Nationalsozialismus und familiäre Erinnerung

Es gibt eine große Diskrepanz zwischen familiärer Erinnerung des Nationalsozialismus und wissenschaftlichen Erkenntnissen Der Soziologe Harald Welzer und sein Team haben die Enkelgeneration der Menschen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, über ihre Wahrnehmung und ihr Wissen über diese Zeit befragt, und zwar einmal über das Wissen innerhalb der Familie und zum anderen über das von Außen vermittelte Wissen. Wie wird es bewertet, wenn ein Familienmitglied Teil des Systems war? Wie wird die Erinnerung an die Opfergruppen eingeordnet, womöglich das eigene Handeln im Nachhinein verklärt?

Wie gehen Familien mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus um?

Bundesarchiv Bild 183-H13160, Beim Einmarsch deutscher Truppen in Eger.jpg

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Straßenaufnahme: Die Besetzung der Tschechoslowakei durch die deutschen faschistischen Truppen, Oktober 1938.

Bundesarchiv Bild 102-15783, Berlin, Lustgarten, Maikundgebung.jpg

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Hitler fährt durch ein Spalier von Anhängern in Berlin im Mai 1933. Im Wagen sitzend, Vizekanzler von Papen.

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1. Untersuchen Sie die folgenden Interviewausschnitte (Q1 – Q7). Unterscheiden Sie zwischen dem, was von den Zeitzeugen als Fakten dargestellt wird, und den persönlichen Wertungen, die in dieser Darstellung bereits als solche erkennbar sind.

2. Zeigen Sie, wo die Beteiligten Entschuldigungsstrategien anwenden, und charakterisieren Sie diese Strategien. Differenzieren Sie dabei zwischen der Generation der Großeltern, der Eltern und der Kinder.

3. Arbeiten Sie aus der Zusammenfassung der Autoren heraus (M8 – M11), wie das Zusammenspiel von Geschichte und Erinnerung in Familien funktioniert.

Quellen Q1 – Q7

Empathisches Begleiten

Tochter Hildrun Müller (Jg. 1938) und Mutter Wilhelmine Brinkmann (Jg. 1915) unterstützen sich gegenseitig beim Erzählen einer Geschichte.

Hildrun Müller: „Und dann das Schlimmste fand ich für dich“

Wilhelmine Brinkmann: „Mein schönes Kleid“

Hildrun Müller: „Das schönste Kleid, das Oma besaß! Sie hatte so ein wunderschönes Kleid! Und dann hat jemand geklingelt an der Tür, Bauern müssen das wohl gewesen sein“

Wilhelmine Brinkmann: „Ja, ja.“

Hildrun Müller: „Und dann, ja, ja, eine Dose Wurst. Für dieses Kleid. Soo eine kleine Dose Wurst!“

Wilhelmine Brinkmann: „So ’ne kleine bloß. Und die habe ich aufgemacht und auf den Tisch gestellt und denn“

Hildrun Müller: „Du bist rausgegangen, weil du es nicht mit ansehen konntest. Du hast gar nichts gegessen. Und wir haben das in fünf Minuten oder sieben Minuten aufgegessen. Und dein Kleid war weg, ne. Seh‘ ich bis heute noch.“

Wilhelmine Brinkmann: „Ich auch. Das sehe ich heute auch noch.“

Hildrun Müller: „Also, das werde ich nie vergessen.“

Wilhelmine Brinkmann: „Nee, ich auch nicht. Nee.“

zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 29.

Tabus

Interviewer: „Gibt es denn auch Geschichten, die Sie Ihrer Tochter oder Ihrer Enkelin nicht erzählen würden?“

Herr Hofer antwortet: „Nein, nein, nein. Da wäre ich also völlig offen und und äh, ich brauch‘ ihr nicht zu erzählen, dass ich also Juden erschossen habe (haut auf den Tisch) oder so was, selbst wenn ich’s getan hätte, würd‘ ich’s erzählen. Warum? Es ist meine Tochter und ich ich habe mein Leben gelebt, ich kann ja nichts davon irgendwie in den Orkus der Vergangenheit versinken lassen. Das das geht nicht, nein. Also, es gibt nichts, wo ich sagen würde: Das erzähl‘ ich ihr nicht! Selbst wenn es also die Ehre deutscher Soldaten tangieren sollte. Erinnere mich also, dass wir einmal einen Angriff gefahren haben, und als wir zurückkamen, äh, mit Infanterie aufgesessen usw, da haben also ’n paar russische Soldaten die Idiotie be/äh äh gemacht, sich äh zu ergeben, nech (Mhm). Die haben natürlich keinen Augenblick länger gelebt (klopft auf den Tisch). Aber das war natürlich auch so ’ne Sache, wo sollten/sollten se auf den Panzern mitfahren, und hätten da vielleicht noch irgendwo ’ne versteckte Handgranate denn noch (lacht) irgendwo untergesteckt oder so, nech (Mhm). Wenn die liegen geblieben wären, wär nichts passiert (Mhm). Aber das sind eben/auch das würd‘ ich meiner Tochter erzählen, obwohl es also eigentlich die Ehre des deutschen Soldaten irgendwie tangiert, wenn mal/das mal so sagen darf, ’ne (Jaja, mhm). Aber da kann ich also nicht sagen, dass es irgendwas gäbe, was ich, was ich ihr nicht oder meiner Enkelin auch, ’ne. Da gibt’s also gar nichts (Mhm). Warum sollte ich auch?“

Herr Hofer: „Ich bin heute also entsetzt, wie ich damals geschrieben habe. Also was, was, was (lacht) mir heute gar nicht mehr in den Kopf rein will. Ich habe denn also/äh wir haben also auf der Gegenseite natürlich auch Russinnen in Uniform und mit Gewehr und bewaffnet (Ja) gesehen und eine hab‘, also nun stellen Sie sich mal vor, mit (klopft auf den Tisch) 18 Jahren, hab‘ ich äh äh zusammengeschossen mit meinem MG und und schreib‘ denn also ganz stolz, äh der der Kopf und und die Brust waren nur noch ein blutiger Klumpen oder sowas (Mhm). Heute wundert man sich, wie man das damals schreiben konnte.“

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 46f.

Zeugenschaft eines Mordes

Großeltern erzählen im Kreis der Familie eine Geschichte, die schon öfters Anlass zu Diskussionen gegeben hat:

Lore Renz: „Einmal haben se auch gesagt: >Komm her, komm her äh, da hinten, da werden welche erschossen, äh, wollen wir mal hingehen<“

Josef Renz: „Ja“

Lore Renz: „da hast du gesagt“

Josef Renz: „Ja, das war doch, das is ja nich‘ gesagt, dass das Juden waren, das waren Leute, nicht wahr, die, sagen wir, Partisanen“

Lore Renz: „es konnten auch Geiseln gewesen, jaja, hmmm“

Josef Renz: „die also Soldaten erschossen hatten. Denn ich habe auch erlebt, wie wir/ welche erschossen sind in Pleskau. Nech, wenn ich nun kommandiert . worden wäre, das hätte möglich sein können, da hab‘ ich mir manchmal überlegt, was machst du: >Schießte vorbei, nech, ja<“

Lore Renz: „Das merken se aber“

Josef Renz: „dass de nicht triffst . ja aber. es wurden immer zwei . bestimmt, immer zwei, auf einen zu schießen […] ja, und da haben ja nicht alle beide vorbeigeschossen, nech. Und da sind viele, die sich dagegen gewehrt haben innerlich, aber . dann wurden/ mal sagen denn so und so viel. Soldaten umgekommen waren durch die Partisanen. Ich habe auch einen guten Freund gehabt, nech“

Lore Renz: „Der hat dir morgens noch die Haare geschnitten“

Josef Renz: „Der hat mir noch die Haare geschnitten, jaja“

Lore Renz: „nachmittags war er tot.“

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 57.

Abschleifen der Details über die Generationen hinweg

Im Einzelinterview betonen Frau Krug und Herr Hoffmann, dass sie bis Kriegsende nicht wussten, was Konzentrationslager sind. Später zogen ehemalige Häftlinge des Lagers Bergen-Belsen durch ihr Dorf und Frau Krug wurde von der britischen Besatzungsmacht verpflichtet, ihnen Quartier bereitzustellen.

Frau Krug: „Also die Juden waren nachher die Schlimmsten. Also die haben uns richtig schikaniert. [ … ] Wissen Sie, die setzten sich hin, die ließen sich bedienen von uns und dann hatten, wollten se nich‘, wir hatten ja so‘ n großen äh so’n großes Heufach, da schliefen immer die drin, nachtsüber. [ … ] Also Juden hab‘ ich immer gesehen/ nachher hab‘ ich das anders gemacht. Da Juden und äh und Russen, die hab‘ ich immer gesehen, dass ich die nicht kriegte. Die war’n ganz widerlich, nich‘. Und dann hab‘ ich mich immer vor unten an‘ ner Straße gestellt, vor’n Tor, und wenn se sagten: >Quartier!< >Nee<, sag‘ ich, >schon alles voll! < Äh, wenn nun die Juden oder sowas kamen, denn sagt‘ ich: >Sind alles voll Russen, könnt ihr mit reingehen!< >Nein, nein, nein, nein!<, nich‘. Und wenn die Russen kamen, denn denn hab‘ ich das auch denn irgend so einem gesagt, sind Juden da oder irgend sowas.“ Bernd Hofmann [der Sohn]: „Ein Jahr war se (seine Frau) in Belsen auf’m Bauernhof da, nich‘. Da sind se direkt vorbei, nich‘. Die Oma hat dann welche versteckt, und dann, in einem Holzkessel hab’n die gesessen, hab’n die, sind die rumgekommen, überall reingesteckt, ne: >Hier muss sich einer versteckt hab’n.< Dann hätten se die Oma ja sofort erschossen. Hat se sich da, hat sie, hat sie einen heißen Topf daraufgesetzt, dann mit kochenden Kartoffeln, nech, auf der Holzkiste, dass der nich, dass se den nicht gekriegt hab’n. “

Die 26-jährige Enkelin Sylvia Hoffmann: „Und dann hat sie auch noch mal irgend’ne Geschichte erzählt, das fand ich dann irgendwie ganz interessant, ähm . dass ähm unser Dorf dann ja schon auf dieser Strecke nach Bergen-Belsen lag, und ähm dass sie dann schon mal irgendwen versteckt hat, der halt geflohen ist von irgend so ’nem Transport und ähm den auch auch auf ganz interessante Art und Weise in irgend ’ner Getreidekiste irgendwie mit Strohhalm, und so rausgucken, hat die den dann echt versteckt. Und es kamen halt auch Leute und haben den gesucht bei ihr auf’m Hof und sie hat da echt dicht gehalten, und das find‘ ich . ist so ’ne kleine Tat, die ich ihr wohl echt total gut anrechne, so.“

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 61f.

Kumulative Heroisierung

In der geschützten Atmosphäre eines Familiengesprächs bleiben bestimmte Aspekte der Erzählung ohne kritische Nachfragen.

Sieglinde Grubitsch: „Aber unser Doktor Weinberg war ja Jude, und die Frau war ja Studienrätin, die haben wir ja geschützt, die sind ja, bis zum Schluss haben die wohnen können.“

Rückfrage des Enkels Erich Grubitsch jun. (Jahrgang 1962): „Apropos: Wie habt ihr die denn geschützt?“

Sieglinde Grubitsch: „Ja, weil wir sie bei uns nie belästigt (haben). Wir haben uns nie belästigt gefühlt und die haben uns nicht gestört. Wir haben uns nicht, wie die Patrioten da, gesagt, hier sind Juden, da wollen wir nichts mit zu tun haben. Oder: >Holt die weg!<“

Erich Grubitsch jun.[Sohn]: „Es war halt (ein) totalitäres Regime, na gut. Wer weiß, was wir gemacht hätten. [… ] Andererseits haben sie angeblich äh ’n paar Juden gerettet. Muss man ja auch anerkennen, dass/ gut, können wir heute alles nicht nachvollziehen, aber dass sie’s immerhin versucht haben oder tatsächlich durchgezogen haben.“

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 65.

Ein NS-Funktionär als Gegner des Systems

Mathilde Beck (Jg. 1924) erzählt vom Selbstmord ihres Vaters 1940, der seit 1931 Ortsgruppenleiter der NSDAP war. Diese Äußerungen kommentiert ihr Enkel Lars Dietrichsen (Jg. 1975).

Mathilde Beck: „Als meine Schwester ’46 heiratete, kam eine Jüdin und sagte, es war ja nun auch ’ne schlechte Zeit, und sagte zu meiner Mutter: >Und wenn Sie irgendwas brauchen, sagen Sie’s, vielleicht kann ich es organisieren durch Care-Pakete und dergleichen, denn er hat mich ja auch nicht gemeldet.<“

Interviewerin: „Was heißt gemeldet?“

Mathilde Beck: „Die Juden mussten gemeldet werden.“

Interviewerin: „Er hat diese Frau“

Mathilde Beck: „Er hat diese Frau nicht gemeldet“

Interviewerin: „Aha.“

Mathilde Beck: „Und ob da in der Richtung was vorgefallen war, wir haben nicht gefragt, wir/ man konnte ja auch kein Aufhebens davon machen. Ähm 1940 war’s schon so, dass äh man Angst hatte.“

Interviewerin: „Und Sie meinen, dass Ihr Vater dann auch trotzdem im Untergrund sozusagen dagegen gearbeitet hat, obwohl er doch“

Mathilde Beck: „Nein, bestimmt nicht dagegen gearbeitet. Er hat immer versucht, äh die Sache aufrechtzuerhalten, weil er eben diese diese gute Entwicklung mitgemacht hat, nich‘.“

[…] Interviewerin: „Also das ist doch auch so, dass der Ortsgruppenleiter war oder dass er die Leute da/“

Lars Dietrichsen (Enkel): „Weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ich mein‘, normalerweise würdeste ja sagen, wenn’s nach dem Krieg gewesen ist und äh die Straße nach dem Krieg nach ihm benannt wurde, dann wird’s sicherlich gewesen sein, weil er irgendwie“

Interviewerin: „Weil er was Gutes/“

Lars Dietrichsen: „Weil er sozusagen was Gutes gemacht hat, also im Nachkriegssinn. Vielleicht weil sie wussten, er war fair und hat die Leute gedeckt. Oder, weiß nicht, hat das eingesehen, dass das alles schlecht war, was seine Partei da gemacht hat, und sich deswegen erschossen hat.“

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 69f.

Viktimisierung – Deutsche als Opfer

Drei Generationen entwickeln im Gespräch eine Geschichtsinterpretation: Wilhelmine Brinkmann (Großmutter), Hildrun Müller (Mutter) und Christian Müller (Sohn).

Hildrun Müller: „Ja, und weißte, was ganz ganz schlimm war für mich, ’ne ganz schlimme Erfahrung war?“

Wilhelmine Brinkmann [Tochter]: „Hm?“

Hildrun Müller: „Dann haben sie geschossen und dann haben sie Lastwagen“

Wilhelmine B.: „Mmmmm, die Toten alle draufgeschmissen“

Hildrun Müller: „Lastwagen. Die Toten alle von der Straße auf diese Lastwagen geschmissen“

Wilhelmine B.: „Oh, das weiß ich noch“

Hildrun Müller: „Beine ab, Arme ab“

Wilhelmine B.: „Das seh‘ ich heute noch“

Hildrun Müller: „Ich auch, das sehe ich heute auch noch. Das ist ganz schlimm. AIle/“

Christian Müller (Enkel): „Und warum waren die tot?“

Wilhelmine B.: „Ja, erschossen.“

Hildrun Müller: „Erschossen.“

Christian Müller: „Die Frage war auch blöd.“

Wilhelmine B.: „Das sag‘ ich dir!“

Hildrun Müller: „Ja, ähähäh, vom vom vom Erschießen und von von Bomben.“

Christian Müller: „Also war’n das auch Amerikaner oder was?“

Hildrun Müller: „Ja.“

Wilhelmine B.: „Klar war’n das Amerikaner. ‚türlich war’n das Amerikaner.“

Hildrun Müller. „Und da stand dieser Lastwagen, seh‘ ich immer noch. Immer wieder einen aufgeladen“

Wilhelmine B.: „Ja, ich auch. Das hab‘ ich auch noch in Erinnerung.“

Hildrun Müller: „Und immer drauf. Oh, das war so schlimm!“

Christian Müller: „Aber warum waren denn da so viele tote Amerikaner?“

Hildrun Müller. „Deutsche!“

Christian Müller: „Ach, Deutsche waren das!“

Wilhelmine B.: „Deutsche waren das! Deutsche haben sie erschossen.“

Hildrun Müller: „Alles, was da auf der Straße herumlag. Oder alle Verletzten, die, die nicht mehr zu retten waren, die haben sie da alle draufgeschmissen, ne. Das war schlimm.“

Wilhelmine B.: „Das war schlimm.“

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 93ff.

M8 – M11 Familiengedächtnis, Nationalsozialismus und Holocaust

Dynamisches Familiengedächtnis: Was man alles tun musste

Unsere Interviews haben gezeigt, wie und auf welche Weise die nationalsozialistische Vergangenheit im Bewusstsein und im Unbewussten der Deutschen lebendig ist. Sie lebt fort in Gestalt von virtuellen Familienalben, in die jene Bilder und Geschichten eingeheftet sind, auf deren Lesarten sich die Familienmitglieder im skizzierten Prozess der gemeinsamen Verfertigung der Vergangenheit geeinigt haben und die beständig in jenem Prozess der kommunikativen Feinabstimmung modifiziert werden, der die fiktive Einheit des Familiengedächtnisses sicherstellt.
Wir haben darzulegen versucht, dass dieses Gedächtnis nur in seiner Aktualisierung besteht, und dass in diesem wiederkehrenden Prozess der Verlebendigung die Vergangenheit beständig umgeschrieben wird. Gerade am Beispiel der kumulativen Heroisierung lässt sich das gut beschreiben, denn hier geht ein Grundelement des traditionellen deutschen master-narratives über den Nationalsozialismus eine Verbindung mit neueren Diskursen über den Holocaust ein, und heraus kommt eine Lesart der Vergangenheit, in der sich eine Alltagstheorie über die nationalsozialistische Vergangenheit weiter stabilisiert und sogar ausgebaut zeigt. Verblüffenderweise scheint das Familiengedächtnis in der Lage zu sein, öffentliche Diskurse über den Holocaust oder über die Verbrechen der Wehrmacht in diese Alltagstheorie zu inkorporieren, deren Keim darin besteht, dass Deutsche und “Nazis” zwei völlig verschiedene Personengruppen waren, die nur im pragmatischen Grenzfall in Deckung kamen: wenn etwa unsere Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei “eintreten mussten”, für die Gestapo “arbeiten mussten”, in den Krieg “gehen mussten” oder der Verfolgung — und nur dieser — der jüdischen Bevölkerung “zusehen mussten”. Das alles haben sie im Gegensatz zu den “Nazis” nicht aus Überzeugung und gern getan, sondern, weil “man” das damals machte oder weil man damit Schlimmeres verhüten konnte; im Übrigen haben sie im Rahmen ihrer Funktionen stets versucht, sich wie gute Menschen zu verhalten — anders wiederum als die “150-prozentigen Nazis”, die in ihren Erzählungen als chronische Widersacher auftreten.

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 205-10 (Auszüge).

Konstruktion von Vergangenheiten: Überhören und Ignorieren

Gerade das Wissen, dass der Nationalsozialismus ein verbrecherisches System war, das Millionen von Opfern gefordert hat, ruft in den Nachfolgegenerationen das Bedürfnis hervor, eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten in Rollen auftreten, die mit den Verbrechen nichts zu tun haben. Dieses Bedürfnis entfaltet Wirksamkeit bis hin zu dem irritierenden Umstand, dass Mordtaten, von denen im Familiengespräch berichtet wird, von den Anwesenden nicht “gehört” zu werden scheinen — zumindest findet sich in den Einzelinterviews davon keine Spur. Wir haben in unserer Stichprobe immerhin zwei Fälle, in denen Zeitzeugen sich offen zu selbst begangenen Taten äußern — aber das wird, so scheint es, lediglich vom Tonband aufgezeichnet, nicht vom Familiengedächtnis. Nicht weniger bemerkenswert erscheint aber, dass im Rahmen von Familiengesprächen auch Aspekte von Erzählungen, die unter anderen Umständen sofort zu kritischen Nachfragen oder zum empörten Verlassen des Raums führen würden, nicht zur Kenntnis genommen werden — etwa dann, wenn vom voyeuristischen Zuschauen bei Erschießungen die Rede ist […] Im Familiengespräch scheint, je nach dem Plot, auf den die Erzählung hinausläuft, normal, was in anderen Zusammenhängen skandalös erscheinen würde. Dasselbe Phänomen findet sich im Kontext von Erzählungen zu Zwangs- und Fremdarbeitern oder eben von Schilderungen, die die Erzähler deutlich auf der Täterseite situieren — z. B. wenn jemand aus intimer Sicht das Verhalten der Kapos im Lager als unsolidarisch erklärt. In unseren Interviews geht es an solchen Stellen fast nie um Fragen wie: “Was hast du da gemacht?”, “Wie bist du da hingekommen?”, “Warum wurden diese Leute erschossen?” usw. Zu bereitwillig folgen die Zuhörerinnen und Zuhörer der erzählimmanenten Gestalt, die um einen anderen Plot, um eine andere Moral der Geschichte zentriert ist.

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 205-10 (Auszüge).

Die nächste Generation: Kontraevidenz aufgrund emotionaler Einbezogenheit

Was in der Ausgangserzählung der Zeitzeuginnen und -zeugen vielleicht noch widersprüchlich und unklar war, wird in den Versionen der Enkelinnen und Enkel eindeutig. So wird aus einem undefinierten Akteur “der Hauptmann” oder “der Offizier”, aus undefinierten Kindern solche, “die gerettet wurden”, aus Menschen, die displaced persons nach dem Krieg Hilfe verweigern, Menschen, die während des Krieges “Juden versteckt” haben.
Zu all dem gehört, dass immanent völlig widersprüchliche, ihre eigene Widerlegung gleich miterzählende Geschichten im Gespräch offenbar als durchaus plausibel empfunden werden können. Das über unser Material hinaus bekannte Beispiel ist, dass man nichts von Lagern gewusst hat, aber ständig davon bedroht war, “ins KZ zu kommen”. Wir finden kontraevidente Geschichten, in denen am Beispiel von Fotos über Erschießungen berichtet und im gleichen Atemzug betont wird, dass man so was nie hätte erzählen dürfen, weil man dann sofort erschossen worden wäre, oder solche, in denen zugleich erzählt wird, dass man einer Vergewaltigung durch Russen entging, weil Kinder anwesend waren und dass Russen auf nichts Rücksicht nehmen, wenn sie vergewaltigen wollen, nicht einmal auf Kinder.
Es wäre völlig verfehlt, anzunehmen, einem selbst würden solche kontraevidenten Geschichten weder in der Rolle des Zuhörers noch in der des Erzählers jemals durchgehen: Es ist nicht zuletzt die wahrheitsverbürgende Situation des Familiengesprächs selbst, die logische Widersprüche und sogar hanebüchenen Unsinn wie selbstverständlich plausibel erscheinen lässt. Diese wahrheitsverbürgende Kraft des unmittelbaren Zeugnisses geht sogar, wie man an den Reaktionen der Interviewerinnen und Interviewer ebenso sehen kann wie an den allfälligen medialen Zeitzeugenauftritten, auch weit über den Rahmen von Familiengesprächen hinaus. Sobald ein Zeitzeuge von seinen Erlebnissen berichtet, scheint er mit einem Authentizitätsvorteil ausgestattet zu sein, der diejenigen, die so etwas nicht erlebt haben, tendenziell in ein defensives und affirmatives Mitdenken und Mitfühlen zwingt, das kritische Nachfragen als undenkbar, mindestens aber als unpassend erscheinen lässt.
Bei all diesen Phänomenen spielt eine entscheidende Rolle, dass wir es in unseren Gesprächen mit emotional bedeutsamen Situationen zu tun haben — und emotionale Einbezogenheit erzeugt, wie gesagt, eine andere Ausgangsbedingung für das, was wahrgenommen, eingespeichert, aufbewahrt und abgerufen wird. Emotionale Erinnerungs- und Weitergabeprozesse sind etwas anderes als das Lernen von Fakten und das Verfügen über Wissen — und deshalb stellen kommunikativ tradierte Gewissheiten und kognitiv repräsentiertes Wissen unterschiedliche Bereiche des Geschichtsbewusstseins dar.

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 205-10 (Auszüge).

Die kollektive Gedächtnislücke: das jüdische Schicksal 1938-45

Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass in deutschen Familien ein Bewusstsein über die nationalsozialistische Vergangenheit tradiert wird, in dem die Vernichtung der europäischen Juden nur als beiläufig thematisiertes Nebenereignis vorkommt, und zwar in Beispielen, die zeitlich nur bis zur “Reichskristallnacht” und zur allenthalben konstatierten “Ausreise” von jüdischen Mitschülerinnen und Mitschülern und ihren Familien reichen, nicht aber bis zur Enteignung, Deportation und Vernichtung. “Juden” treten in den Gesprächen erst als Zurückgekehrte wieder auf, und dann in der Regel als Kronzeugen dafür, dass man selbst oder der Verwandte immer korrekt und hilfsbereit gewesen war. Der Holocaust selbst existiert in unseren Interviews und Familiengesprächen meist nur auf Nachfrage – er hat seinen Ort in dem kognitiven Universum dessen, was man über die Geschichte weiß, nicht in Familiengeschichten.
Mit anderen Worten: Der Holocaust hat keinen systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis, das, so unsere These, die primäre Quelle für das Geschichtsbewusstsein ist. Sein Narrativ entspringt einer externen Quelle, gebildet aus Geschichtsunterricht, Gedenkstättenarbeit, Dokumentationen und Spielfilmen. Ein solcherart vermitteltes Wissen ist aber etwas anderes als die selbstverständliche Gewissheit, die man als Mitglied einer Erinnerungsgemeinschaft über deren eigene Vergangenheit hat.

Zitiert nach: Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“ – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: S.Fischer 2002, S. 205-10 (Auszüge).

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