. Mit diesen sprachlichen Strategien befasst sich die Rhetorik, in der heutigen Publizistik spricht man auch von Framing, dem „Einrahmen“ von Informationen durch Sprache. Im Folgenden wollen wir uns auf drei klassische Ziele rhetorischer Strategien konzentrieren: Aufwertung, Abwertung und Beschwichtigung.

  • Günstige Seite hervorheben, ungünstige abschwächen oder verschweigen; positive Attribute für Wir-Gruppe;
  • dynamisches Wortfeld für Wir-Gruppe;
  • Koppelung mit positiven Werten (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie etc.); aufgrund von zwei/drei konkreten Beispielen positive Verallgemeinerung; eigennützige Ziele als uneigennützig ausgeben („Gemein­wohl“); Übersteigerung eigener Verdienste: einziger Garant für Sicherheit und Frei­heit;
  • Fehler anderen zuschieben: anderer Gruppe oder den Umständen („unab­wendbares Schicksal“);
  • Einladung der Zuhörer zur Identifikation mit Wir-Gruppe;
  • wer anderer Meinung ist, dem gegnerischen Lager zuschlagen;
  • unverfängliche Zeugen aufrufen.

Aus: Jakob Lehmann, Hermann Glaser, Die Rede des Politikers – Aspekte der politischen Kommunikation und Rhetorik, Bamberg 1974, S. 50 – 51.

  • Ungünstige Seite hervorheben, günstige abschwächen oder verschweigen; Häufung negativer Attribute;
  • Koppelung des Gegners mit negativen Werten (Unfreiheit, Unrecht, Tyrannei); aufgrund von zwei/drei konkreten Beispielen negative Verallgemeinerung; uneigennützige Ziele des Gegners als eigennützig ausgeben;
  • Fehler des Gegners ins Maßlose vergrößern: „Untergang des Abendlandes“; Fehler dritter Gruppen dem Gegner zuschieben-, Erfolge dem Gegner abspre­chen;
  • Deformation gegnerischer Argumente: ins Absurde übersteigern;
  • Verzerrung gegnerischer Zitate, um sie leichter widerlegen zu können;
  • Gegner verrät eigene Grundsätze; Gegner ist von Geschichte längst widerlegt; gegnerische Forderungen halb anerkennen, doch: sie wurden längst von Wir-Gruppe erfüllt bzw. vor dem Gegner von Wir-Gruppe aufgestellt; Diffamierung durch Assoziation;
  • Neudefinition gegnerischer Schlagworte;
  • Parzellierung des Gegners: Teil auf eigene Seite ziehen;
  • innenpolitischen Gegner mit außenpolitischem Feind koppeln;
  • unverfängliche Zeugen aufrufen.

Aus: Jakob Lehmann, Hermann Glaser, Die Rede des Politikers – Aspekte der politischen Kommunikation und Rhetorik, Bamberg 1974, S. 50 – 51.

  • Verständnis bekunden;
  • auf Gemeinschaft hinweisen: „wir sind alle eine Familie“;
  • als Vertreter einer Gruppe sich zum Sprecher einer anderen machen: Vermitt­lerrolle;
  • alle Interessen als berechtigt anerkennen, Widersprüche verschweigen: sowohl – als auch, weder noch;
  • für jeden etwas;
  • auf unabwendbares Schicksal hinweisen;
  • allgemeine Weisheiten: Irren ist menschlich;
  • Formulierungen, die für jede Interpretation offen sind;
  • wenn eine Interessengruppe belastet wird: ,alle müssen Lasten tragen‘, Dienst am Allgemeinwohl;
  • Tabuisierung von Problemen, so daß deren Erörterung unmöglich wird. (53, 167)

Aus: Jakob Lehmann, Hermann Glaser, Die Rede des Politikers – Aspekte der politischen Kommunikation und Rhetorik, Bamberg 1974, S. 50 – 51.

Aufgabe:

Analysieren Sie nun den folgenden Ausschnitt einer historischen Rede nach den beschriebenen Kriterien: Bestimmen Sie Strategien der Aufwertung, Abwertung und Beschwichtigung und ordnen Sie diese in den historischen Kontext der Rede ein.

Walter Ulbricht, Rede zum Bau der Berliner Mauer (1961)

Meine lieben Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und liebe Freunde in West­deutschland und Westberlin!

Ereignisreiche Tage liegen hinter uns. Hier und da gingen die Wogen etwas hoch. Sie glätten sich allmählich. Die von Schöneberg und Bonn künstlich geschürte Aufregung ist abgeebbt. Na­türlich müssen wir weiterhin wachsam sein. Aber das Leben geht seinen ruhigen Gang. Sie erwarten mit. Recht, daß ich als Vorsitzen­der des Staatsrates der DDR einiges zu den Geschehnissen und zu der neuen Situation sage. […] Wir haben – so glaube ich -, einen wichtigen Beitrag zum Frie­den geleistet, indem wir die Grenzen der DDR gegenüber West­berlin und gegenüber Westdeutschland gesichert haben. Wir haben uns bei unseren Maß­nahmen an die Vereinbarungen mit der SU und mit den anderen Staaten des Warschauer Vertrages gehalten, die uns verpflichten, die Grenzen unseres Staates wirksam zu schüt­zen und unter Kontrolle zu halten.

Kriegsminister Strauß beschleunigte die atomare Ausrüstung der unter dem Befehl von Hitler­generalen stehenden Bonner NATO-Armee. Er erklärte in frechem Übermut, der Zweite Welt­krieg sei noch nicht beendet. Er knüpfte direkt an die abenteuerlichen Pläne Hitlers und Himm­lers an. […]

Wir hatten rechtzeitig die Kriegsvor­bereitun­gen der Bonner Regierung entlarvt. [. ..]

Ich muß schon sagen: Die Herren Adenauer und Strauß und ihre Hitlergenerale und Helfers­hel­fer von Globke und Lemmer bis zu Brandt haben bei ihrem Versuch, die Deutsche Demo­krati­sche Republik aufzurollen, keinen besonderen Einfallsreichtum bewiesen. Es gibt ja schließlich genügend Leute, die sich noch genau daran erinnern, wie Hitler seinen Überfall auf die Tsche­choslowakei und dann auf Polen vorbereitet hat.

  • Aufwertung
  • Abwertung
  • Beschwichtigung

Meine lieben Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und liebe Freunde in West­deutschland und Westberlin!

Ereignisreiche Tage liegen hinter uns. Hier und da gingen die Wogen etwas hoch. Sie glätten sich allmählich. Die von Schöneberg und Bonn künstlich geschürte Aufregung ist abgeebbt. Na­türlich müssen wir weiterhin wachsam sein. Aber das Leben geht seinen ruhigen Gang. Sie erwarten mit. Recht, daß ich als Vorsitzen­der des Staatsrates der DDR einiges zu den Geschehnissen und zu der neuen Situation sage. […] Wir haben – so glaube ich -, einen wichtigen Beitrag zum Frie­den geleistet, indem wir die Grenzen der DDR gegenüber West­berlin und gegenüber Westdeutschland gesichert haben. Wir haben uns bei unseren Maß­nahmen an die Vereinbarungen mit der SU und mit den anderen Staaten des Warschauer Vertrages gehalten, die uns verpflichten, die Grenzen unseres Staates wirksam zu schüt­zen und unter Kontrolle zu halten.

Kriegsminister Strauß beschleunigte die atomare Ausrüstung der unter dem Befehl von Hitler­generalen stehenden Bonner NATO-Armee. Er erklärte in frechem Übermut, der Zweite Welt­krieg sei noch nicht beendet. Er knüpfte direkt an die abenteuerlichen Pläne Hitlers und Himm­lers an. […]

Wir hatten rechtzeitig die Kriegsvor­bereitun­gen der Bonner Regierung entlarvt. [. ..]

Ich muß schon sagen: Die Herren Adenauer und Strauß und ihre Hitlergenerale und Helfers­hel­fer von Globke und Lemmer bis zu Brandt haben bei ihrem Versuch, die Deutsche Demo­krati­sche Republik aufzurollen, keinen besonderen Einfallsreichtum bewiesen. Es gibt ja schließlich genügend Leute, die sich noch genau daran erinnern, wie Hitler seinen Überfall auf die Tsche­choslowakei und dann auf Polen vorbereitet hat.

Vertiefungsaufgabe:

Vergleichen Sie die Wirkung der Rede im eben gelesenen Text mit der Wirkung in der Fernsehansprache unten: Welche Unterschiede in der Wirkung würden Sie vermuten?