Stetigkeit
Besonderheiten von Funktionsgraphen: Sprünge und Knicke
Der Graph einer abschnittsweise definierten Funktion kann an den Nahtstellen innerhalb der Definitionsmenge offenbar wesentliche Besonderheiten besitzen:\(\newcommand{\IR}{\mathrm{I\!R}}\newcommand{\curvelinks}{\style{display: inline-block; transform: rotate(0.5turn);}{\curvearrowleft}}\newcommand{\lightning}{\Large\unicode{x21af}} \newcommand{\mylim}[3][x]{ \lim\limits_{#1\ \rightarrow\ {#2}} \!\bigl(\,{#3}\,\bigr) } \)
- Er kann bei den Nahtstellen Sprünge machen
oder sprungfrei verlaufen.
- Wenn er an einer Nahtstelle sprungfrei verläuft,
kann er dort dennoch einen Knick haben
oder glatt verlaufen.
Diese Besonderheiten sind optisch meist schnell zu erkennen, wenn der Funktionsgraph vorliegt.
Was aber tun, wenn kein Funktionsgraph von einer Funktion vorliegt und auch keine Möglichkeit besteht, sich den Funktionsgraphen zeichnen zu lassen?
Die Mathematik bietet rechnerische Methoden, um abschnittsweise definierte Funktionen auf Besonderheiten an den Nahtstellen zu untersuchen.
Beispiel
\(f(x) = \left\{\begin{array}{ll}
-(x+1)^2+1 & \text{für } x<-1 \\
\frac{1}{4}(x+1)^2-1 & \text{für } -1\leq x<2 \\
\frac{3}{2}(x-2)+\frac{5}{4} & \text{für } 2\leq x<3 \\
-\frac{1}{4}(x-4)^2+3 & \text{für } x\geq 3\end{array}\right.\)
Besonderheiten von Funktionen: Stetigkeit und Differenzierbarkeit
Wenn der Graph einer Funktion einen „Sprung“ oder „Knick“ hat, so muss die Ursache dafür bereits in der Definition der zugrundliegenden Funktion liegen.
Die Funktion selbst hat dann auch „besondere Eigenschaften“ an den entsprechenden Stellen: sie ist dort dann entsprechend „nicht stetig“ bzw. „nicht differenzierbar„.
Stetigkeit an einer Stelle \(x_0\)
Gegeben ist eine Funktion \(f\) mit Definitionsmenge \(D_f\).
Der Graph von \(f\) wird mit \(G_f\) bezeichnet.
Die Stelle \(x_0\) liegt in der Definitionsmenge \(D_f\).
Es gilt:
- Hat \(G_f\) bei \(x_0\) keinen Sprung,
sondern lässt sich in einer kleinen Umgebung von \(x_0\) durchzeichnen ohne abzusetzen,
so ist \(f\) bei \(x_0\) stetig.
- Hat \(G_f\) bei \(x_0\) einen Sprung,
so ist \(f\) bei \(x_0\) unstetig.
Differenzierbarkeit an einer Stelle \(x_0\)
Gegeben ist eine Funktion \(f\) mit Definitionsmenge \(D_f\).
Der Graph von \(f\) wird mit \(G_f\) bezeichnet.
Die Stelle \(x_0\) liegt in der Definitionsmenge \(D_f\).
Es gilt:
- Hat \(G_f\) bei \(x_0\) keinen Knick und keinen Sprung,
sondern verläuft
in einer kleinen Umgebung von \(x_0\) „glatt“,
so ist \(f\) bei \(x_0\) differenzierbar.
- Hat \(G_f\) bei \(x_0\) einen Knick oder einen Sprung,
so ist \(f\) bei \(x_0\) nicht differenzierbar.
Aufgabe:
Erkennen Sie in der obigen Graphik, welche Eigenschaften die Funktion \(f\) jeweils bei den 3 Nahtstellen hat?
In diesem Kapitel werden uns zuerst einmal nur mit Sprüngen in Funktionsgraphen beschäftigen. Dabei werden wir sehen, dass die Idee, sich an eine „problematische Stelle“ eines Funktionsgraphen anzunähern und dabei die Funktionswerte zu beobachten, sehr hilfreich ist.
Präzisere Beschreibung der Stetigkeit einer Funktion an einer Stelle x0
Wenn man beschreibt, wie man einen Funktionsgraphen bei einer vermeintlichen Sprungstelle von beiden Seiten „abtasten“ muss, um entscheiden zu können, ob der Graph von beiden Seiten auf exakt die gleiche Höhe zuläuft oder nicht, erhält man bereits eine präzisere Anleitung, wie man vorgehen muss, um die Stetigkeit einer Funktion an einer Stelle \(x_0\) RECHNERISCH untersuchen zu können.
Eine wichtige Rolle spielt offenbar das ANNÄHERN an eine problematische Stelle (z.B. die Stelle mit dem Sprung), wobei man der problematischen Stelle „unendlich nah“ kommen will.
Dabei wird uns jetzt die limes-Schreibweise zugute kommen, die wir im vorherigen Abschnitt kennengelernt haben.
Entscheidungshilfe: Stetigkeit an einer Stelle \(x_0\)
Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).
\(f\) heißt stetig an der Stelle \(x_0 \in D_f\),
- wenn bei Annäherung
eines „beweglichen“ Werts \(x\) an die Stelle \(x_0\) - sowohl von links als auch von rechts kommend
- die Funktionswerte \(f(x)\)
dem Wert \(f(x_0)\) unendlich nahe kommen.
\(f\) heißt unstetig an der Stelle \(x_0 \in D_f\),
- wenn \(f\) bei \(x_0\) nicht stetig ist.
Definition für Stetigkeit an einer Stelle x0 (mithilfe der limes-Schreibweise)
Erinnerung: Wir hatten zuletzt formuliert:
Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).
\(f\) heißt stetig an der Stelle \(x_0 \in D_f\),
- wenn bei Annäherung
eines „beweglichen“ Werts \(x\) an die Stelle \(x_0\) - sowohl von links als auch von rechts kommend
- die Funktionswerte \(f(x)\)
dem Wert \(f(x_0)\) unendlich nahe kommen.
Mithilfe der limes-Schreibweise können wir diesen Wortlaut deutlich kürzer fassen:
Definition: Stetigkeit an der Stelle \(x_0\)
Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).
\(f\) heißt stetig an der Stelle \(x_0 \in D_f\), wenn
\(\mylim{{x_p}^{\color{red}{–}}} {f(x)} = f(x_0)\) und \(\mylim{{x_p}^{\color{forestgreen}{+}}} {f(x)} = f(x_0)\)
Bestimmte Funktionen-Arten haben die sehr nützliche Eigenschaft, dass sie an jeder Stelle \(x\in \IR\) stetig sind. Daher definiert man:
Definition: Stetigkeit einer Funktion
Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).
Ist \(f\) an jeder Stelle \(x_0 \in D_f\) stetig,
so heißt \(f\) stetig (in \(D_f\)).
Wichtige Anmerkung
Man kann zeigen, dass jede ganz-rationale Funktion \(g\) mit Definitionsmenge \(D_g=\IR\) stetig ist (Auf die Beweisführung wird hier verzichtet). Mit diesem Wissen kann man nun sehr einfach Grenzwerte von stetigen Funktionen berechnen!
Konsequenz für die Berechnung eines Grenzwerts
1) Ist \({\color{blue}{g}}\) eine ganzrationale Funktion mit Definitionsmenge \(D_g=\IR\), so gilt für jede Stelle \({\color{orange}{x_0}}\in D_g=\IR\):
- \(\mylim{{{\color{orange}{x_0}}}^{\color{red}-}} { {\color{blue}{g(x)}}} = {\color{blue}{g({\color{orange}{x_0}})}}\)
- \(\mylim{{{\color{orange}{x_0}}}^{\color{forestgreen}+}} { {\color{blue}{g(x)}}} = {\color{blue}{g({\color{orange}{x_0}})}}\)
- \(\mylim{{{\color{orange}{x_0}}}} { {\color{blue}{g(x)}}} = {\color{blue}{g({\color{orange}{x_0}})}}\)
Beispiel:
Die Funktion \({\color{blue}{g:x\mapsto -\frac{1}{2}(x-1)+3)}}\) mit Definitionsmenge \(D_g=\IR\) ist eine ganzrationale Funktion, also stimmt für jeden beliebigen Wert von \({\color{orange}{x_0}}\in D_g\)
- der Grenzwert \(\mylim{{\color{orange}{x_0}}} { \color{blue}{g(x)} }\)
- mit dem Funktionswert \(\color{blue}{g({\color{orange}x_0)}}\)
überein.
Also gilt zum Beispiel
\(\mylim{{\color{orange}3}} {{\color{blue}{-\frac{1}{2}(x-1)+3)}}}= {\color{blue}{-\frac{1}{2}({\color{orange}3}-1)+3}}=2\)
2) Bei abschnittsweise definierten Funktionen, die aus ganz-rationalen Teilfunktionen zusammengesetzt sind, muss die Stetigkeit nur an den Nahtstellen überprüft werden.
Aufgabe:
Entscheiden Sie für jedes der 5 Beispiele aus dem nebenstehenden Geogebra-Applet jeweils,
ob die Funktion \(f\) stetig ist.
Hinweis:
Es genügt, die Funktion nur an den Nahtstellen zu untersuchen!
Beispiel 1
Gegeben ist die Funktion \(f: x\mapsto \begin{cases} x^2-1 & \text{ für } x\leq 1\\-x & \text{ für } x>1\end{cases}\) mit Definitionsmenge \(D_f=\IR\).
Untersuchen Sie, ob \(f\) stetig ist.
Lösung:
\(f\) ist eine abschnittsweise definierte Funktion ist, die aus ganz-rationalen Teilfunktionen zusammengesetzt ist.
- Somit ist \(f\) an allen Stellen innerhalb der jeweils zugehörigen Teilabschnitte der Definitionsmenge stetig.
- Folglich muss \(f\) nur an der Nahtstelle \(x_0=1\) auf Stetigkeit untersucht werden.
Um zu überprüfen, ob \(f\) auch an der Nahtstelle \(x=1\) stetig ist, müssen wir überprüfen, ob drei bestimmte Werte übereinstimmen:
- Der linksseitige Grenzwert von \(f(x)\) bei Annäherung von \(x\) an \(x_0 = 1 \) ,
- der rechtsseitige Grenzwert von \(f(x)\) bei Annäherung von \(x\) an \(x_0 = 1 \) und
- der Funktionswert an der Stelle \(x_0 = 1 \).
Annäherung von links an \(x_0 = 1\):
Für \(x \to 1^-\) folgt, dass \(x<1\) ist.
Also muss der Term betrachtet werden,
der laut Angabe zu \(x<1\) gehört.
\( \mylim{1^-} {f(x)} = \mylim{1^-} {x^2-1} = 1^2-1 = 0\)
Annäherung von rechts an \(x_0 = 1\):
Für \(x \to 1^+\) folgt, dass \(x>1\) ist.
Also muss der Term betrachtet werden,
der laut Angabe zu \(x>1\) gehört.
\( \mylim{1^+} {f(x)}=\mylim{1^+}{-x} = -1\)
Berechnung des Funktionswerts bei \(x_0=1\):
Es muss der Term verwendet werden,
der laut Angabe zu \(x=1\) gehört
(in diesem Beispiel bei \(x\leq 1\) zu finden).
\(f(1)= 1^2-1 = 0\)
Folgerung:
\( \mylim{1^-} {f(x)} \neq \mylim{1^+} {f(x)}\)
Also kann \(f\) bei \(x_0 = 1\) nicht stetig sein
(andere Formulierung: \(f\) ist bei \(x_0 = 1\) unstetig).
Somit ist \(f\) nicht stetig.
Die graphische Darstellung bestätigt unser Ergebnis:
bei \(x_0 = 1\) muss der „Stift“ abgesetzt werden,
um weiter unten wieder angesetzt zu werden.
Graphische Darstellung
Beispiel 2
Gegeben ist die Funktion \(g: x\mapsto \begin{cases} -x^2+3 & \text{ für } x< -1\\x^2+1 & \text{ für } x\geq -1\end{cases}\) mit Definitionsmenge \(D_f=\IR\).
Untersuchen Sie, ob \(g\) stetig ist.
Lösung:
\(g\) ist eine abschnittsweise definierte Funktion ist, die aus ganz-rationalen Teilfunktionen zusammengesetzt ist.
- Somit ist \(g\) an allen Stellen innerhalb der jeweils zugehörigen Teilabschnitte der Definitionsmenge stetig.
- Folglich muss \(g\) nur an der Nahtstelle \(x_0=-1\) auf Stetigkeit untersucht werden.
In der Hoffnung, den Schreibaufwand etwas zu verringern, aber die Nachvollziehbarkeit zu erhöhen, geben wir den Termen der verwendeten Teilfunktionen eigene Namen (\(g_{links}(x)\) und \(g_{rechts}(x)\)).
\(g(x) = \begin{cases} {\color{red}{g_{links}(x)}} = {\color{red}{-x^2+3}} & \text{ für } x< -1\\{\color{forestgreen}{g_{rechts}(x)}} = {\color{forestgreen}{x^2+1}} & \text{ für } x\geq -1\end{cases}\).
Annäherung von links an \(x_0 = -1\):
\( \mylim{-1^-} {g(x)} = \mylim{-1^-} { {\color{red}{g_{links}(x)}} } = {\color{red}{g_{links}(\color{black}{-1})}}\\\phantom{\mylim{-1^-} {g(x)}} = {\color{red}{-(\color{black}{-1})^2+3}} = 2\)
Annäherung von rechts an \(x_0 = -1\):
\( \mylim{-1^+} {g(x)} = \mylim{-1^+} { {\color{forestgreen}{g_{rechts}(x)}} } = {\color{forestgreen}{g_{rechts}(\color{black}{-1})}}\\\phantom{\mylim{-1^+} {g(x)}} = {\color{forestgreen}{(\color{black}{-1})^2+1}}= 2\)
Berechnung des Funktionswerts bei \(x_0=-1\):
\(g(-1)= {\color{forestgreen}{g_{rechts}(\color{black}{-1})}} = {\color{forestgreen}{(\color{black}{-1})^2+1}}= 2\)
Folgerung:
\( \mylim{-1^-} {g(x)} = g(-1) = \mylim{-1^+} {g(x)}\),
also ist \(g\) bei \(x_0 = -1\) stetig.
Somit ist \(g\) stetig.
Die graphische Darstellung bestätigt unser Ergebnis:
bei \(x_0 = -1\) kann der Graph durchgezeichnet werden,
ohne dass der „Stift“ abgesetzt werden muss.
Graphische Darstellung
Weitere Aufgaben
Aufgabe 1
Untersuchen Sie rechnerisch, ob die folgenden Funktionen jeweils stetig an der Nahtstelle sind.
a) \(f: x\mapsto \begin{cases} 1-x^2 & \text{ für } x\leq 1\\x-1 & \text{ für } x>1\end{cases}\)
b) \(g: x\mapsto \begin{cases} \frac{1}{4}x^3-1 & \text{ für } x\in \IR^-_0\\ \frac{1}{4}x^2-1 & \text{ für } x \in \IR^+\end{cases}\)
Aufgabe 2
Gegeben sind Ausschnitte der Graphen der Funktion \(f\), \(g\), \(h\) und \(k\) jeweils mit den Definitionsmengen \(D_f=\IR\), \(D_g=\IR\), \(D_h=\IR\) und \(D_k=\IR\backslash\{-2\}\).
Entscheiden Sie für jeder der Funktionen \(f\), \(g\), \(h\) und \(k\), ob sie bei ihren jeweiligen Nahtstellen stetig ist.
Aufgabe 3
Bestimmen Sie die Werte der Parameter \(k\) und \( s\) mit \(k, s\in\IR\), sodass die folgenden Funktionen stetig an der Nahtstelle bzw. den Nahtstellen sind.
a) \(f: x\mapsto \begin{cases} \frac{1}{2}x+k & \text{ für } x\leq 0{,}5\\-\frac{3}{4}x+3 & \text{ für } x>0{,}5\end{cases}\)
b) \(g: x\mapsto \begin{cases} -x^2+k & \text{ für } x\leq -2\\ k\cdot x+2 & \text{ für } -2<x<4\\s\cdot x+12 & \text{ für } 4 \leq x\end{cases}\)
Aufgabe 4
Es kann jeweils nur eine Antwort ausgewählt werden.
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