Interpretation eines epischen Textes
Prüfungsaufgabe aus der Abschlussprüfung 2004
Aufgabenstellung:
Fassen Sie den Inhalt der Erzählung kurz zusammen.
Charakterisieren Sie das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.
Es tut mir leid
von Doris Dörrie
Meine Mutter mag ihn, meinen Calvin aus Brooklyn. Sie hat sich zum Abendessen umgezogen und flirtet mit ihm, während sie ihm die Aufschnittplatte reicht. Sie spricht nur wenige Worte Englisch, also redet sie deutsch auf Calvin ein und macht Pausen wie ein Politiker, damit ich übersetze. „Diese Wurst gibt es nur hier, und auch nur beim Metzger Wolf. Stadtwurst heißt sie. Schmeckt’s Ihnen?“ (…) Ich sage Calvin auf englisch, dass er noch eine Scheibe Wurst essen soll, sonst ist sie wieder beleidigt. Meine Mutter sieht mich mißtrauisch an. „Er redet nicht viel, was?“ sagt sie, ganz wie dein Vater. Hast du ihm von deinem Vater erzählt?“ „Warum nicht? sage ich. „Das sieht dir ähnlich, sagt sie, und dann schweigt sie und sieht mich vorwurfsvoll an. Mein Vater ist vor sechs Jahren mit einer Drogistin durchgebrannt, bei der er jahrelang immer das gleiche Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk für meine Mutter gekauft hatte, ein Parfüm mit dem Namen ‚Joy‘. Seit sechs Jahren behauptet meine Mutter, sie habe ihn immer mehr geliebt als er sie. Als ich noch ziemlich klein war, hat sie mir erzählt, eine Frau solle sich immer einen Mann suchen, der sie ein bißchen mehr liebe als sie ihn, und ihr bedeutungsvolles Lächeln konnte nur heißen „so wie ich“. Mein Vater tat mir leid.
Meine Mutter steht auf und räumt den Tisch ab. Ein Hauch von ‚Joy‘ schwebt durch den Raum. Hinter ihrem Rücken werfen Calvin und ich uns Küsse zu. Er liebt mich, das weiß ich. (…) Sie kommt mit einer Schüssel roter Grütze aus der Küche zurück. Ich sehe, dass sie sich die Nase frisch gepudert hat. (…) „Es ist schön, dass du wieder da bist“, sagt meine Mutter. „Ich werde nie verstehen, wieso du unbedingt drüben studieren mußt. Der Dreck in New York muss ja unvorstellbar sein. Und so viele Leute!“ „Ich mag den Dreck“, sage ich. „Sag deiner Mutter, wie sauber Deutschland auf mich wirkt“, sagt Calvin in dem Moment. Ich brauche es nicht zu übersetzen. Meine Mutter strahlt ihn an.
Calvin heißt mit Nachnahmen Weintraub. Er ist der erste Jude, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, und der erste Mann, den ich glaube, wirklich zu lieben.
Es war sein Vorschlag, über die Sommerferien nach Deutschland zu fahren. „Du hast wahrscheinlich mehr Angst als ich“, hat er zu mir gesagt und beim Start der Lufthansamaschine von New York nach München meine Hand genommen. Ich zucke zusammen, als der Pilot sich meldet und in preußischem Befehlston schnarrt: „Sis is Captain Müller and his crrew. Ve velcome you on board and vish you a happy flight.“ Calvin lacht. Ich habe plötzlich Angst vor jeder deutschen Passkontrolle, nicht er. Ich vermute plötzlich in jedem Deutschen über fünfundsechzig einen Nazi – er nicht?
„Gut sieht er aus“, sagt meine Mutter. Ich übersetze es Calvin. „Sag ihr, daß du deine Schönheit von ihr geerbt hast. Ich sage es ihr, und sie wird rot, kichert wie ein kleines Mädchen, plötzlich sieht sie ganz jung aus. Ihre rotblonden Haare hätte ich gern von ihr geerbt. Ich habe braune Augen und fast schwarze Haare wie mein Vater. Mich hat in Amerika nie jemand für eine Deutsche gehalten, das hat mir geschmeichelt.
Meine Mutter klatscht in die Hände. „Jetzt habe ich noch eine Überraschung für euch.“ Stolz stellt sie eine Flasche Sekt auf den Tisch. Calvin und ich grinsen uns an. Er legt unter dem Tisch seine Hand auf mein Knie. Wir denken beide an die vielen Flaschen Moet Chandon unter den Vollmonden über der Brooklyn Bridge. Da habe ich ihm erzählt, daß, meine Mutter vierundfünfzig ist und mein Vater sechsundfünfzig; ganz beiläufig habe ich das gesagt, das Rechnen habe ich ihm überlassen. „Willst du jetzt mich damit beunruhigen oder dich?“ hat er gefragt.
Meine Mutter macht das Radio an. Bayerische Marschmusik. Calvins höfliches Lächeln friert auf seinen Lippen ein. Aber das sehe nur ich. Meine Mutter hebt das Glas. Ich stehe auf und mache das Radio aus. Calvin schüttelt ganz leicht den Kopf.
„Du hast recht“, sagt meine Mutter, „Ist ja viel gemütlicher ohne dieses Gedudel.“ Hat sie’s begriffen? Hat sie irgend etwas begriffen? Wir stoßen an. „Calvin Weintraub“, sagt sie, „was für ein schöner Name.“
Ich habe darauf bestanden, mit Calvin in meinem ehemaligen Zimmer zu schlafen, meinem Mädchenzimmer. (…)
„Es tut mir leid, Calvin“, sage ich. „Was tut dir leid?“ fragt er und ich spüre seinen Atem in meinem Nacken. Wir können nur auf der Seite nebeneinander liegen in meinem schmalen, alten Bett. „Es tut mir leid, daß alles wirklich so ist, wie es ist.“ „Mach es nicht schlimmer , als es ist.“ „Es ist aber schlimmer, als ich gedacht habe.“ „Nein“, sagt er, „es ist so, wie es ist.“ (…)
Sie sitzt im Dirndl am gedeckten Frühstückstisch und wartet auf uns. Der Kaffe ist bereits kalt. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie früher jemals Dirndl getragen hat. Warum ausgerechnet heute? Warum ausgerechnet für Calvin?
Harte Eier hat sie gekocht für den Ausflug und Brote geschmiert. „Wir können doch irgendwo zu Mittag ess gehen“, sage ich.
„Du hast ja keine Ahnung, wie teuer alles geworden ist.“ „Teurer als in New York?“ sage ich und klinge schnippischer als ich wollte. Daß sie immer über Geld reden muss. „Siebenhundert Mark kriege ich im Monat von deinem Vater. Ganze siebenhundert Mark.“ „Entschuldige“, sage ich, „so habe ich das nicht gemeint. „Nein“, sagt die scharf, „natürlich hast du es so nicht gemeint. Du hast ja immer auf der Seite deines Vaters gestanden.“
Sie schenkt Calvin Kaffe ein und lächelt ihn an. (…) „Unser Ausflug lohnt sich gar nicht mehr, jetzt ist es schon elf Uhr“, sagt sie. Ich würde ihr gern die hartgekochten Eier in ihr Lächeln werfen. „Was ist mit unserem Ausflug?“ fragt er.
Wir fahren über Hof zur DDR-Grenze. Die Idee hätte von ihr sein können. Aber Calvin will es sehen, weil er es sich nicht vorstellen kann. „HALT! for American Personnel. 50 m to border“, kündigen Schilder die Grenze an. Calvin ist beeindruckt. Meine Mutter schweigt. Sie weiß, daß ich ihr Gerede über die Russen nicht ausstehen kann. „Wie nah die Russen hier sind“, sagt Calvin, „das kann sich in Amerika keiner vorstellen.“ „Was hat er gesagt?“ fragt meine Mutter. „Daß er Hunger hat“, sage ich.
Sie zieht hörbar die Luft ein. „Das da ist der Todesstreifen“, sagt sie zu Calvin. „Death zone“, übersetze ich. „Heißt das wirklich so?“ fragt er. Keiner glaubt mir irgendwas.
Wir fahren über die Felder, das Korn glitzert weiß in der Sonne. Es riecht nach großen Ferien, nach Freibad und Nogger-Eiscrem. „God, it’s beautiful“, sagt Calvin, Ja; es ist beautiful, a beautiful country. (…)
Sie biegt auf eine kleine Straße ab, und ich merke erst, als es zu spät ist, wohin wir fahren. Flossenbürg – 2 km steht auf dem gelben Straßenschild. (…)
Prüfungsaufgabe aus der Abschlussprüfung 2004
Aufgabenstellung:
Fassen Sie den Inhalt der vorliegenden Textpassagen kurz zusammen.
Charakterisieren Sie die Figur Hans Musbach.
Unscharfe Bilder
von Ulla Hahn
Seine Möbel hatte er, soweit sie Platz fanden, mitnehmen können, selbst einen großen Teil der Bibliothek, den Rest wußte er bei der Tochter gut untergebracht. Ehemalige Schüler, wenn sie ihn aus Anhänglichkeit besuchten, ließ er freigiebig aus den Regalen wählen und unterstrich dann gelegentlich einen Satz, der sie ein Leben lang begleiten sollte. Die breiten Borde bogen sich noch immer, und die Stützen einer Leiter hatten das rötlichbraune Parkett schon verschrammt. Oben standen die kostbaren Bände, auch in lateinischer und griechischer Sprache, alter Drucke, die Hans Musbach mit einem Vergößerungsglas zu lesen pflegte. Seine Festung.
Er fand sich gut zurecht in dem großzügigen Haus am Hafen. Seine Pension reicht für ein Appartement auf der richtigen Seite, dort, wo man die Sonne am Elbstrom untergehen sah, dort, wo der Blick auf die Wellen ging, als versichere ihr gleichmäßiger Schlag, daß alles noch lange – immer und immer – so weitergehen könne. Die weniger Betuchten des Seniorenheims, Residenz, wie man das hier nannte, schauten auf Fischhallen und heruntergekommene Häuser. Nie hätte er sich vor dem Umzug vorstellen können, einmal Stunden zu verträumen, einfach dazusitzen, ohne ein Buch, eine Fachzeitschrift oder den Brief eines Kollegen, den es zu studieren und sorgfältig zu beantworten galt.
Musbach rückte den Stuhl näher ans Fenster. Der Glanz des gleitenden Wassers änderte sich mit dem Himmel, eben noch wolkenverhangen, dann wieder von ein paar Windstößen leergefegt, blau. Dennoch: Regen lag in der Luft. Sturmwolken zogen vom Westen auf. Dann wurde es noch einmal hell, die Wolken zum Horizont getrieben, weit weg über die Werft am anderen Ufer. Herrenlos. Er mochte die Schnelligkeit dieser Wandlungen am Himmel lieber noch als die Bewegungen der Schiffe. Bei Sonne Segelboote, weiß die meisten, manche blau-weiß gestreift, eines mit rotbraunen Segeln. Piratenbraun. Motorboote, Fähren ins Alte Land und nach Krautsand, Containerschiffe und Tanker auf dem Weg in den Hafen, ins offene Meer, unter den Flaggen aller Herren Länder. Schwarz, Rost und Mennigrot, von dieser rauhen, zweckmäßigen Schönheit, so anders und doch so ähnlich den alten, erhabenen Schriften.
Das Telefon läutete. Eine freundliche Stimme fragte nach den Wünschen fürs Mittagessen. Fleisch, Fisch, vegetarisch. Sie mußte die Frage wiederholen, ehe Musbach sich für Fisch entschied. Er sah weiter aufs Wasser, den Himmel; einstrahlend weißer Passagierdampfer trieb langsam stromabwärts inmitten lichter Schaumkronen, winzige Menschen an Deck winkten, in Richtung der Uferhänge zeigten sich Häuser und Türme; der Himmel darüber nun voller unbehaglicher schwarzer Wolken.
Trotz der Jahre, die Hans Musbach hier schon wohlumsorgt verbracht hatte, fand er noch immer wenig Gefallen an diesen gemeinsamen Mahlzeiten. Es fiel ihm schwer, Gespräche zu begleiten, die oft von der Gegenwart nur mehr aufnehmen wollten, was aus ferner Vergangenheit betrachtet wichtig zu sein schien. Wie ein langsam vertrocknender Teich, dem der einst quellende Bach versiegt war, erschien ihm seine Gesellschaft; durchaus noch wache Leute, aber meist, als säßen die Augen nun im Hinterkopf und nicht mehr vorn, unter einer nachdenklichen Stirn.
Fast vierzig Jahre lang waren seine Gesprächspartner junge Menschen gewesen, oft keine einfachen Schüler und auch nicht immer so neugierig, wie er es sich gewünscht hätte. Aber jung, Gegenwartsmenschen, Zukunftsmenschen. Zuerst hätten es seine Kinder sein können, später seine Enkel, doch zu alt hatte er sich mit ihnen nie gefühlt, auch wenn er im Stillen manche Aufmüpfigkeiten und lässigen Tabubrüche mißbilligt hatte. Das leben begann ja mit jeden Schuljahr wieder von vorne, und das hatte ihn glücklich gemacht.
Jetzt war seine Tochter festes Glied zwischen Gestern und Heute in ihren täglichen, gemeinsamen Stunden. Pädagogin wie er. Musbach wußte nur zu gut, was er brauchte und was ihm fehlte. Es war nicht der Verlust seiner gewohnten Häuslichkeit, die er erst verlassen hatte, als er spürte, daß Katja zuviel Zeit und besorgtes Nachdenken für sein tägliches Leben aufwenden mußte. Er vergaß auch nicht, daß er mit diesem Platz an der Elbe, umgeben von liebgewonnenen Gegenständen, so etwas wie das große Los gezogen hatte. Ihm felte das Gespräch mit jungen Leuten, das war nun mal die unausweichliche Folge des Alters. Er mußte noch immer lernen, damit gelassener und geduldiger umzugehen. Was hier im Hause jung war, das arbeitete entweder in der Bedienung, in der Küche oder im Zimmerdienst; bei der Massage oder in der ärztlichen Versorgung. Da gab es kaum Zeit, aber sicher auch wenig Interesse für Gespräche mit den Bewohnern; über Höflichkeiten kam man selten hinaus. Er mußte das begreifen, „abhaken“, wie es hieß. „Cool“ sein. Wer es kann.
Musbach wusch sich die Hände, fuhr mit dem Kamm durchs Haar, einspärliches Weiß, aber gut geschnitten, rückte er die Fliege zurecht und nahm den Aufzug zum Speisesaal, der zu ebener Erde hinter der Eingangshalle lag. (…)
Wie immer, wenn es irgend ging, legte er sich nach dem Essen schlafen. Katja würde heute früher kommen. Ganz in seinem Tagesrhythmus war er um halb drei wieder bei seiner Lektüre, versenkte sich in die neue Sulla-Biopraphie1, die ihm seine Buchhandlung geschickt hatte.. Und vergaß die Zeit. (…)
Die Unruhe wollte nicht vergehen. Warum hatte Rattke2 nicht verstehen wollen, dass Günter Grass mit seinem „Krebsgang“ nicht die Nazimorde gegen deutsches Unglück aufrechnen wollte? War es denn niemals möglich, auch das ganze Bild zu sehen? Das Unheil des Ersten Weltkrieges, das Terrorregime der Nazis zunächst gegen die deutschen Demokraten, gegen die Juden und schließlich gegen ein Europa, das sich nach Frieden sehnte? Und dann auch noch das, was er am eigenen Körper erfahren hatte, ohne jemals selbst etwas entscheiden zu können; er, ein Teil der deutschen Kriegsmaschine und ihr Opfer zugleich. Mußte man aus dem Mosaik immer nur die Steine einer Farbe auswählen? Gab nicht erst das ganze Bild einen Sinn?
Es dauerte eine Weile, bis Musbach bemerkte, daß sein Blick vom Bild auf dem Einband des Katalogs nicht loskam. Er kannte solche Fotos. Frau Sippel2 hatte ja recht: Wann immer er in den Unterrichtsstunden in der Oberstufe auf die grausamen Kriege des Altertums zu sprechen gekommen war, nie hatte er versäumt, die Schüler über das Verständnis der Geschichte hinaus auch auf die Kriege ihrer eigenen Zeit, des zwanzigsten Jahrhunderts, hinzuweisen; auf die immer größeren Räume, auf die unveränderte Brutalität. Auf die Bestie Mensch. Er wollte Warnung sein mit der Erfahrung seiner Generation und seinem Wissen und so die Verantwortung der Generation stärken. Jetzt war er alt und hier. Er hatte doch nichts versäumt! Warum stäubte sich alles in ihm, den Katalog in die Hand zu nehmen, wenn Katja ihn doch bat? Woher dieser Widerwille? Dieses Zögern? Warum sollte er heraus aus diesem inneren Frieden mit seiner Zeit, den er sich in vielen Jahren erarbeitet und verdient zu haben meinte? Altersfrieden.
Doch seit die Tochter ihm den Katalog nachdrücklich zugeschoben hatte, fühlte er ein Kramen in den Fächern seiner Gedächtnisses, eine Verstörung, wie er sie seit Jahren nicht mehr kannte, nicht seit Hugos dreißigstem Todestag, als er den kleinen Gedenkstein auf dem Ohlsdorfer Friedhof aufstellen ließ. Ohne Verwandte oder Freunde des Freundes, der da draußen in Rußland so einsam lag, wie Musbach hier einsam ihrer Freundschaft gedachte. Vierzig Jahre hatte er dieses Gefühl einer unvollendeten Geschichte nicht mehr so gespürt wie an diesem Abend. Gut, daß Katja ihm in dieser Stimmung nicht gegenübersaß. Ihr wäre kaum entgangen, daß der lange Satz seiner Lebens noch nicht zu Ende gesprochen war. (…)
Der Vater war immer korrekt gekleidet. So, im Anzug mit Fliege, hatte er vor seinen Schülern gestanden. Straff auch in Cordhose und Pullover. Ein Mann mit Haltung.
Vater und Tochter begrüßten sich heute eher höflich, beinahe unbeteiligt, als kämen sie aus einer Theaterpause. Ohne Umschweife nahm Musbach das Gespräch auf. „Gestern abend habe ich das Buch angesehen. Ich weiß wirklich nicht, was du willst. Wir alle kennen doch die Schrecken und Verbrechen der Nazizeit. Was können wir noch mehr dazu sagen? Ich habe diese Jahre in mir abgekapselt wie die Splitter in meinem Bein. Es gibt die historische Verantwortung aller Deutschen, dazu habe ich immer gestanden. Aber ich will nicht noch einmal hinein, zurück in diese verlorenen, gestohlenen Jahre.“
Die Tochter sah ihn erwartungsvoll an. Sie antwortete nicht. Es war an ihm zu reden. „Wir haben doch wirklich oft darüber gesprochen. Du weißt alles. Hast so viel gelesen. Ich kann dir nichts Neues sagen.“
„Ja“, sagte Katja. „Gelesen. Und darüber geredet. Aber von dir selbst hast du nie erzählt. Und nie von solchen Fotos. Du warst doch in diesem Krieg, in Rußland.“ (…)
Der Vater stand auf, machte sich an der Espressomaschine zu schaffen. Katja folgte ihm nicht. Bedankte sich knapp, als der Vater ihr die Tasse reichte.
Mußte das sein? Diese Fotos! Was sollte er dazu sagen? (…)
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1 Sulla: Politiker im antiken Rom (138 – 78 v.Chr.)
2 Herr Rattke und Frau Sippel: Mitbewohner des Heimes
Prüfungsaufgabe aus der Abschlussprüfung 2003
Aufgabenstellung:
Fassen Sie Inhalt und Aufbau der Kurzgeschichte knapp zusammen. Berücksichtigen sie dabei auch die Erzählperspektive des Textes.
Charakterisieren Sie den Beamten Müller anhand der Begegnung mit dem arabischen Schriftsteller (Z. 18-42). Gehen Sie dabei auch auf Müllers Sprachverhalten ein.
Der Kummer des Beamten Müller
von Rafik Schami
Sie glauben doch nicht im ernst, dass es mir mit diesen Kanaken, Kameltreibern und Spaghettis gut geht!
Da kommt doch dieser halbwüchsige Spaghetti, der mich jedes Jahr wahnsinnig macht, mit seinem offenen Hemd und seiner speckigen Lederjacke hereingetanzt, als wäre die Behörde eine Diskothek. Ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Itaker von Geburt an keinen Respekt vorm Gesetz haben. Weißt du, was er mir sagt, mein Lieber? Der Freche sagt zu mir, an meiner Stelle würde er sich die Arbeit ganz einfach machen, und ich Idiot frage auch noch: „Wie denn?“
Da sagt doch dieser Kerl, er würde jedem einen Stempel schenken, zum Mitnehmen nach Hause. „Warum immer hierher? Besser zu Hause ein Stempel!“
Wo kämen wir da hin, wenn das so wäre! Nein , seit zwei Jahren schreibt dieser Spaghetti bei „Nationalität“ nicht mehr „Italiener“, sondern „Gastarbeiter“. Jedes mal erkläre ich es ihm und er antwortet: „Ich nix weiß, ich vorher Italiano, aber jest nix Italiano, nix Deutsch, ich Gastarbeiter“, und das schlimmste ist, er lacht dabei, und genau das macht mich krank. Statt meine Fragen zu beantworten, erzählt er mir dauernd Geschichten von seinem schlechten Capo. Jedes Jahr dasselbe.
„Ich viil Arbeit, aber Capo sagt, nix gut. Warum?“
Ich sage ihm, er soll arbeiten, die Maschine anglotzen und nicht den Meister, und der sagt: „Ich immer Capo sehen, auch Traum!“
Ja, ja, und mir soll es gut gehen.
„Ach, guten Abend, Herr Al Tachtal …“
Na ja, woher holt der bloß immer wieder die Frauen. Ein Scheißkerl.
Muchamed Achmed Al Achtal, mein Lieber, da bricht einem die Zunge ab, ein Reibeisen im Hals wäre ein Zuckerlecken dagegen. Wozu das Ganze, ich zum Beispiel heiße ganz einfach Hans Herbert … Hans Herbert … ganz leicht … und nicht Achmed Machmed.
Glauben sie, ein einziger Kanake hat bis jetzt meinen Namen richtig ausgesprochen? So dumm sind die Brüder. Der Kameltreiber sagte mir im letzten Jahr, mein Name sei ihm zu lang. Erwürde mich Hansi nennen. Auf arabisch soll das „mein Hans“ bedeuten. Um Gottes willen. Ich bin nicht schwul! Aber diesem Kameltreiber habe ich es gezeigt, der kommt her und steckt mir einen stinkenden, zerdrückten Pass entgegen, und ich mache ihn auf. Weißt du, was darin steht?
„Geboren: 1342“. Also stell dir vor, am Anfang dachte ich, das ist eine Fälschung oder der will mich auf den Arm nehmen. Aber nein! Denkste! Das ist mohammedanische Zeit. Ich sage mir, Hans Herbert, nur ruhig Blut, ein Sandfresser kann dich doch nicht aus der Ruhe bringen. Ich frage ihn: „Also wie viel macht es christlich?“
Weißt du, was er sagt? Er glaubt, es sei 1940! Er glaubt es! … Nicht glauben soll er, sondern belegen soll er, habe ich ihm gesagt. Mein Lieber, das war ein Krach! Aber das war noch nicht mal so schlimm, denn bei Beruf trug er „Schriftsteller“ ein. Am Anfang dachte ich, das sei ein Scherz. „Nicht doch, Her Achtmal“, sagte ich. „Sie können doch kaum Deutsch und wollen Schriftsteller sein?“
Und was macht er? Er zückt ein Buch aus seiner stinkenden Tasche. „Hier mein Buch, schöne Errsäluung, 11 Mark 80, für Sie 10,80.“
Also ich muss doch bitten, wir sind hier nicht im Basar. Ich habe ihn weggeschickt. Erst muss er einen ordentlichen Beruf nachweisen, dann bekommt er die Aufenthaltserlaubnis, sonst nix … Schau dir den an, gar keinen Kummer hat er. Wenn ich er wäre, hätte ich mich um eine Stelle gerissen, und was macht er? Mit Weibern herumkutschieren! Ich sage dir, das verdirbt mir die Laune! Was ist das für ein Tag heute, erst verdirbt mir dieser Kümmeltürke den Vormittag, dann dieser Kameltreiber den Abend. Der Kümmeltürke kommt heute morgen so gegen 10 Uhr, er kommt mir seinen zwei Bälgern und seinem Weib, als wäre ein Behördengang ein Ausflug. Sie setzen sich, sie breiten sich aus bei mir, und eine dieser Rotznasen zerrupft schon nach paar Minuten zwei Blätter von meinem Gummibaum und bringt sie mir.
„Daputt“, sagt er.
Der andere Balg schielt auf den Kugelschreiber. Ich komme ihm aber zuvor und nehme den Kuli wag. Da sagt doch dieser Türke: „Kind nix wegnehmen. Yassin brav, nur schipilen. Kind Muss.“
„Ja, aber nicht hier in der Behörde, ich bitte Sie!“ sage ich.
„Doch muss“, brüllt der Kanake. „Du Kind Haben?“ fragt er und haucht mich mit seinem Knoblauchatem an.
„Ja, zwei“, antworte ich, aber bevor ich noch einen Blick in seine Akte werfen kann, haucht er mich gleich wieder an.
„Wie alt?“ will er wissen.
Ich antworte nicht, weil das ja zu weit geht. Der Türke geht zu seinem Weib und holt zwei bunte Schachteln.
„Hier für Kind, türkisch, schmeckt extra prima!“ haucht er mich wieder an. Ich habe schon das Gefühl, irgend etwas stimmt nicht mit seinen Papieren, aber die Zeit ist knapp. Ich schüttele den Kopf.
„Hier nix Istanbul! Hier Deutschland! Nix Bakschisch! Verstehen?“
Der Türke wird blass, und ich suche in den Papieren nach dem Grund der Bestechung, aber ich finde nichts.
Also, ich musste ihm den Stempel geben. Erst nachmittags hatte ich Zeit und nahm die Mappe noch einmal unter die Lupe, und ich fand raus, weshalb dieser Gauner mich bestechen wollte.
Zwei Wochen Verspätung hatte er mit seiner Ummeldung. Das habe ich gleich für nächstes Jahr vorgemerkt.
Mein Lieber, dir geht’s gut, aber mir geht’s seitdem ich in diesem Amt bin, nicht mehr gut. Nicht einmal meine Frau versteht mich mehr. Sie sagt, ich rede mit ihr in gebrochenem Deutsch, vor allem, wenn ich wütend bin, das habe ich nun davon Herr Müller sprach an diesem Abend immer wieder den Barkeeper hörte nicht zu, ab und zu sagte er „Na ja“ oder „Was Sie nicht sagen!“ Er war sehr beschäftigt, sein Blick wanderte über die Gläser, er füllte immer wieder nach, stellte neue auf die Theke, kritzelte Striche auf die Bierdeckel. Auch wenn Herr Müller sein Glas geleert hatte, schenkte ihm der Barkeeper das nächste voll, kritzelte einen strich auf den Bierdeckel und sagte geistesabwesend: „Zum Wohl!“
2 Herr Rattke und Frau Sippel: Mitbewohner des Heimes