Erzählfiguren: Beziehungen

Figurenkonstellation

Bei der Charakterisierung von Personen geht es um eine einzelne Person.

Bei der Figurenkonstellation hingegen versucht man herauszubekommen, in welchem Verhältnis die Personen, die in dem Prosatext dargestellt werden, zueinander stehen und welche Beziehung zwischen ihnen existiert.

Dabei kommen viele verschiedene Faktoren in Betracht, die darauf Einfluss haben.

Z.B. muss man klären, ob sie sich hassen oder einander gleichgültig sind, ob einer von ihnen in einer überlegenen Position ist oder eher gehorchen muss, ob sie offen miteinander verkehren oder sich eher verstecken u.v.a.m.

Erzählfiguren: Übung zu Beziehungen

Vater-Sohn-Beziehung

Aufgaben

Untersuchen Sie die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Fertigen Sie stichpunktartige Notizen an.

Denk immer an heut Nachmittag

von Gabriele Wohmann 

„Eine halbe Stunde Fahrt auf der Hinterplattform“, sagte der Vater, „wieder was Schönes zum Drandenken.“

Die Bahn ruckelte durch die dunklen feuchten Gässchen von Gratte. Spätnachmittags, die Zeit, in der noch einmal alle Frauen ihre Einkaufstaschen zu den Krämern trugen, in die Auslagen der engen Schaufenster starrten und wie im Gebet die Lippen bewegten, während sie die Münzen in ihren klebrigen Portemonnaies zählten. Die letzten Minuten, bevor die Kinder endgültig hinter den schartigen Hausmauern verschwänden, ehe die Männer auf ihren Motorrädern in das Delta der Gassen donnern würden.

Das Kind hielt die Messingstange vor der Fensterscheibe fest, aber immer wieder rutschte die glatte Wolle seiner Handschuhe ab.

„Wie im Aussichtswagen. Lauter lustige Dinge“, sagte der Vater. „Du kannst immer dran denken: wie lustig war’s doch, als wir plötzlich bei Wickler im Fenster die Mannequins entdeckten und als der Vater sagte: schön, wir fahren eine Bahn später. Die hübschen Mannequins, weißt du’s noch?“

„Ja“, sagte das Kind. Sein Knie spürte den Koffer.

Die Bahn fuhr jetzt durch eine Straße mit eckigen unfrisierte Gärtchen, und Gratte sah nur noch wie ein dicker dunkler Pickel aus. Dann Bäume, die meisten noch kahl, eine Bank mit einem Mädchen, das die Fingernägel reinigte, gekrümmte nackte Kiefernstämme in sandigen Kahlschlägen.

„Der Wald von Laurich“, sagte der Vater, „er zieht sich bis zu deinem Schulheim. Ihr werdet ihn wahrscheinlich oft zu sehen bekommen, Spiele im Wald veranstalten, Schnitzelversteck und was weiß ich, Räuberspiele, Waldlauf.“

Ein fetter Junge auf dem Fahrrad tauchte auf und hetzte in geringem Abstand hinter der Bahn her. Sein schwitzendes bläuliches Gesicht war vom Ehrgeiz verunstaltet, die farblose dicke Zunge lag schlaff auf der Unterlippe. „Zunge rein“, rief der Vater und lachte. Ob er’s schafft? Was meinst du?“

„Ich weiß nicht“, sagte das Kind.

„Ach du Langweiler“, sagte der Vater.

Das Kind merkte mit einer geheimen Erregung, dass seine Augen jetzt schon wieder nass wurden; das Fahrrad, der hechelnde schwere Körper und das besessene Gesicht des jungen schwammen hinter der Scheibe.

Mit gekränkter Stimme sagte der Vater:

„Und vergiss nicht die Liebe deiner Mutter. Sie ist dein wertvollster Besitz. Präge es dir ein. Vergiss nicht, wie lieb sie dich hatte, und handle danach. Tu nur, was sie erfreut hätte. Ich hoffe sehr, du kannst das behalten.“

Immer größer wurde der Abstand zwischen dem Fahrrad und der Plattform, aber obwohl keine Aussicht mehr bestand, in diesem Wettbewerb zu gewinnen, gab der Junge nicht auf. „Siehst du“, sagte der Vater, der lässt nicht locker.“

Seine Stimme war stolz und fast zärtlich.

Das Kind sah in das fleckige Gesicht des Jungen, aus dem die Zunge sich plötzlich listig reckte, zugespitzt, blass zwischen den weißen verzogenen Lippen.

Der Vater lachte:

„Siehst du, jetzt streckt er dir die Zunge raus! Vielleicht ist es sogar ein Lauricher, ein zukünftiger Kamerad. Dann würdest du schon einen kennen.“

Sie sahen von der Plattform aus die hellgrün gestrichenen Gebäude vor dem Ulmenwäldchen, alles sah doch anders aus als auf den Bildern des Prospekts. Sie gingen zwischen Äckern den großen Gebäuden entgegen.

„Wie freundlich das daliegt“, sagte der Vater. „Zu meiner Zeit waren Schulen noch nicht so nett. Da, der Sportplatz! Ich hoffe sehr, du wirst hier allmählich Spaß am Sport bekommen. Richtige Muskeln, weißt du. Du musst sonst auf sehr viel Gutes im Leben eines Mannes verzichten.“

Ein hoher Drahtzaun umschloss den Platz. Eine Horde von Kindern, die aus der Entfernung einheitlich schwarz wirkte, rannte und stieß und schrie planlos durcheinander, und ab und zu erhob sich plump und dunkel ein eiförmiger Ball, einem kranken Vogel ähnlich, über die Masse der Köpfe.

„Komm“, sagte der Vater und griff nach der Hand des Kindes, „komm wir eilen uns ein bisschen, vielleicht können wir noch sehen, wer gewinnt.“

Durch die Handschuhwolle spürte das Kind den Wärmestrom. Es hatte Lust, den Handschuh auszuziehen, aber es regte seine Finger nicht. Von Neuem schwoll das Nasse in seinen Augen, es war ein Gefühl, als wollten die Augen selbst aus der Spange der Lider platzen. Das Nasse schmierte die Gebäude, den Sportplatz, das Gewimmel der Kinder in eine mattglasige Einheit, aus der jetzt der Ball wieder schwarz und träge in den Himmel aufstieg; und denn sah es nichts mehr, gar nichts, es hörte die kreischenden Rufe, los, los, vorwärts, es spürte die Hand seines Vaters und roch den fauligen dumpfen Abendgeruch der aufgeworfenen Erde, aber es sah nichts mehr, so dass es nur die Erinnerung an den hochtorkelnden Ball festhielt. Es ließ den Ball sich höher hinaufschrauben, es ließ ihn nicht wieder zurückfallen zwischen die stoßenden und wetzenden Beine, es schraubte ihn so hoch, bis es sich nicht mehr vorstellen konnte, dass er wieder auf die Erde zurück müsste.

„Behalte all das in Erinnerung“, sagte der Vater. „All das Schöne und Liebe, das deine Mutter und ich dir zu geben versucht haben. Und wenn’s mal trübe aussehen sollte, denk zum Beispiel an heut Nachmittag. Das war doch wie ein richtiger lustiger Ausflug. Denk immer an heut Nachmittag, hörst du? An alles, an die Wäffelchen, an Wicklers Schau, die Plattform, an den Jungen auf dem Fahrrad. Hörst du?“

„Ja“, sagte das Kind.

Gegen seinen Willen musste es feststellen, dass die Augen wieder ordentlich und klar zwischen den Lidern saßen.

Sie waren jetzt nah am Sportplatz, die quadratischen Maschen des Zaungitters lösten sich einzeln aus dem Dunkelgrau, in das wie eine gegorene, von Würmern geschwollene Pflaume der Ball zurückklatschte. Nun erst fiel ihm auf, dass es noch nie daran gedacht hatte, seinen Vater zu bedauern.

Gabriele Wohmann, „Ländliches Fest und andere Erzählungen“, Neuwied/Berlin 1968

Lösungen

Die Kurzgeschichte „Denk immer an heut Nachmittag“ von G. Wohmann, erschienen in dem Sammelband „Ländliches Fest und andere Erzählungen“ (Neuwied/Berlin 1968), handelt von einem kleinen Jungen, der offenbar seine Mutter verloren hat und deshalb von seinem Vater in ein Internat gebracht wird. Im Rahmen der Bahnfahrt dorthin führt die Autorin vor, wie der Vater die ihn und seinen Sohn belastende Situation zu bewältigen versucht und dabei versagt. Die Haltung des Vaters, der aus dem Blickwinkel des Kindes beschreiben wird, steht deutlich im Vordergrund der Betrachtung.

Der Vater wird zunächst als fürsorglich gezeigt, als ein Mensch, der seinen Sohn liebt. Er will den Jungen, der von dem Verlust seiner Mutter und der Perspektive des Internats offenbar stark betroffen ist, aufheitern. Dazu rückt er alle Details, die mit dieser Bahnfahrt und der zukünftigen Schule verbunden sind, in ein positives Licht: So soll schon die Bahnfahrt für sich ein besonderes Ereignis sein. Beobachtungen, die für einen kleinen Jungen wahrscheinlich nicht von besonderer Bedeutung sind, wie hübsche Mannequins in einem Schaufenster, stilisiert der Vater zu einem lustigen Erlebnis hoch. Die Umgebung des Internats, der Wald von Laurich – vom Erzähler abschreckend als öde und kahl charakterisiert – soll nach seiner Auffassung ein hervorragender Tummelplatz für Abenteuerspiele sein.

Zugleich spart der Vater auch nicht mit Ratschlägen und Ermahnungen, um, wie er sagt, seinen Sohn auf den kommenden Lebensabschnitt vorzubereiten. So wiederholt er gebetsmühlenartig, dass die positive Erinnerung an die Mutter ihm in allen schwierigen Lagen inneren Halt geben soll. Willensstärke und Durchsetzungsvermögen legt er dem Jungen unsensibel als sehr wichtige Haltungen nahe, ohne auf sein momentanes Empfinden einzugehen. Dabei dient dem Vater ein „fetter“ Junge, der ohne Aussicht auf Erfolg mit heraushängender „bläulicher Zunge“ hinter der Bahn herhetzt, als Vorbild.

Der Junge zeigt gegenüber all diesen Versuchen des Vaters keinerlei positive Reaktion. Er scheint von den negativen Gefühlen übermannt zu sein und ist kaum in der Lage, seine Tränen zu verbergen. Der Vater übergeht entweder diese Gefühlslage oder bemerkt sie gar nicht. Seine ständigen Aufmunterungen wirken daher aufgesetzt und deplatziert. Der Vater scheint nicht einmal das Bedürfnis seines Sohnes nach Zuneigung zu realisieren.

Nachdem das Kind sich etwas beruhigt hatte, merkt es am Ende der Kurzgeschichte, dass sein Vater zu bedauern ist. Es erkennt, dass der Vater ähnlich betroffen ist wie es selbst, da dieser seine Frau verloren hat und die Familie zerbrochen ist. Der Junge bemerkt, dass seine demonstrative Fröhlichkeit, seine gute Laune als Versuch zu werten ist, die traurige Situation zu überspielen, und überwindet damit sein Selbstmitleid und seine Ich-Bezogenheit.