Erzählfiguren
Die wichtigen Bereiche der Charakterisierung
Der Autor stattet jede seiner Figuren – sie kommen in Romanausschnitten, Kurzprosa, Drama oder Lyrik vor – mit einer bestimmten Zahl von Merkmalen aus. Diese Eigenschaften müssen Sie bei der Analyse des Textes erkennen und abstrahierend darstellen.
Die Merkmale lassen sich in drei Gruppen einordnen:

Äußere Merkmale
- Körper
- Kleidung
- Gewohnheiten etc. verweisen u.U. auf charakterliche Merkmale

Innere Merkmale
- Verhaltensweisen
- Haltungen
- Beziehungen
- Auffassungen
- Gedanken
- Gefühle etc.

Soziale Merkmale
- Stand
- Milieu
- Beruf etc.verweisen ebenfalls u.U. auf innere Merkmale
Text links: „Heute hat wohl jeder eine Home Page“
Einschränkungen in Bezug auf die Eigenschaften, die man an einer Person charakterisieren soll, gibt in den meisten Fällen die Aufgabenstellung vor.
Erzählfiguren: Beziehungen
Figurenkonstellation
Bei der Charakterisierung von Personen geht es um eine einzelne Person.
Bei der Figurenkonstellation hingegen versucht man herauszubekommen, in welchem Verhältnis die Personen, die in dem Prosatext dargestellt werden, zueinander stehen und welche Beziehung zwischen ihnen existiert.
Dabei kommen viele verschiedene Faktoren in Betracht, die darauf Einfluss haben.
Z.B. muss man klären, ob sie sich hassen oder einander gleichgültig sind, ob einer von ihnen in einer überlegenen Position ist oder eher gehorchen muss, ob sie offen miteinander verkehren oder sich eher verstecken u.v.a.m.
Erzählfiguren: Beziehungen: Textvorlage
Vater-Sohn-Beziehung
Aufgaben:
Untersuchen Sie die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Fertigen Sie stichpunktartige Notizen an.
Denk immer an heut Nachmittag
von Gabriele Wohmann
„Eine halbe Stunde Fahrt auf der Hinterplattform“, sagte der Vater, „wieder was Schönes zum Drandenken.“
Die Bahn ruckelte durch die dunklen feuchten Gässchen von Gratte. Spätnachmittags, die Zeit, in der noch einmal alle Frauen ihre Einkaufstaschen zu den Krämern trugen, in die Auslagen der engen Schaufenster starrten und wie im Gebet die Lippen bewegten, während sie die Münzen in ihren klebrigen Portemonnaies zählten. Die letzten Minuten, bevor die Kinder endgültig hinter den schartigen Hausmauern verschwänden, ehe die Männer auf ihren Motorrädern in das Delta der Gassen donnern würden.
Das Kind hielt die Messingstange vor der Fensterscheibe fest, aber immer wieder rutschte die glatte Wolle seiner Handschuhe ab.
„Wie im Aussichtswagen. Lauter lustige Dinge“, sagte der Vater. „Du kannst immer dran denken: wie lustig war’s doch, als wir plötzlich bei Wickler im Fenster die Mannequins entdeckten und als der Vater sagte: schön, wir fahren eine Bahn später. Die hübschen Mannequins, weißt du’s noch?“
„Ja“, sagte das Kind. Sein Knie spürte den Koffer.
Die Bahn fuhr jetzt durch eine Straße mit eckigen unfrisierte Gärtchen, und Gratte sah nur noch wie ein dicker dunkler Pickel aus. Dann Bäume, die meisten noch kahl, eine Bank mit einem Mädchen, das die Fingernägel reinigte, gekrümmte nackte Kiefernstämme in sandigen Kahlschlägen.
„Der Wald von Laurich“, sagte der Vater, „er zieht sich bis zu deinem Schulheim. Ihr werdet ihn wahrscheinlich oft zu sehen bekommen, Spiele im Wald veranstalten, Schnitzelversteck und was weiß ich, Räuberspiele, Waldlauf.“
Ein fetter Junge auf dem Fahrrad tauchte auf und hetzte in geringem Abstand hinter der Bahn her. Sein schwitzendes bläuliches Gesicht war vom Ehrgeiz verunstaltet, die farblose dicke Zunge lag schlaff auf der Unterlippe. „Zunge rein“, rief der Vater und lachte. Ob er’s schafft? Was meinst du?“
„Ich weiß nicht“, sagte das Kind.
„Ach du Langweiler“, sagte der Vater.
Das Kind merkte mit einer geheimen Erregung, dass seine Augen jetzt schon wieder nass wurden; das Fahrrad, der hechelnde schwere Körper und das besessene Gesicht des jungen schwammen hinter der Scheibe.
Mit gekränkter Stimme sagte der Vater:
„Und vergiss nicht die Liebe deiner Mutter. Sie ist dein wertvollster Besitz. Präge es dir ein. Vergiss nicht, wie lieb sie dich hatte, und handle danach. Tu nur, was sie erfreut hätte. Ich hoffe sehr, du kannst das behalten.“
Immer größer wurde der Abstand zwischen dem Fahrrad und der Plattform, aber obwohl keine Aussicht mehr bestand, in diesem Wettbewerb zu gewinnen, gab der Junge nicht auf. „Siehst du“, sagte der Vater, der lässt nicht locker.“
Seine Stimme war stolz und fast zärtlich.
Das Kind sah in das fleckige Gesicht des Jungen, aus dem die Zunge sich plötzlich listig reckte, zugespitzt, blass zwischen den weißen verzogenen Lippen.
Der Vater lachte:
„Siehst du, jetzt streckt er dir die Zunge raus! Vielleicht ist es sogar ein Lauricher, ein zukünftiger Kamerad. Dann würdest du schon einen kennen.“
Sie sahen von der Plattform aus die hellgrün gestrichenen Gebäude vor dem Ulmenwäldchen, alles sah doch anders aus als auf den Bildern des Prospekts. Sie gingen zwischen Äckern den großen Gebäuden entgegen.
„Wie freundlich das daliegt“, sagte der Vater. „Zu meiner Zeit waren Schulen noch nicht so nett. Da, der Sportplatz! Ich hoffe sehr, du wirst hier allmählich Spaß am Sport bekommen. Richtige Muskeln, weißt du. Du musst sonst auf sehr viel Gutes im Leben eines Mannes verzichten.“
Ein hoher Drahtzaun umschloss den Platz. Eine Horde von Kindern, die aus der Entfernung einheitlich schwarz wirkte, rannte und stieß und schrie planlos durcheinander, und ab und zu erhob sich plump und dunkel ein eiförmiger Ball, einem kranken Vogel ähnlich, über die Masse der Köpfe.
„Komm“, sagte der Vater und griff nach der Hand des Kindes, „komm wir eilen uns ein bisschen, vielleicht können wir noch sehen, wer gewinnt.“
Durch die Handschuhwolle spürte das Kind den Wärmestrom. Es hatte Lust, den Handschuh auszuziehen, aber es regte seine Finger nicht. Von Neuem schwoll das Nasse in seinen Augen, es war ein Gefühl, als wollten die Augen selbst aus der Spange der Lider platzen. Das Nasse schmierte die Gebäude, den Sportplatz, das Gewimmel der Kinder in eine mattglasige Einheit, aus der jetzt der Ball wieder schwarz und träge in den Himmel aufstieg; und denn sah es nichts mehr, gar nichts, es hörte die kreischenden Rufe, los, los, vorwärts, es spürte die Hand seines Vaters und roch den fauligen dumpfen Abendgeruch der aufgeworfenen Erde, aber es sah nichts mehr, so dass es nur die Erinnerung an den hochtorkelnden Ball festhielt. Es ließ den Ball sich höher hinaufschrauben, es ließ ihn nicht wieder zurückfallen zwischen die stoßenden und wetzenden Beine, es schraubte ihn so hoch, bis es sich nicht mehr vorstellen konnte, dass er wieder auf die Erde zurück müsste.
„Behalte all das in Erinnerung“, sagte der Vater. „All das Schöne und Liebe, das deine Mutter und ich dir zu geben versucht haben. Und wenn’s mal trübe aussehen sollte, denk zum Beispiel an heut Nachmittag. Das war doch wie ein richtiger lustiger Ausflug. Denk immer an heut Nachmittag, hörst du? An alles, an die Wäffelchen, an Wicklers Schau, die Plattform, an den Jungen auf dem Fahrrad. Hörst du?“
„Ja“, sagte das Kind.
Gegen seinen Willen musste es feststellen, dass die Augen wieder ordentlich und klar zwischen den Lidern saßen.
Sie waren jetzt nah am Sportplatz, die quadratischen Maschen des Zaungitters lösten sich einzeln aus dem Dunkelgrau, in das wie eine gegorene, von Würmern geschwollene Pflaume der Ball zurückklatschte. Nun erst fiel ihm auf, dass es noch nie daran gedacht hatte, seinen Vater zu bedauern.
Gabriele Wohmann, „Ländliches Fest und andere Erzählungen“, Neuwied/Berlin 1968
Lösungen
Erzählfiguren: Verhalten
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Hierbei handelt es sich um einen Unteraspekt der Figurencharakterisierung.
In unserem Beispiel geht es darum, dass die geschiedenen Eltern sich ganz unterschiedlich um ihr gemeinsames Kind kümmern. Das Mädchen wohnt beim Vater, er besitzt somit das Sorgerecht und kümmert sich um den Lebensunterhalt. Die Mutter holt das Mädchen dann und wann zu sich, ohne sonderlich Abstriche von ihrem üblichen Tagesablauf zuzulassen. Die anschließende Aufgabenstellung verlangt einen Vergleich des Verhaltens der beiden Personen. Dazu notiert man zunächst auf dem Konzeptpapier, was der Text zu der Frage hergibt und wie sich die beiden Personen dem Mädchen gegenüber verhalten. Man fertigt also eine Art Teilcharakterisierung an.
Es reicht aber nicht, wenn man anschließend die Verhaltensweisen der beiden Person nacheinander beschreibt – das sollte auf dem Konzeptpapier bleiben. Vielmehr muss man die Gemeinsamkeiten und anschließend die Unterschiede im Umgang mit ihrer Tochter herausarbeiten.
Erzählfiguren: Verhalten: Textvorlage
Das Verhalten der Eltern
Aufgaben:
Vergleichen Sie das Verhalten der Eltern.
Das Blütenstaubzimmer
von Zoë Jenny
Als meine Mutter ein paar Straßen weiter in eine andere Wohnung zog, blieb ich bei Vater. Das Haus, in dem wir wohnten, roch nach feuchtem Stein. In der Waschküche stand eine Druckmaschine, auf der mein Vater tagsüber Bücher druckte. Immer, wenn ich vom Kindergarten nach Hause kam, ging ich zu ihm in die Waschküche, und wir stiegen gemeinsam in die Wohnung hinauf, wo wir unser Mittagessen kochten. Abends vor dem Einschlafen stand er neben meinem Bett und zeichnete mit einer glühenden Zigarette Figuren ins Dunkel. Nachdem er mir heiße Milch mit Honig gebracht hatte, setzte er sich an den Tisch und begann zu schreiben. Im rhythmischen Gemurmel der Schreibmaschine schlief ich ein, und wenn ich aufwachte, konnte ich durch die geöffnete Tür seinen Hinterkopf sehen, ein heller Kranz von Haaren im Licht der Taschenlampe, und die unzähligen Zigarettenstummel, die, einer neben dem anderen, wie kleine Soldaten den Tischrand säumten.
Da die Bücher, die mein Vater verlegte, nicht gekauft wurden, nahm er eine Stelle als Nachtfahrer an, damit er tagsüber weiterhin die Bücher drucken konnte, die sich erst im Keller und auf dem Dachboden und später überall in der Wohnung stapelten.
Nachts fiel ich in einen unruhigen Schlaf, in dem die Träume zerstückelt an mir vorbeischwammen wie Papierschnipsel in einem reißenden Fluss. Dann das klirrende Geräusch, und ich war hellwach. Ich blickte an die Decke zu den Spinnengeweben empor und wusste, dass mein Vater jetzt in der Küche stand und den Wasserkessel auf den Herd gesetzt hatte. Sobald das Wasser kochte, ertönte ein kurzes Pfeifen aus der Küche, und ich hörte, wie Vater den Kessel hastig vom Herd nahm. Noch während das Wasser tropfenweise durch den Filter in die Thermoskanne sickerte, zog der Geruch von Kaffee durch die Zimmer. Darauf folgten rasch gedämpfte Geräusche, ein kurzer Moment der Stille; mein Atem begann schneller zu werden und ein Kloß formte sich in meinem Hals, der seine volle Größe erreicht hatte, wenn ich vom Bett aus sah, wie Vater, in seine Lederjacke gehüllt, leise die Wohnungstür hinter sich zuzog. Ein kaum hörbares Klack, ich wühlte mich aus der Bettdecke und stürzte ans Fenster. Langsam zählte ich eins, zwei, drei; bei sieben sah ich, wie er mit schnellen Schritten die Straße entlangging, eingetaucht in das dumpfe Gelb der Straßenlaterne; bei zehn war er stets beim Restaurant an der Ecke angelangt, wo er abbog. Nach weiteren Sekunden, in denen ich den Atem anhielt, hörte ich den Motor des Lieferwagens, der laut ansprang, sich entfernend immer leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Dann lauschte ich in die Dunkelheit, die langsam, ein ausgehungertes Tier, aus allen Ecken kroch. In der Küche knipste ich das Licht an, setzte mich an den Tisch und umklammerte die noch warme Kaffeetasse. Suchte den Rand nach den braunen, eingetrockneten Flecken ab, das letzte Lebenszeichen, wenn er nicht mehr zurückkehrte. Allmählich erkaltete die Tasse in meinen Händen, unaufhaltsam drang die Nacht herein und breitete sich in der Wohnung aus. Sorgfältig stellte ich die Tasse hin und ging durch den schmalen hohen Gang in mein Zimmer zurück.
Vor dem Fensterrechteck, aus dem ich zuvor meinen Vater beobachtet hatte, hockte jetzt das Insekt, das mich böse anglotzte. Ich setzte mich auf die äußerste Kante des Bettes und ließ es nicht aus den Augen. Jederzeit konnte es mir ins Gesicht springen und seine knotigen, pulsierenden Beine um meinen Körper schlingen. In der Mitte des Zimmers tobten Fliegen um die Glühbirne. Ich starrte in das Licht und auf die Fliegen, und aus den Augenwinkeln beobachtete ich das Insekt, das schwarz und regungslos vor dem Fenster kauerte.
Nach und nach wickelte mich Müdigkeit ein wie warmes Fell. Ich strengte mich an, zwischen den nur noch halb geöffneten Augenlidern die einzelnen Fliegen zu unterscheiden, doch sie schlossen sich mehr und mehr zu einem in der Luft schwirrenden Kreis. Das Insekt kicherte und ich spürte seine Fühler langsam über den Boden auf meine vom Bett hängenden Füße zukriechen. Ich rannte in die Küche und hielt den Kopf unter das kalte Wasser. Meine Blase war angeschwollen und schmerzte. Ich traute mich nicht, auf die Toilette zu gehen, die auf dem Zwischenstock lag, weil das Licht im Treppenhaus nach kurzer Zeit ausging. Ich spürte das Insekt, das sich in meinem Zimmer regte und nur darauf wartete, mich im dunklen Treppenhaus zu überfallen. In der Küche auf und ab gehend, begann ich die Lieder vor mich hin zu summen, die wir im Kindergarten gelernt hatten. Nur wenige Lieder konnte ich auswendig, weshalb ich sie immer wieder anders zusammensetzte. Mit dem Anschwellen des Schmerzes in der Blase wurde auch meine Stimme lauter, von der ich inständig hoffte, sie trüge mich aus meinem Körper hinaus. Schließlich blieb ich vor dem Küchenschrank stehen und pinkelte in ein Gefäß, das ich zwischen die Beine klemmte. Sobald das Morgenlicht durch das Küchenfenster schimmerte, zog sich das Insekt in seine ferne Welt zurück. Die Dunkelheit wurde langsam verschluckt. Erschöpft ging ich in mein Zimmer zurück und wühlte mich in die Bettdecke. Um sieben Uhr läutete das Telefon. Es war Vater, der mich von unterwegs anrief, um mich zu wecken.
Die Sonntage verbrachte ich bei meiner Mutter. Abends stand sie mit aufgestecktem Haar vor dem großen Spiegel und fuhrwerkte mit Stiften und Schwämmchen in ihrem Gesicht herum. Ich reichte ihr die Döschen und Fläschchen, die auf dem Fensterbrett standen und schraubte die wertvoll aussehenden Blumen und tropfenförmigen Verschlüsse von den Parfümflaschen. Sobald der Babysitter kam, löste sie ihr Haar, das sich braun und duftend über ihrem Rücken auffächerte, und verschwand in die Nacht hinaus. Später weckte mich ihr Wimmern aus dem Schlaf, und ich tastete mich im Dunkeln zu ihrem Bett. Sie lag unter der farbigen Blumendecke, geschüttelt von mir unbegreiflichen geheimnisvollen Schmerzen. Von ihrem Gesicht sah ich nur ein Dreieck aus Nasenspitze und Mund, der Rest lag unter ihren weißen Händen begraben. Nach einer Weile schlug sie die Decke zurück, und ich kroch hinein in das salzigwarme Bett.
Einmal in der Woche holte sie mich mittags von der Schule ab. Von weitem sah ich sie neben dem Eisentor stehen, und ich rannte über den Schulhof auf sie zu. Sie nahm mich an der Hand und wir gingen zusammen in die Stadt. In den Umkleidekabinen, die nach Schweiß und Plastik rochen, packte sie einige Kleider in die große Schultertasche, die anderen legte sie wieder in die Regale zurück. Sobald sie an der Kasse ein Paar Socken oder ein T-Shirt bezahlt hatte, streichelte sie meinen Kopf, wie man frischgeborene Kätzchen streichelt, und die Verkäuferinnen, die uns durchs Schaufenster nachschauten, klatschten entzückt in die Hände. Das waren Tage, an denen es haufenweise Schokoladenkuchen gab und das Gesicht meiner Mutter weich und fröhlich war. Im Restaurant, während ich aus einem Trinkhalm meinen Sirup schlürfte, griff meine Mutter immer wieder in die Tasche, nach dem Stoff, ihr Mund stand leicht offen, und die Augen waren riesengroß, als sei es kaum zu ertragen, und ich wusste, sie war glücklich. Zu Hause entfernte sie mit der Schere die Preisetiketten von den Kleidern, hängte sie sorgfältig an den Kleiderständer und rollte ihn langsam mit dem erhobenen Kopf einer Königin, die vor ihr Reich tritt, ins Zimmer.
Immer wieder wartete ich nach Schulschluss stundenlang vor dem Eisentor auf sie. Aber sie kam nicht mehr. Ich fragte Vater, ob mit ihr etwas geschehen sei, aber er schüttelte den Kopf und schwieg.
Doch nach einigen Wochen stand sie wieder da, küsste mich aufs Haar und hieß mich ins Auto steigen. Diesmal fuhren wir nicht in die Stadt, und ich freute mich. Sie parkte an einem Waldweg. Ich übersprang die Lücken zwischen den Zacken, die die Räder eines Traktors in die von der Hitze brüchige Erde gestoßen hatten. Das helle Kleid meiner Mutter bauschte sich wolkig um ihren Körper, und ich ahnte, dass sie gleich etwas Wichtiges sagen würde. Aber sie schwieg den ganzen Weg, bis die Spuren des Traktors immer undeutlicher wurden und wir auf einer Wiese standen. Meine Mutter legte sich hin, ich legte mich neben sie auf die trockene Erde und spürte neben mir ihren glatten, pochenden Hals. Sie sagte, dass sie einen Mann, Alois, getroffen habe, den sie liebe, so wie sie einmal meinen Vater geliebt habe, und dass sie mit ihm fortgehen werde, für immer. Überall, wo ich hinsah, waren diese gelben und roten Blütenköpfe, die einen Duft ausströmten, der mich schwindlig und müde machte. Ich drehte mich zur Seite, das Ohr auf den Boden gepresst, hörte ich ein Summen und Knistern, als bewege sich da etwas tief unter der Erde, während ich ihren weit entfernten Mund weiterreden sah und ihre Augen, die in den Himmel schauten, der wie eine greifbare blaue Scheibe über uns schwebte.
Zoë Jenny, Das Blütenstaubzimmer, Frankfurt 1999
Lösungen
Erzählfiguren: Gesprächsverhalten
Charakterisierung und Figurenkonstellation
Auch hierbei handelt es sich um eine Variante der Figurencharakterisierung, die man aber mit Elementen der Figurenkonstellation ergänzen muss.
In dem Auszug aus dem Roman „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada treffen ein abhängig beschäftigter Verkäufer namens Pinneberg
und ein Schauspieler, der nach passender Kleidung für eine Filmrolle sucht, aufeinander.
Im Verhältnis zwischen den beiden Erzählfiguren zeigt sich die Überlegenheit des Stars aufgrund seiner Berühmtheit; der Verkäufer hingegen ist unbedeutend, „ein kleiner Mann“, befindet sich in einer dienenden Rolle und bewundert den Schauspieler.
Aus einer gewissen Vertraulichkeit ergibt sich etwas Ähnliches wie ein Bekanntschaftsverhältnis, das jäh enttäuscht wird. Pinneberg bricht aus seiner Rolle aus und verlangt von dem Schauspieler, sich so mitfühlend zu verhalten, wie er es in einer Filmrolle vorführt hat.
Erzählfiguren: Gesprächsverhalten: Textvorlage
Der kleine Angestellte und der Star
Aufgaben:
Arbeiten Sie heraus, wie das Verhältnis zwischen Schlüter und Pinneberg deren Gesprächsverhalten beeinflusst.
Vorbemerkung: Die Handlung spielt während der Wirtschaftskrise in Deutschland zu Beginn der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Pinneberg hat eine Stelle als Verkäufer in einem Herrenbekleidungsgeschäft. Er ist verzweifelt, weil er keine Aussicht mehr sieht, die erforderliche Verkaufsquote für den zu Ende gehenden Monat zu erreichen.
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Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada |
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Und eilig geht Jänecke an die Seite, denn nun kommt ein Herr, der wie ein Käufer aussieht, ein Herr mit einem ausdrucksvollen Gesicht, mit einem direkt markanten Gesicht. Nein, dieser Herr kam doch kein Käufer sein, das ist ein Maßschneideranzug, den er trägt. Der kauft keine Konfektion.
Aber der Herr geht stracks auf Pinneberg zu – und Pinneberg grübelt, woher er den Herrn kennt, denn er kennt ihn, nur hat der Herr damals ganz anders ausgesehen -, und der Herr sagt zu Pinneberg und fasst die Krempe seines Hutes an: „Ich grüße Sie, mein Herr! Ich grüße Sie! Darf ich fragen, sind Sie im Besitz einiger Phantasie?“
Eine eindrucksvolle Sprache hat der Herr, er rollt das R, auch dämpft er nicht sein Organ, er scheint unempfindlich dagegen, dass auch andere zuhören können.
„Phantasiestoffe“, sagt Pinneberg beklommen. „Im zweiten Stock.“
Der Herr lacht, er lacht ein scharf akzentuiertes Ha-ha-ha, sein ganzes Gesicht, der ganze Mensch lacht, und dann schweigt er wieder, mit einem Ruck ist er nur noch ausdrucksvoll und sonor.
„Dies nun nicht“, spricht der Herr. „Ich frage Sie, ob Sie im Besitz von Phantasie seien? Wenn Sie beispielsweise diesen Schrank mit den Hosen betrachten, können Sie sich darauf sitzend und singend einen Stieglitz vorstellen?“
„Schlecht“, sagt Pinneberg kümmerlich lächelnd, und grübelt: woher kennst du diesen verrückten Hund? Der gibt doch nur an!
„Schlecht“, sagt der Herr. „Das ist übel. Nun, mit Vögeln haben Sie in Ihrer Branche wohl auch weniger zu tun?“ Er lacht wieder sein scharfes Ha-ha-ha.
Und Pinneberg lächelt mit, trotzdem er jetzt ängstlich wird. Verkäufer dürfen sich nicht veräppeln lassen, sanft, aber sicher müssen sie solch betrunkenen Menschen loswerden. Hinter dem Mantelaufbau steht noch immer Herr Jänecke.
„Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragt Pinneberg.
„Dienen!“ deklamiert der andere verächtlich. „Dienen! Niemand ist niemandes Diener! Aber – ein anderes. Stellen Sie sich vor, zu Ihnen kommt ein Jüngling, aus der Ackerstraße (1) sagen wir, mit haushoher Marie (2) und wünscht sich einzupuppen bei Ihnen, vom Kopf bis zum Scheitel auf neu -, können Sie mir wohl sagen, können Sie sich wohl denken, welche Sachen dieser Jüngling wählen würde?“
„Das kann ich mir gut denken“, sagt Pinneberg. „Sowas kommt bei uns manchmal vor.
„Sehen Sie“, sagt der Herr. „Man muss den Mut nicht gleich unter den Scheffel stellen! Sie haben also Phantasie! Welche Stoffe etwa würde ein solcher Jüngling aus der Ackerstraße wählen?“
„Möglichst helle, auffallende“, sagt Pinneberg bestimmt. „Großkariert. Sehr weite Hosen. Die Jacketts möglichst auf Taille. Ich müsste Ihnen das mal zeigen …“
„Ausgezeichnet“, lobt der andere. „Ganz ausgezeichnet. Und zeigen sollen Sie mir das jetzt. Dieser junge Mann aus der Ackerstraße hat wirklich sehr viel Geld und will sich völlig neu einpuppen.“
„Bitte …“ sagt Pinneberg.
„Einen Augenblick“, sagt der andere und hebt die Hand. „Damit Sie sich ein Bild machen. Sehen Sie, so kommt der Jüngling aus der Ackerstraße zu Ihnen…“
Der Herr sieht ganz verändert aus. Es ist ein freches, lasterhaftes Gesicht, das er zur Schau trägt. Aber es ist ein feiges, angstvolles Gesicht dabei, die Schultern sind eingezogen, der Hals zu kurz geworden -: ist irgendwo in der Nähe der Gummiknüppel eines Polizisten?
„Und nun so, wenn er den guten Anzug am Leib hat …“
Urplötzlich hat sich das Gesicht verändert. Ja, noch ist es frech und schamlos, aber die Blume wendet sich zum Licht, die Sonne ist aufgegangen, eine strahlende Sonne. Man kann auch nett sein, man kann es sich leisten, es kommt nicht darauf an.
„Sie sind“, ruft Pinneberg atemlos, „Sie sind Herr Schlüter! Ich habe Sie im Film gesehen! Oh, Gott, dass ich das nicht gleich gemerkt habe!“
Der Schauspieler ist sehr befriedigt! „Na also! In welchem Film haben Sie mich denn gesehen?“
„Wie hieß er doch? Wissen Sie, Sie haben einen Bankkassierer gemacht, und Ihre Frau denkt, Sie unterschlagen Geld für sie, und in Wirklichkeit gibt es Ihnen der Volontär, der ist Ihr Freund …“
„Die Handlung kenne ich schon“, sagt der Schauspieler. „Also hat es Ihnen gefallen? Schön. Und was von mir hat Ihnen am besten gefallen?“
„Wissen Sie, so viel … Aber vielleicht war doch am schönsten, wissen Sie, wie Sie an den Tisch zurückkommen, Sie sind auf der Toilette gewesen …“
Der Schauspieler nickt.
„Und unterdessen hat der Volontär Ihrer Frau erzählt, Sie haben gar kein Geld unterschlagen, und die lachen Sie aus. Und plötzlich werden Sie ganz klein und fallen zusammen, schrecklich ist das. –
„So, das war das Schönste. Und warum war es das Schönste?“ fragt der Schauspieler unersättlich weiter.
„Weil -, ach, wissen Sie, es war mir so, bitte lachen Sie nicht, es war so wie wir. Verstehen Sie, uns kleinen Leuten geht es nicht sehr gut jetzt, und manchmal ist es so, als grinste uns alles an, das ganze Leben, verstehen Sie, und man wird so klein …“
„Die Stimme des Volkes“, sagt der Mime. „Aber jedenfalls ehrt es mich ungemein, Herr – wie ist doch Ihr Name?“
„Pinneberg.“
„Die Stimme des Volkes, Pinneberg. Also schön, Mann, und nun gehen wir zum Einst des Lebens über und suchen den Anzug aus. Was die mir im Fundus (3) gezeigt haben, ist alles Quatsch. Nun werden wir sehen…“
Und sie sehen. Eine halbe Stunde, eine Stunde wühlen sie in den Sachen. Berge häufen sich, Pinneberg ist nie so glücklich gewesen, Verkäufer zu sein.
„Sehr gut der Mann“, brummt der Schauspieler Schlüter von Zeit zu Zeit. Er ist ein geduldiger Anprobierer, die fünfzehnte Hose, in die er fährt, ist ihm noch nicht zuviel, er sehnt sich schon nach der sechzehnten.
„Sehr gut der Mann Pinneberg“, brummt er.
Schließlich sind sie durch, schließlich haben sie alles angesehen und probiert, was nur irgend wie für den Jüngling aus der Ackerstraße in Frage kommen kann. Pinneberg ist selig, Pinneberg hofft, dass Herr Schlüter vielleicht noch mehr nehmen wird als den einen guten Anzug, vielleicht noch den rotbraunen Mantel mit den lila Karos. Pinneberg fragt atemlos: „Und was darf ich nun aufschreiben, Herr Schlüter?“
Der Schauspieler Schlüter zieht die Brauen hoch. „Aufschreiben? Ja, wissen Sie, ich wollte eigentlich nur mal sehen. Kaufen tu ich es natürlich nicht. Machen Sie nicht so ein Gesicht. Sie haben ein bisschen Arbeit gehabt davon. Ich schicke Ihnen Karten für die nächste Premiere. Haben Sie eine Braut? Ich schicke Ihnen zwei Karten.“
Pinneberg sagt eilig und leise: „Herr Schlüter, ich bitte Sie, bitte, kaufen Sie die Sachen! Sehen Sie, Sie haben so viel Geld, Sie verdienen so viel, bitte kaufen Sie! Wenn Sie jetzt weggehen und haben nichts gekauft, dann heißt es, ich habe die Schuld, und dann werde ich entlassen.“
„Sie sind ja komisch,“ sagt der Schauspieler. „Wie komme ich denn dazu, die Sachen zu kaufen? Ihretwegen? Wer schenkt denn mir was?“
„Herr Schlüter!“ sagt Pinneberg, und seine Stimme wird lauter. „Ich hab Sie im Film gesehen, Sie haben das gespielt, den armen kleinen Mann. Sie wissen wie unsereinem zumute ist. Sehen Sie, ich habe auch Frau und Kind. Das Kind ist noch ganz klein, es ist jetzt noch so fröhlich; wenn ich entlassen werde … !“
„Ja, mein lieber Gott“, sagt Herr Schlüter, „das sind ja eigentlich Ihre Privatsachen. Ich kann doch nicht Anzüge, die ich nicht brauchen kann, darum kaufen, damit Ihr Kind fidel ist.“
„Herr Schlüter!“ fleht Pinneberg. „Tun Sie es mir zuliebe. Ich habe eine Stunde mit Ihnen verhandelt. Kaufen Sie wenigstens den einen Anzug. Es ist reiner Cheviot, der trägt sich, Sie werden zufrieden sein …'“
„Nun hören Sie aber allmählich auf“, sagt Herr Schlüter, „das wird langweilig, dieses Affentheater.“
„Herr Schlüter“, bittet Pinneberg und legt die Hand auf den Arm des Schauspielers, der gehen will, „wir haben von der Firma eine Quote, wir müssen für soundsoviel verkaufen sonst werden wir entlassen. Mir fehlen noch fünfhundert Mark. Bitte, bitte, kaufen Sie was. Sie wissen doch, wie uns zumute ist! Sie haben es doch gespielt!“
Der Schauspieler nimmt die Hand des Verkäufers von seinem Arm. Er sagt sehr laut: „Hören Sie mal, Jüngling, das verbitte ich mir, dass Sie mich hier anfassen. Das geht mich einen Dreck an, was Sie mir da erzählen.“
Plötzlich ist Herr Jänecke da, jawohl, nun kommt er. „Bitte sehr! Ich bin der Abteilungsleiter.“
„Ich bin der Schauspieler Franz Schlüter …“
Herr Jänecke verbeugt sich.
„Komische Verkäufer haben Sie hier. Die notzüchtigen einen ja, damit man Ihnen Ihr Zeug abkauft. Der Mann behauptet, Sie zwingen ihn dazu. Man müsste darüber schreiben in den Zeitungen, das sind ja Erpressermethoden…“
„Der Mann ist ein ganz schlechter Verkäufer“, sagt Herr Jänecke. „Er ist schon mehrfach verwarnt. Ich bedaure außerordentlich, dass Sie gerade an ihn geraten sind. Wir werden den Mann nun entlassen, er ist unbrauchbar.“
„Das ist ja nun nicht gerade nötig, mein lieber Herr, das verlange ich gar nicht. Allerdings hat er mich angefasst …“
„Er hat Sie angefasst? Herr Pinneberg, gehen Sie sofort auf das Personalbüro und lassen Sie sich Ihre Papiere geben. – Und was das Geschwätz mit der Quote anlangt Herr Schlüter, alles gelogen! Gerade vor zwei Stunden habe ich diesem Herrn erst gesagt, wenn er’s nicht schafft, schafft er’s eben nicht, das ist nicht so schlimm. Ein unfähiger Mann, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Schlüter.“ Pinneberg steht da und sieht den beiden nach.
Er steht da und sieht ihnen nach.
Alles, alles ist zu Ende.
Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?, Hamburg 1994
Erklärungen:
(1) wohl ein Rotlichtbezirk
(2) viel Geld
(3) Sammlung von Kostümen und Kulissen in einem Theater
