Ostalgie
Aufgaben:
1 Erklären Sie mithilfe des Textes von Mary Fulbrook, „Ein ganz normales Leben“ das Phänomen der Ostalgie.
Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben
[…] „Ostalgie“ ist keine ausreichende Erklärung dafür, dass die Ostdeutschen in den Darstellungen der Macht- und Repressionsstrukturen in den Geschichtsbüchern ihre eigenen Vergangenheiten nicht „wiedererkannten“. Das paradoxe Nebeneinander tatsächlicher repressiver Strukturen und doch weithin vorherrschender positiver Erinnerungen beruht teilweise auf der Tatsache, dass das Leben in der DDR nicht nur aus repressiven Institutionen und Praktiken bestand. […] Wenn wir die paradoxe Lage des Volkes genauer untersuchen, gelangen wir zu einem weit komplexeren und historisch angemesseneren Bild des Lebens in der DDR, das über die bloße Verurteilung diktatorischer Strukturen hinausgeht. Bei der Entwicklung einer angemesseneren und differenzierteren Betrachtungsweise halte ich vier Punkte für besonders wichtig.
Erstens: Der „Staat“ und die „Zentren der Macht“ waren überhaupt nicht dasselbe. Die wahren Zentren der Macht umfassten nur sehr wenige Menschen — einige Dutzend, höchstens Hunderte —, während der erweiterte „Staat“ ein weit umfangreicheres Phänomen war, an dem eine große Zahl „ganz normaler“ Bürger beteiligt war auf eine Weise, die ihnen schlimmstenfalls harmlos, bestenfalls sogar hilfreich und auf das Allgemeinwohl ausgerichtet erschien. Buchstäblich Millionen von Menschen waren auf die eine oder andere Weise an den Aktivitäten staatlicher Institutionen, Parteien und Massenorganisationen beteiligt. Dieser riesige Bereich der Überschneidung zwischen dem, was gemeinhin als „Staat“ und „Gesellschaft“ unterschieden wird, das Fehlen einer klaren Trennlinie in einem riesigen Bereich der Beteiligung der Bevölkerung und das schiere Ausmaß der Partizipation am Funktionieren der Machtstrukturen an der Basis machen es für einen erheblichen Prozentsatz der Ostdeutschen schwierig, die Schwarz-Weiß-Verurteilung des „bösen Regimes“ zu akzeptieren, die bei Theoretikern des Totalitarismus so beliebt ist. Denn dies würde bedeuten, dass sie sich selbst die Rollen von „Tätern“ und „Komplizen“ zuweisen und sich folglich selbst verurteilen.
Die meisten Ostdeutschen können auch kaum zufrieden damit sein, dass man ihnen die Rolle eines passiven „Opfers“, eines bloßen „Objekts“ statt eines „Subjekts“ der Geschichte zuweist. Deshalb ist es zweitens — und vielleicht ebenso — wichtig, die Tatsache anzuerkennen, dass das „Volk“ allgemein — nicht nur diejenigen, die sich aktiv in den formalen Machtstrukturen oder als Dissidenten und politische Opposition betätigten eine aktive Rolle spielte, indem es sein eigenes Leben gestaltete und Initiativen ergriff, um in den Verhältnissen, die es vorfand, seine Zukunft zu gestalten. Um Marx zu paraphrasieren: Die Menschen machten ihre Geschichte, aber sie machten sie nicht in Verhältnissen, die sie sich selbst ausgesucht hatten.
Eine statische und ungeschichtliche Konzeption einer irgendwie „erstarrten“ Gesellschaft, in der alle „Unterbereiche“ des Lebens von oben gleichgeschaltet und kontrolliert wurden, muss daher rundweg abgelehnt werden. Die Ostdeutschen saßen im Großen und Ganzen nicht vierzig Jahre lang angsterfüllt in der inneren Emigration,und sie fühlten sich auch nicht zu einer Art von Gehorsam gezwungen; und diejenigen, die sich an der Aufrechterhaltung der Machtstrukturen beteiligten, ließen sich auch nicht auf einen verwerflichen Pakt mit dem Teufel ein. Einige wenige taten dies natürlich. Am einen Ende des Spektrums gab es diejenigen, die sich mit dem Regime nie abfanden, bewusst ein zurückgezogenes Leben führten und sich alternativen Lebensstilen zuwandten, oder die versuchten, aktiv Widerstand zu leisten und die Machtstrukturen zu verändern; am anderen Ende gab es diejenigen, die heimlich an Machenschaften mitwirkten, die gemeinhin nach allen Maßstäben als an sich unmoralisch, manipulativ, hinterlistig und gegen alle Menschenrechte verstoßend angesehen werden müssen. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung passte in keine dieser Kategorien, so wichtig sie auch sind.
Viele Ostdeutsche ersannen Strategien, um aktiv zu versuchen, ihre persönliche Lage zu verbessern, und um die Regeln, Prozeduren und Einschränkungen ihrer Verhältnisse durchzustehen. Sie scheuten sich auch nicht, ihre Meinung deutlich zu vertreten; die meisten lernten die ungeschriebenen Regeln, was sie wo und in welcher Form sagen konnten; viele hatten die Normen und den Diskurs des Regimes verinnerlicht, oder sie redeten und handelten wenigstens so, als ob sie dies getan hätten. Die Menschen waren bereit, in öffentlichen Versammlungen und 60 „Diskussionen“ zu argumentieren; Erklärungen zur Unterstützung der einen oder anderen Planung oder Aktion des Regimes nicht zu unterzeichnen; das individuelle
System der „Eingaben“ und Beschwerden zu benutzen, um eine bessere Wohnung oder Kinderbetreuungsplätze, knappe Waren oder Verbesserungen in irgendeinem Bereich ihres Lebens zu erhalten. Ein solcher „Druck von unten“ wurde teilweise unterstützt und nach oben weitergegeben von Funktionären des Regimes, die auf diese Weise manchmal auch eine echt repräsentative Rolle spielten. Der kollektive oder individuelle Druck der Bevölkerung hatte ferner erheblichen Einfluss auf die Reaktionen der wirklichen Machthaber. Obwohl also die wirkliche Macht in wenigen Händen an der Spitze konzentriert blieb und gewisse Fragen völlig unverhandelbar waren, blieben dennoch große Bereiche, in denen der Beitrag der Bürger praktische Bedeutung für ihr Leben haben konnte. Darstellungen „von oben nach unten“ bedürfen daher der Ergänzung durch Darstellungen, die wieder »gewöhnliche Menschen“ als aktive Beteiligte einführen und zeigen, wie sie etwas aus sich machten und ihre Geschichte selbst gestalteten.
Drittens sagt das Sprichwort: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“ So ist auch nicht alles an sich und von Natur aus schlecht, was kommunistisch ist. Nicht alles, was das Regime tat und anstrebte, war unbedingt verwerflich und repressiv. […] Von dem, was die SED zu tun versuchte, war weit mehr verhältnismäßig „normal“, oder zumindest den Zielen und politischen Maßnahmen des damaligen Westens vergleichbar, als manche Darstellungen anscheinend zugeben wollen. Es ist geradezu erstaunlich, dass viele umfassendere Voraussetzungen und Maßnahmen — was den Wohnungsbau, das Bildungs- und Gesundheitswesen, den Status der Frau, den Glauben an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt betrifft — im Vergleich mit Entwicklungen in westlichen kapitalistischen Gesellschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz „normal“ erscheinen. Und viele Ziele der SED wurden auch von einer erheblichen Zahl der Bürger geteilt — oder anders ausgedrückt: Die Ziele einer erheblichen Zahl von Bürgern wurden von der SED nicht nur geteilt und vertreten, sondern es war sogar ein Körnchen Wahrheit in dem paternalistischen Anspruch der SED, sie versuche diese Ziele (wenn auch letzten Endes erfolglos) „zum Wohle des Volks“ zu verwirklichen.
Man muss natürlich bedenken, dass diese „Normalität“ beziehungsweise das relativ breite Spektrum der Übereinstimmung sich in einem Kontext abspielte, der alles andere als „normal“ war: hinter den Wachttürmen und dem Todesstreifen der Mauer sowie unter der versteckten Überwachung und dem bösartigen, manipulativen Eingreifen der Stasi. Nur wenn die Bürger wörtlich und bildlich gegen diese Grenzen anrannten, wurden die Begrenzungen der „Normalität“ schmerzlich offenbar. Für jene aktiven Gegner der Repression, die kämpften und litten, und für jene, deren Leben durch die Zwänge des Systems deformiert wurde, waren die repressiven Aspekte des Regimes erschreckend deutlich. Aber man sollte auch beachten, wie viele Menschen nie eine Veranlassung hatten, gegen diese Grenzen anzurennen, und wirklich meinten, dass sie „ein ganz normales Leben“ führen konnten. […] Viertens und letztens: Es könnten viele individuelle Geschichten erzählt werden. Jede von ihnen ist irgendwie ein kleiner Strang in jener großen Vielfalt von Menschenleben, die zusammen die umfassendere Geschichte der ostdeutschen Gesellschaft ausmachen: Geschichten der Liebe, Geschichten des Schmerzes und des Ringens, des Glücks und der Erfüllung, der Langeweile und der Hoffnungslosigkeit. Zur Sozialgeschichte gehört weit mehr als in Darstellungen erfasst werden kann, die sich vor allem mit repressiven institutionellen Strukturen, der zentralen Festlegung politischer Richtlinien und den Folgen politisch orientierter Maßnahmen beziehungsweise dem Widerstand dagegen beschäftigen. Die Erinnerungen der Ostdeutschen sind voll von persönlichen Erfahrungen, Vorfällen und Aktivitäten. Diese werden zwar zwangsläufig — wie jedes individuelle Leben, wann und wo es auch gelebt wird — durch ihren politischen und historischen Kontext geformt und gelenkt, lassen sich aber nicht auf diesen reduzieren. Außerdem formten teilweise größere strukturelle Veränderungen, die den Zeitgenossen vielleicht überhaupt nicht bewusst waren, sowohl die Erfahrungen als auch die Wahrnehmungen der Menschen, was wiederum die Geschichten beeinflusste, die erzählt werden könnten. Der Charakter der ostdeutschen Gesellschaft veränderte sich entsprechend dem sich verändernden Milieu. Lebensstile, die in besonderen Formen der ländlichen oder städtischen Gesellschaft wurzelten, veränderten sich zusammen mit den Mustern des Wohnens und der Freizeitaktivitäten; kulturelle Strömungen und gesellschaftliche Trends beeinflussten Ambitionen und Aktivitäten. In der seltsamen Kombination von konstruktivem Meckern, utopischen Visionen und brutalen Grenzen verschob sich im Lauf der Zeit das jeweilige Gewicht dieser Elemente. Doch obwohl die Gesellschaft innerhalb der Grenzen der DDR sich entwickelte, blieb Kritik an den äußeren Grenzen tabu. Auch diese Komplexität gehört zu der paradoxen Lage des Volkes: dass die Erfahrung einer gewissen Freiheit, konstruktive Beteiligung am sozialistischen Projekt und Unterstützung durch dieses nachweislich genau zur gleichen Zeit möglich waren wie das Erkennen äußerer politischer Zwänge. Diese Komplexität muss, auch wenn sie schwierig zu erfassen und darzustellen ist, in
die Geschichte der DDR einbezogen werden. Der komplexe, viele Facetten aufweisende Charakter der ostdeutschen Sozialgeschichte trägt dazu bei, dieses paradoxe Phänomen zu erklären: widersprüchliche Geschichten und Erinnerungen, zweifellos repressive Strukturen und eine echte nostalgische Sehnsucht nach erlebten Erfahrungen.
Quelle: Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt: WBG 2008, S.312-15 (Auszüge).
