Der Roman

Aufgaben des Romans     

Der Roman ist eine Form der Epik. Er soll hier stellvertretend für die anderen epischen Großformen  (Erzählung, Novelle) etwas genauer betrachtet werden.

Aufgaben:

Beschreiben Sie die Funktion, die der Roman nach Auffassung von Fontane erfüllen soll.

Theodor Fontane: „Was soll ein Roman?

„Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung  alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete und uns förderte, klärte und belehrte. Das etwa soll ein Roman. (…)

Was soll ein moderner Roman? Welche Stoffe hat er zu wählen? Ist ein Stoffgebiet unbegrenzt? Und wenn nicht, innerhalb welcher räumlich und zeitlich gezogenen Grenzen hat er am ehesten Aussicht, sich zu bewähren und die Herzen seiner Leser zu befriedigen? Für uns persönlich ist diese Fragenreihe entschieden. Der Roman soll ein Zeitbild sein, ein Bild seiner Zeit.“

Theodor Fontane: „Was soll ein Roman?“

Der Romanschreiber sollte eine von ihm erdachte bzw. erfundene Welt so darstellen, dass der Leser sie als Wirklichkeit ansehen könnte. Dabei sollen auch die Gefühle angesprochen werden.

Im modernen Roman sollen, so Fontane, die Stoffe so gestaltet werden, dass es ein treffendes Bild der jeweiligen Zeitumstände ergibt, in denen die Handlung spielt.

Roman: Erzählperspektiven

Autor ist nicht gleich Erzähler

Der Erzähler im Roman ist fiktiv. Er darf deshalb nicht mit dem wirklichen Autor verwechselt werden. Heinrich Böll ist in seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ nicht der Clown Hans Schnier und Günther Grass ist nicht  geistig krank, wenn er Oskar Mazerath in der „Blechtrommel“ sagen lässt: „Zugegeben. Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.“

Der Autor erfindet einen Erzähler. Dieser kann uns in den Romanen in drei Formen begegnen. Das epische Geschehen wird dabei jeweils aus einer anderen Perspektive erzählt (im nachfolgenden Schaubild blau gezeichnet):

Goethe nimmt als Erzähler in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ die Position des Allwissenden ein.
Das Schauspiel dauerte sehr lange. Die alte Barbara trat einigemal ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln wollten. Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin, die heute im Nachspiele, als junger Offizier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer Ungeduld als sonst, wenn sie ihr nur ihr mäßiges Abendessen vorzusetzen hatte; diesmal sollte sie mit einem Paket überrascht werden, das Norberg, ein junger reicher Kaufmann, mit der Post geschickt hatte, um zu zeigen, dass er auch in der Entfernung seiner Geliebten gedenke.

In der unterstrichenen Passage zeigt sich der Erzähler als allwissender Kenner der ganzen Umstände.

Der Ich-Erzähler „Benjamin“ ist Teil der Welt des Romans:

„Hier soll ich also bleiben. Wenn möglich bis zum Abitur. Das ist der Vorsatz. Ich stehe auf dem Parkplatz des Internats Schloß Neuseelen und schaue mich um. Meine Eltern stehen neben mir. Sie haben mich hierher gebracht. Vier Schulen habe ich nun hinter mir. Und diese hier soll meine fünfte werden. Diese fünfte soll es dann schaffen, aus meinem verfluchten Mathematik-Sechser einen Fünfer zu machen. Ich freue mich schon darauf. …“

Die Romanfigur berichtet das Geschehen aus ihrer „Insider-Perspektive“.

Der Leser erlebt die Handlung in A. Anderschs Roman „Sansibar und der letzte Grund“ aus dem Blickwinkel verschiedener beteiligter Personen:

Der Junge
Der Mississippi wäre das Richtige, dachte der Junge, auf dem Mississippi konnte man einfach ein Kanu klauen und wegfahren, wenn es stimmte, was im Huckleberry Finn stand. Auf der Ostsee würde man mit einem Kanu nicht sehr weit kommen, ganz abgesehen davon, dass es an der Ostsee nicht mal schnelle wendige Kanus gab, sondern nur olle schwere Ruderboote. …

Gregor
Es ist möglich, dachte Gregor, vorausgesetzt, man ist nicht bedroht, die licht stehenden Kiefern als Vorhang anzusehen. Etwa so: offen sich darbietende Konstruktion aus hellen Stangen, von denen mattgrüne Fahnen unterm grauen Himmel regungslos wehten, bis sie sich in der Perspektive zu einer Wand aus flaschenglasigem Grün zusammenschlossen. …

Helander
Knudsen würde helfen, dachte Pfarrer Helander, Knudsen war nicht so. Er trug nicht nach. Gegen den gemeinsamen Feind würde er helfen. …

Der Leser erlebt die Vorgänge aus dem Blickwinkel dieser drei Beteiligten. Das beschriebene Geschehen setzt sich also aus den unterschiedlichen Sichtweisen des Jungen, Gregors und Helanders zusammen.

Übung

Erzählperspektiven

Arbeitsauftrag: Klicken Sie die richtige Lösung an.

Roman: Personenrede

Mitteilung von Gedanken einer Figur

Der Leser kann an
Erinnerungen, Vermutungen, Selbstgesprächen etc. einer Person teilhaben.

In literarischen Werken kann die Teilnahme an den Gedanken verschiedene Formen annehmen:

1. Die direkte Rede
Beispiel: Sie fragte sich: „Hat er mich wohl bemerkt?“

2. Die indirekte Rede
Beispiel: Sie fragte sich, ob er sie wohl bemerkt habe.

3. Innerer Monolog
Hierunter versteht man eine Art Selbstgespräch, an dem der Leser teilnimmt.
Der innere Monolog steht in direkter Rede.

Beispiel: „Wird sie mich anhören, wenn ich ihr meine Geschichte erzähle?“

4. Erlebte Rede
Die Gedanken einer Erzählfigur werden in Er-Form wiedergegeben.

Beispiel: Hatte Hans es vergessen, fiel es ihm erst jetzt wieder ein, dass sie bis heute
Mittag ein wenig zusammen spazieren gehen wollten? Und er selbst hatte
sich seit der Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut.
(Thomas Mann: Tonio Kröger)

Roman: Zeitdarstellung

Zeitraffung, Zeitdeckung und Zeitdehnung

Beim Erzählen eines Vorganges will der Autor nicht den gesamten Sachverhalt exakt darstellen, sondern er gibt seinen Lesern nur das preis, was für seine Aussageabsicht notwendig ist.

Dabei kann es notwendig sein, bei einer Sache länger zu verweilen, andere Ereignisse hingegen können raffend zusammengefasst oder gar weggelassen werden. Durch dieses Verweilen, Raffen und Weglassen wird der Stoff durch den Autor neu gestaltet und aus der Monotonie des kontinuierlichen Ablaufes herausgerissen. Die künstlerische Gestaltung durch den Autor schafft eine bestimmte Spannung zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit.

Zeitdarstellung: Beispiel

Die Zeitdarstellung im Roman

Aufgaben:

Bestimmen Sie durch den Vergleich von erzählter Zeit und Erzählzeit die Erzählweise, die Patrick Süßkind in seinem Roman „Das Parfüm“ in den beiden Textausschnitten verwendet.

Im nachfolgenden Textauszug schildert Patrick Süskind die Geburt des Riechgenies Grenouille im Paris des achzehnten Jahrhunderts:

„Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei über dem Friedhof und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Horn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am Morgen aus der Saine gezogen, stanken bereits so sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch überdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tötete alle Empfänglichkeit für äußere Sinneseindrücke. (…) Und als die Preßwehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon viermal zuvor, und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unerträgliches, Betäubendes – wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zuviel Narzissenstehen – , wurde sie ohnmächtig, kippte zur Seite, kippte unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das Messer in der Hand.
Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei. Immer noch liegt die Frau mit dem Messer in der Hand auf der Straße, langsam kommt sie zu sich.
Was ihr geschehen sei?
„Nichts.“
Was sie mit dem Messer tue?
„Nichts.“
Woher das Blut an ihren Röcken komme?
„Von den Fischen.“
Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
Da fängt,  wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwarm von Fliegen und zwischen Gekröse und abgeschlagenen Fischköpfen das Neugeborene, zerrt es heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie geständig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit den vier anderen getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindsmords und schlägt ihr ein paar Wochen später auf der Place de Greve den Kopf ab.“
(…)

Grenouille verfolgt eine Duftspur und gelangt schließlich zu einem wunderschönen Mädchen, von dessen Geruch er betört ist, als er plötzlich vor ihm steht:

„Für einen Moment war er so verwirrt, daß er tatsächlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Schönes gesehen wie dieses Mädchen. Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte natürlich, er habe noch nie etwas so Schönes gerochen. Aber da er doch Menschengerüche kannte, viele Tausende, Gerüche von Männern, Frauen, Kindern, wollte er nicht begreifen, dass so ein exquisiter Duft einem Menschen entströmen konnte. Üblicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, Männer urinös, nach scharfem Schweiß und Käse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen … Und so geschah es, dass Grenouille das erste Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsächlich nur ein Augenblick, den er benötigte, um sich optisch zu vergewissern und sich alsdann desto rückhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinnes hinzugeben. Nun roch er, daß sie ein Mensch war, roch den Schweiß ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und roch mit dem größten Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie der Meerwind, der Talg ihrer Haare so süß wie Nußöl, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblüte … , und die Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfüm so reich, so balanciert, so zauberhaft, daß alles, was Grenouille bisher an Parfüms gerochen, alles, was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebäuden spielerisch erschaffen hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Düfte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das höhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die anderen ordnen mussten. Er war die reine Schönheit.
Für Grenouille stand fest, daß ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Verästelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn genügte nicht. Er wollte wie mit einem Prägestempel das apotheotische Parfüm ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen.
Er ging langsam auf das Mädchen zu.( …)“

Patrick Süskind: Das Parfüm, Zürich 1985

Lösungen

Verhältnis von erzählter Zeit zur Erzählzeit in „Das Parfüm“

Im nachfolgenden Textauszug schildert Patrick Süskind die Geburt des Riechgenies Grenouille im Paris des achtzehnten Jahrhunderts:
„Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei über dem Friedhof und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Horn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am Morgen aus der Saine gezogen, stanken bereits so sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch überdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tötete alle Empfänglichkeit für äußere Sinneseindrücke. (…) Und als die Preßwehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon viermal zuvor, und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unerträgliches, Betäubendes – wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zuviel Narzissenstehen – , wurde sie ohnmächtig, kippte zur Seite, kippte unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das Messer in der Hand.
Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei. Immer noch liegt die Frau mit dem Messer in der Hand auf der Straße, langsam kommt sie zu sich.
Erzählzeit

ist kürzer als

erzählte Zeit

     Was ihr geschehen sei?
„Nichts.“
Was sie mit dem Messer tue?
„Nichts.“
Woher das Blut an ihren Röcken komme?
„Von den Fischen.“
Erzählzeit

=

erzählte Zeit

Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
Da fängt,  wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwarm von Fliegen und zwischen Gekröse und abgeschlagenen Fischköpfen das Neugeborene, zerrt es heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie geständig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit den vier anderen getan hat, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindsmords und schlägt ihr ein paar Wochen später auf der Place de Greve den Kopf ab.“
(…)
Erzählzeit

ist kürzer als

erzählte Zeit


Grenouille verfolgt eine Duftspur und gelangt schließlich zu einem wunderschönen Mädchen, von dessen Geruch er betört ist, als er plötzlich vor ihm steht:
„Für einen Moment war er so verwirrt, daß er tatsächlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Schönes gesehen wie dieses Mädchen. Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte natürlich, er habe noch nie etwas so Schönes gerochen. Aber da er doch Menschengerüche kannte, viele Tausende, Gerüche von Männern, Frauen, Kindern, wollte er nicht begreifen, dass so ein exquisiter Duft einem Menschen entströmen konnte. Üblicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, Männer urinös, nach scharfem Schweiß und Käse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen … Und so geschah es, dass Grenouille das erste Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsächlich nur ein Augenblick, den er benötigte, um sich optisch zu vergewissern und sich alsdann desto rückhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinnes hinzugeben. Nun roch er, daß sie ein Mensch war, roch den Schweiß ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und roch mit dem größten Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie der Meerwind, der Talg ihrer Haare so süß wie Nußöl, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblüte … , und die Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfüm so reich, so balanciert, so zauberhaft, daß alles, was Grenouille bisher an Parfüms gerochen, alles, was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebäuden spielerisch erschaffen hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Düfte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das höhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die anderen ordnen mussten. Er war die reine Schönheit.
Für Grenouille stand fest, daß ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Verästelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn genügte nicht. Er wollte wie mit einem Prägestempel das apotheotische Parfüm ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen.“
Erzählzeit

ist länger als

erzählte Zeit

Roman: Handlung und Zeit

Linearer Handlungsablauf und Aufsplitterung von Zeit und Handlung

Die realen, chronologischen Ereignisse  werden vom Dichter umgestaltet. Manches wird zusammengefasst oder weggelassen, anderes hingegen beschreibt er mit großer Liebe zum Detail.

Die erzählten Ereignisse werden aus dem Bezugssystem der objektiven Zeit gelöst und in ein neues, innerliterarisches Bezugssystem gestellt.

Die Art, wie die durch den Dichter erzählten Handlungsabläufe in die erzählte Zeit eingebettet werden, hat sich im Laufe der Zeit geändert. Zwei Grundtypen lassen sich unterscheiden:

Linearer Ablauf der Ereignisse in der traditionellen Erzählkunst:

Ein Hauptmerkmal der traditionellen Erzählweise liegt darin, dass die dargestellte Handlung chronologisch, d.h. linear erzählt wird (… und dann … und dann …).

Einzelne Episoden der Handlung werden in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes aneinander gefügt. Einschübe aller Art (Milieu- und Naturschilderungen, Reflexionen, Parallelhandlungen) können den Handlungsablauf wohl stauen, aber nicht aufheben.

Variante 1

Ein Handlungsstrang wird chronologisch erzählt. Erzähler und Leser schreiten gemeinsam von Ereignis zu Ereignis:

Variante 2

Trennen sich an einem Punkt die Lebenswege mehrerer Hauptfiguren, so kann die Erzählung alternierend vorrücken:

Die Erzählweise mit linearer Zeitdarstellung setzt eine auktoriale Erzählhaltung voraus.

Aufsplitterung von Zeit und Handlung in der modernen Erzählkunst:

In modernen Romanen wird häufig auf ein kontinuierlich fortschreitendes Handlungsgefüge verzichtet. Die Fabel (Handlung) wird in kaleidoskopartige Bildfolgen aufgesplittert, in scheinbar zusammenhanglose Bruchstücke. Diese können die Aufgabe haben, einen Gesamtvorgang analytisch in seine Einzelelemente zu zerlegen. Dadurch wird die Bauform geprägt:

Das Geschehen wird z.B. in den einzelnen Kapiteln aus einer Vielzahl von Einzelperspektiven betrachtet, die zeitlich nicht geordnet angeführt werden. Hier schlagen sich subjektive Empfindungen einzelner Personen, Gefühle, Eindrücke, Erinnerungen, Assoziationen etc. nieder, die gemischt in der Vergangenheit,  Gegenwart und Zukunft liegen können.

Statt des vom auktorialen  Erzähler gestifteten chronologischen Zusammenhanges treten hier vielfache  Brechungen der personalen Erzählperspektive (von Einzelbild zu Einzelbild) zu Tage.