Differenzierbarkeit

Wiederholung: Sprünge und Knicke von Funktionsgraphen

Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass der Graph einer abschnittsweise definierten Funktion bei den Nahtstellen innerhalb der Definitionsmenge offenbar wesentliche Besonderheiten besitzen kann:\(\newcommand{\IR}{\mathrm{I\!R}} \newcommand{\curvelinks}{\style{display: inline-block; transform: rotate(0.5turn);}{\curvearrowleft}}\newcommand{\lightning}{\Large\unicode{x21af}} \newcommand{\mylim}[3][x]{ \lim\limits_{#1\ \rightarrow\ {#2}} \!\bigl(\,{#3}\,\bigr) } \newcommand{\limb}[3][x]{ \lim\limits_{#1\ \rightarrow\ {#2}} \!\left({#3}\right) }\)

  • Er kann bei den Nahtstellen Sprünge machen
    oder sprungfrei verlaufen.
  • Wenn er an einer Nahtstelle sprungfrei verläuft,
    kann er dort dennoch einen Knick haben
    oder glatt verlaufen.

Nachdem wir uns im letzten Abschnitt mit den Sprüngen der Graphen beschäftigt haben, werden wir uns in diesem Kapitel mit eventuellen Knicken von Graphen und glatt verlaufenden Graphen beschäftigen.

Im der nebenstehenden Abbildung hat der Graph der Funktion \(f\) einen Knick an der Nahtstelle \(x=3\).

Beispiel

\(f(x) = \left\{\begin{array}{ll}
-(x+1)^2+1 & \text{für } x<-1 \\
\frac{1}{4}(x+1)^2-1 & \text{für } -1\leq x<2 \\
\frac{3}{2}(x-2)+\frac{5}{4} & \text{für } 2\leq x<3 \\
-\frac{1}{4}(x-4)^2+3 & \text{für } x\geq 3\end{array}\right.\)

 

 

Anschauliche Untersuchung, ob ein Funktionsgraph einen Knick an einer Stelle x0 hat

Will man rechnerisch herauszufinden, ob der Graph einer Funktion \(f\) mit Definitionsmenge \(D_f\) einen Knick an einer Stelle \(x_0\in D_f\) hat oder nicht, kann man versucht man, den eventuellen Knick von zwei Seiten „in die Zange zu nehmen“.

Im folgenden Geogebra-Applet können Sie beobachten, wie man diese Idee umsetzt, indem man versucht, den eventuellen Knick im Graphen von \(f\) zwischen 2 besonderen Geraden „einzuklemmen“, genauer: zwischen den Sekanten \(LP\) und \(RP\).

Sekanten sind Geraden,
die einen Funktionsgraphen an mindestens 2 Stellen schneiden.

Die beiden Sekanten laufen dabei jeweils durch

  • den Punkt \(P\left(x_0|f(x_0)\right)\) des Graphen \(G_f\)
    (also die vermutete „Spitze“ des Knicks) und
  • einen Graphenpunkt \(L\) (links von \(x_0\)) bzw.
    einen Graphenpunkt \(R\) (rechts von \(x_0\)).

Bewegt man nun beide Graphenpunkte \(L\) und \(R\)
immer näher an \(P\) heran und stellt fest, dass dabei
die Steigungen der beiden Sekanten \(LP\) und \(RP\)
„im letzten Moment“

  • dem gleichen endlichen Steigungswert beliebig nahe kommen, so ist \(G_f\) bei \(x_0\) glatt.
  • auf 2 unterschiedliche endliche Steigungswerte zulaufen, so hat \(G_f\) bei \(x_0\) einen Knick.

Steigung einer Geraden durch zwei Punkte

  • Die Steigung einer Geraden durch die Punkte \(A(x_A|y_A)\) und \(B(x_B|y_B)\) wird berechnet mit der Formel
    \(m_{AB}=\dfrac{\Delta y}{\Delta x}=\dfrac{y_B-y_A}{x_B-x_A}\).
  • Liegen \(A\) und \(B\) auf dem Graphen einer Funktion \(f\), so kann man die y-Koordinaten von \(A\) und \(B\) mithilfe von \(f(x)\) berechnen. Also gilt dann für die Geradensteigung:
    \(m_{AB}=\dfrac{\Delta y}{\Delta x}=\dfrac{f(x_B)-f(x_A)}{x_B-x_A}\)
    Da dieser Term, ein Quotient aus zwei Differenzen, in der Mathematik eine wichtige Rolle spielt, gibt es für ihn einen Fachbegriff: man bezeichnet ihn üblicherweise als Differenzenquotient.
  • Häkchen bei [  ] Sekante \(LP\) bzw. [  ] Sekante \(RP\) setzen: jeweilige Sekanten einblenden.
  • Punkte \(L\) und \(R\) langsam auf den Punkt \(P\) zubewegen (mithilfe der Mause)
  • Menü [Beispiel x] anklicken, um anderes Beispiel auszuwählen.
 

 

Aufgabe:

Beschreiben Sie für jedes der Beispiele im nebenstehenden Geogebra-Applet, welchem Wert die Steigungen der beiden Sekanten \(\color{forestgreen}{LP}\) und \(\color{magenta}{RP}\) jeweils beliebig nahekommen, wenn

  • \(\color{forestgreen}{x_L}\) an \(\color{red}{x_0}\) bzw.
  • \(\color{magenta}{x_R}\) an \(\color{red}{x_0}\)

angenähert wird.

Bitte studieren Sie alle 5 Beispiele und deren Lösungen sehr aufmerksam, da hier wichtige Zusammenhänge aufgezeigt werden!

Bei \(x_0=-1\) hat der Graph von \(f\) keinen Sprung!
Die Funktion ist bei \(x_0=-1\) also stetig!

Bei Annäherung von \(\color{forestgreen}{x_L}\) an \(\color{red}{x_0=-1}\)
kommt die Steigung von \(\color{forestgreen}{LP}\)
dem Wert \(0\) unendlich nah.

Bei Annäherung von \(\color{magenta}{x_R}\) an \(\color{red}{x_0=-1}\)
kommt die Steigung von \(\color{magenta}{RP}\)
dem Wert \(1\) unendlich nah.

Bei \(x_0=1\) hat der Graph von \(f\) keinen Sprung!
Die Funktion ist bei \(x_0=1\) also stetig!

Bei Annäherung von \(\color{forestgreen}{x_L}\) an \(\color{red}{x_0=1}\)
kommt die Steigung von \(\color{forestgreen}{LP}\)
dem Wert \(-2\) unendlich nah.

Bei Annäherung von \(\color{magenta}{x_R}\) an \(\color{red}{x_0=1}\)
kommt die Steigung von \(\color{magenta}{RP}\)
dem Wert \(-2\) unendlich nah.

Da beide Werte gleich und endlich sind,

  • verläuft \(G_f\) bei \(\color{red}{x_0=1}\) glatt (also ohne Knick).
  • hat \(G_f\) bei \(\color{red}{x_0=1}\) keinen Sprung.

Wichtig:

Beide Sekanten nähern sich einer Geraden an,
die den Graphen \(G_f\) an der Stelle \(x_0=1\) berührt.
Diese Gerade wird daher als TANGENTE an \(G_f\) bei \(x_0=1\) bezeichnet.

Bei \(x_0=0\) fällt sofort der Sprung im Graphen von \(f\) auf!
Die Funktion ist bei \(x_0=0\) also nicht stetig!

Bei Annäherung von \(\color{forestgreen}{x_L}\) an \(\color{red}{x_0=0}\)
läuft die Steigung von \(\color{forestgreen}{LP}\)
gegen \(-\infty\)
(dem man nicht unendlich nah kommen kann).

Bei Annäherung von \(\color{magenta}{x_R}\) an \(\color{red}{x_0=0}\)
kommt die Steigung von \(\color{magenta}{RP}\)
dem Wert \(0\) unendlich nah.

Bei \(x_0=2\) fällt sofort der Sprung im Graphen von \(f\) auf!
Die Funktion ist bei \(x_0=2\) also nicht stetig!

Bei Annäherung von \(\color{forestgreen}{x_L}\) an \(\color{red}{x_0=2}\)
läuft die Steigung von \(\color{forestgreen}{LP}\)
gegen \(+\infty\)
(dem man nicht unendlich nah kommen kann).

Bei Annäherung von \(\color{magenta}{x_R}\) an \(\color{red}{x_0=2}\)
kommt die Steigung von \(\color{magenta}{RP}\)
gegen \(+\infty\)
(dem man nicht unendlich nah kommen kann).

Bei \(x_0=0\) hat der Graph von \(f\) keinen Sprung!
Die Funktion ist bei \(x_0=0\) also stetig!

Bei Annäherung von \(\color{forestgreen}{x_L}\) an \(\color{red}{x_0=0}\)
läuft die Steigung von \(\color{forestgreen}{LP}\)
gegen \(+\infty\)
(dem man nicht unendlich nah kommen kann).

Bei Annäherung von \(\color{magenta}{x_R}\) an \(\color{red}{x_0=0}\)
kommt die Steigung von \(\color{magenta}{RP}\)
gegen \(+\infty\)
(dem man nicht unendlich nah kommen kann).

  • Häkchen bei [  ] Sekante \(LP\) bzw. [  ] Sekante \(RP\) setzen: jeweilige Sekanten einblenden.
  • Punkte \(L\) und \(R\) langsam auf den Punkt \(P\) zubewegen (mithilfe der Mause)
  • Menü [Beispiel x] anklicken, um anderes Beispiel auszuwählen.
 

 

Wichtige Beobachtung (Stetigkeit als Voraussetzung für Knicke oder glatten Verlauf)

In Beispiel 3 und Beispiel 4 kann man erkennen:

Hat der Graph von \(f\) an einer Stelle \(x_0\in D_f\) einen Sprung (d.h. ist die Funktion \(f\) an einer Stelle \(x_0\in D_f\) unstetig), so läuft wenigstens eine der beiden Sekanten auf eine senkrechte Gerade zu.

Der Graph von \(f\) kann dann bei \(x_0\) nicht mehr „glatt“ sein und auch keinen Knick haben.

Wenn eine Funktion \(f\) stetig an einer Stelle \(x_0\) ist,

  • ist der Graph von \(f\) bei \(x_0\)
    entweder glatt oder hat dort einen Knick.

Wenn eine Funktion nicht stetig an einer Stelle \(x_0\) ist,

  • ist der Graph von \(f\) bei \(x_0\)
    weder glatt, noch hat er dort einen Knick.

Definition der Differenzierbarkeit einer Funktion an einer Stelle x0

Wir haben nun gesehen,

  • wie man durch das Annähern zweier „beweglicher“ Sekanten einen eventuellen Knick „in die Zange“ nehmen kann.
  • wie man dabei durch Beobachtung der Steigungen der beiden Sekanten Rückschlüsse darüber ziehen kann, ob der Graph bei \(x_0\) glatt verläuft oder einen Knick hat – sofern der Funktionsgraph stetig ist..

Wir haben auch gesehen, dass, wenn eine Funktion nicht stetig an einer Stelle \(x_0\) ist, ihr Graph dort weder glatt verlaufen kann, noch einen Knick haben kann.

Die Ursache dafür muss jeweils bereits in der Definition der zugrundliegenden Funktion liegen.

Die Eigenschaft einer stetigen Funktion, die verantwortlich dafür ist, dass ihr Graph an einer Stelle \(x_0\in D_f\) glatt verläuft, wird als „Differenzierbarkeit“ bezeichnet.

Diese Bezeichnung soll an die Idee der Beobachtung von Sekantensteigungen erinnern, also an den Term \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\), in welchem offenbar zwei Differenzen vorkommen.

Gegeben ist die stetige Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

\(f\) heißt differenzierbar an der Stelle \(x_0 \in D_f\),

  • wenn bei Annäherung
    eines „beweglichen“ Werts \(x\) an die Stelle \(x_0\)
  • sowohl von links als auch von rechts kommend
  • die Sekantensteigungen bzgl. \(x\) und \(x_0\)
    (also der Term \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\))
    dem gleichen endlichen Wert beliebig nahekommen.

Mithilfe der limes-Schreibweise können wir diese Wortlaute deutlich kürzer fassen:

Definition: Differenzierbarkeit an der Stelle \(x_0\)

Gegeben ist die stetige Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

\(f\) heißt differenzierbar an der Stelle \(x_0 \in D_f\),

wenn \(\limb{{x_0}^{\color{black}{–}}} {\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}} = \limb{{x_0}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}}\),
wobei der gemeinsame Grenzwert ein endlicher Wert ist.

Aufgabe:

Geben Sie für die Beispiele im nebenstehenden Geogebra-Applet jeweils für Annäherung von \(x\) an die Nahtstelle \(x_0\)

  • den linksseitigen Grenzwert der Sekantensteigung
  • den rechtsseitigen Grenzwert der Sekantensteigung

an. Verwenden Sie dabei die limes-Schreibweise.

Entscheiden Sie anschschließend anhand der Ergebnisse, ob die Funktion \(f\) bei \(x_0\) differenzierbar ist.

\(\limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{-1}})}{x-({\color{red}{-1}})}} = 0\)
\(\limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{-1}})}{x-({\color{red}{-1}})}} = -1\)

d.h. \(\limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{–}}} {\frac{f(x)-f({\color{red}{-1}})}{x-({\color{red}{-1}})}} \neq \limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{-1}})}{x-({\color{red}{-1}})}}\)

\(\Rightarrow f\) ist bei \({\color{red}{x_0=-1}}\) nicht differenzierbar.

\(\Rightarrow f\) ist nicht differenzierbar.

\(\limb{{\color{red}{1}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{1}})}{x-({\color{red}{1}})}} = -2\)
\(\limb{{\color{red}{1}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{1}})}{x-({\color{red}{1}})}} = -2\)

d.h. \(\limb{{\color{red}{1}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{1}})}{x-({\color{red}{1}})}} = \limb{{\color{red}{1}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{1}})}{x-({\color{red}{1}})}}\)

\(\Rightarrow f\) ist bei \({\color{red}{x_0=-1}}\) differenzierbar.

Die Funktion \(f\) ist aus ganz-rationalen Teilfunktionen zusammengesetzt ist und \(f\) ist an der Nahtstelle differenzierbar.

\(\Rightarrow f\) ist differenzierbar.

\(\limb{{\color{red}{0}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}} = -\infty\)
\(\limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}} = 0\)

d.h. \(\limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{–}}} {\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}} \neq \limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}}\)

\(\Rightarrow f\) ist bei \({\color{red}{x_0=0}}\) nicht differenzierbar.

\(\Rightarrow f\) ist nicht differenzierbar.

\(\limb{ {\color{red}{2}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{2}})}{x-({\color{red}{2}})}} = -\infty\)
\(\limb{ {\color{red}{2}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{2}})}{x-({\color{red}{2}})}} \approx -1{,}33\)

d.h. \(\limb{ {\color{red}{2}}^{\color{black}{–}}} {\frac{f(x)-f({\color{red}{2}})}{x-({\color{red}{2}})}} \neq \limb{ {\color{red}{2}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{2}})}{x-({\color{red}{2}})}}\)

\(\Rightarrow f\) ist bei \({\color{red}{x_0=2}}\) nicht differenzierbar.

\(\Rightarrow f\) ist nicht differenzierbar.

\(\limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}} = \infty\)
\(\limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}} = \infty\)

d.h. \(\limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{–}}} {\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}} = \limb{ {\color{red}{0}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{0}})}{x-({\color{red}{0}})}}\).

aber der gemeinsame Grenzwert ist nicht endlich
(und somit ein sog. „uneigentlicher“ Grenzwert).

\(\Rightarrow f\) ist bei \({\color{red}{x_0=0}}\) nicht differenzierbar.

\(\Rightarrow f\) ist nicht differenzierbar.

 

 

Achtung:

Wenn eine Funktion an einer Stelle \(x_0\) nicht stetig ist, kann sie dort nicht differenzierbar sein.

Wenn es also nur darum gegangen wäre, zu entscheiden, ob die Funktion \(f\) differenzierbar ist, hätte es bei Beispiel 3 und Beispiel 4 genügt nachzuweisen, dass die Funktion bei \(x_0\) nicht stetig ist.

Tangentensteigung und Ableitung an der Stelle x0

Erinnerung:

Wenn an einer Stelle \(x_0\)

  • der linksseitige Grenzwert mit
    dem rechtsseitigen Grenzwert übereinstimmt
  • und ein endlicher Wert ist,

so sagt man: „Der Grenzwert an der Stelle \(x_0\) existiert“.

Die zuletzt vorgestellte Definition für Differenzierbarkeit beschreibt eine solche Siuation, dass ein links- und ein rechtsseitiger Grenzwert übereinstimmen! Das nutzen wir natürlich für eine noch kompaktere Definition.

Definition: Differenzierbarkeit an der Stelle \(x_0\)

Gegeben ist die stetige Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

\(f\) heißt differenzierbar an der Stelle \(x_0 \in D_f\),

wenn der Grenzwert von \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\) für \(x \rightarrow {x_0}\) existiert.

Sofern er existiert, spielt der eindeutige Grenzwert der Sekantensteigungen an einer Stelle \(x_0\) eine zentrale Rolle in der Mathematik, denn

  • er gibt die Steigung einer Tangente
    am Graphen von \(f\) bei \(x_0\) an, und
  • beschreibt damit auch, wie „steil“ der Graph von \(f\) an der Stelle \(x_0\) ist, und, ob der Graph von \(f\) (von links nach rechts betrachtet) „ansteigt“ oder „abfällt“.

Wie mächtig das Thema „Ableitungen von Funktionen“ tatsächlich ist, wird in einem ganz anderen Kapitel genauer beleuchtet. Hier im Mathematik-Additum wird es nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Definition: Ableitung einer Funktion \(f\) an der Stelle \(x_0\)

Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

Wenn der Grenzwert von \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\) für \(x \rightarrow {x_0}\) existiert, so

  • heißt \(f\) differenzierbar an der Stelle \(x_0 \in D_f\)
  • wird der Grenzwert mit \(f^{\large\prime}(x_o)\) bezeichnet:\(f^{\large\prime}(x_o) = \limb{{x_0}} {\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}}\)

\(f^{\large\prime}(x_o)\) heißt auch „Ableitung von \(f\) an der Stelle \(x_0\)„.

Sprechweise: „\(f\) Strich von \(x_0\)“

Bestimmte Funktionen-Arten haben die sehr nützliche Eigenschaft, dass sie an jeder Stelle \(x\) ihrer Definitionsmenge differenzierbar sind. Daher definiert man:

Definition: Differenzierbarkeit einer Funktion

Gegeben ist die Funktion \(f\) mit der Definitionsmenge \(D_f\).

Ist \(f\) an jeder Stelle \(x_0 \in D_f\) differenzierbar,
so heißt \(f\) differenzierbar (in \(D_f\)).

Anmerkungen:

  • Man kann zeigen, dass jede ganz-rationale Funktion \(f\) mit Definitionsmenge \(D_f=\IR\) differenzierbar ist.
  • Bei abschnittsweise definierten Funktionen, die aus differenzierbaren Teilfunktionen zusammengesetzt sind, muss die Differenzierbarkeit nur an den Nahtstellen überprüft werden.

Beispiel: Rechnerische Vorgehensweise

Gegeben ist die Funktion \(f: x\mapsto \begin{cases} \frac{1}{2}(x+1)^2 -2 & \text{ für } x<-1\\ -\frac{1}{4}(x-1)^2 -1 & \text{ für } x\geq-1\end{cases}\) mit Definitionsmenge \(D_f=\IR\).

Untersuchen Sie, ob \(f\) an der Nahtstelle \(x_0 = -1 \) differenzierbar ist.

Lösungsvorschlag:

1. Schritt: Überprüfung der Stetigkeit der Funktion f an der Stelle x0 = -1

Wir überprüfen zuerst einmal, ob \(f\) überhaupt stetig bei \(x_0=-1\) ist.

Sollten wir feststellen, dass \(f\) gar nicht stetig bei \(x_0=-1\) ist, würde daraus sofort folgen, dass \(f\) auch nicht differenzierbar \(x_0=-1\) ist – wir müssten die Differenziebarkeit dann also nicht extra untersuchen.

Aus der Angabe der Funktion \(f\) lesen wir ab,
dass für \(x=-1\) und \(x>-1\) gilt:

\(f(x) = -\frac{1}{4}(x-1)^2 -1\)

Damit berechnen wir den Funktionswert und den rechtsseitigen Grenzwert.

Für \(x\geq-1\) gilt: \(f(x) = -\frac{1}{4}(x-1)^2 -1\)

\(\Rightarrow f({\color{red}{-1}}) = -\frac{1}{4}({\color{red}{-1}}+1)^2 -2 = {\color{black}{-2}}\).

\(\Rightarrow \mylim{{-1}^{\color{forestgreen}{+}}}{f(x)} = f({\color{red}{-1}}) = -2\)

Aus der Angabe der Funktion \(f\) lesen wir ab,
dass für \(x<-1\) gilt:

\(f(x) = \frac{1}{2}(x+1)^2 -2\)

Damit berechnen wir den linksseitigen Grenzwert.

Für \(x<-1\) gilt: \(f(x) = \frac{1}{2}(x+1)^2 -2\)

\(\Rightarrow \mylim{{-1}^{\color{red}-}} {f(x)} = \mylim{{-1}^{\color{red}-}} {\frac{1}{2}(x+1)^2 -2}\)
\(\phantom{\Rightarrow \mylim{{-1}^{\color{red}-}} {f(x)}} = \frac{1}{2}({\color{red}{-1}}+1)^2 -2 = -2\)

Wir stellen also fest: \(\mylim{ {-1}^{\color{forestgreen}{+}}}{f(x)} = \mylim{{-1}^{\color{red}-}} {f(x)} = f(-1)\)

Folglich ist die Funktion \(f\) an der Stelle \(x_0 = -1\) stetig.

Die Funktion \(f\) kann bei \(x_0 = -1\) also tatsächlich sogar differenzierbar sein. Das müssen wir nun überprüfen.

2. Schritt: Berechnung des linksseitigen Grenzwerts der Sekantensteigung  \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\)

Wir befinden uns nun links von \(-1\), also gilt \(x<-1\).

Für \(x<-1\) gilt: \(f(x)={\color{blue}{\frac{1}{2}(x+1)^2 -2}}\).

Wir verwenden diesen Term für \(f(x)\), um damit den linksseitigen Grenzwert der Sekantensteigung zu berechnen.

ACHTUNG:

Wir müssen dem Drang widerstehen, sofort für \(x\) den Wert \(-1\) einzusetzen, denn sonst steht unter dem Bruchstrich \(-1-(-1)\), und das ist \(0\).

Division durch \(0\) ist aber verboten.

FALSCH:

\(\limb{{\color{red}{-1}}^{–}}{\frac{f(x)-f({\color{black}{-1}})}{x-({\color{black}{-1}})}}\) \(= \frac{f({\color{red}{-1}})-f(-1)}{{\color{red}{-1}}-(-1)}=\frac{0}{0}\) \(\lightning\)

Wir bleiben geduldig und vereinfachen den Bruchterm soweit wie möglich.

Aus der Stetigkeitsuntersuchung aus Schritt 1 wissen wir bereits: \(f({\color{black}{-1}}) = {\color{orange}{-2}}\).

Schließlich kommen wir zu einem Bruchterm, bei dem sich der Faktor \((x+1)\) kürzen lässt, wodurch der kritische Nenner verschwindet.

Da \(\frac{1}{2}(x+1)\) der Term einer ganzrationalen Funktion ist, stimmt der Grenzwert mit dem Funktionswert überein, also dürfen wir nun endlich \(x=-1\) einsetzen.

RICHTIG:

\(\limb{ {\color{red}{-1}}^{–}}{\frac{f(x)-f({\color{black}{-1}})}{x-({\color{black}{-1}})}}\)

\(= \limb{ {\color{red}{-1}}^{–}}{\frac{{\color{blue}{\frac{1}{2}(x+1)^2 -2}}-({\color{orange}{-2}})}{x+1}}\)

\(= \limb{ {\color{red}{-1}}^{–}}{\frac{\frac{1}{2}(x+1)^2}{x+1}}\)

\(= \mylim{{\color{red}{-1}}^{–}}{\frac{1}{2}(x+1)}\)

\(= \frac{1}{2}({\color{red}{-1}}+1) = 0\)

3. Schritt: Berechnung des rechtsseitigen Grenzwerts der Sekantensteigung  \(\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}\)

Wir befinden uns nun rechts von \(-1\), also gilt \(x>-1\).

Für \(x>-1\) gilt: \(f(x)={\color{blue}{-\frac{1}{4}(x-1)^2 -1}}\).

Wir verwenden diesen Term für \(f(x)\), um damit den linksseitigen Grenzwert der Sekantensteigung zu berechnen.

Wir vereinfachen den Bruchterm wieder soweit wie möglich.

Von der Berechnung des linksseitigen Grenzwerts haben wir gelernt, dass sich der Faktor \((x+1)\) kürzen lassen muss.

Das ist aber erst möglich, wenn sich der Zähler (also der Term über dem Bruchstrich) faktorisieren lässt, wobei einer der Faktoren \((x+1)\) lauten muss.

Faktorisierung des Zählers \(z(x)=-\frac{1}{4} x^2+\frac{1}{2} x+\frac{3}{4}\)

Sind \(x_1, x_2\) die Lösungen von \(ax^2+bx+c = 0\),
so folgt: \(ax^2+bx+c = a\cdot (x-x_1)\cdot (x-x_2)\).

Anwendung auf \(z(x)\):

\(z(x)=0 \Rightarrow -\frac{1}{4} x^2+\frac{1}{2} x+\frac{3}{4}=0\)

\(\Rightarrow x_{1, 2} = \frac{-b\pm\sqrt{b^2-4ac}}{2a} = \frac{-{\frac{1}{2}}\pm \sqrt{\left(\frac{1}{2}\right)^2-4\cdot{\left(-\frac{1}{4}\right)}\cdot{\frac{3}{4}}}}{2\cdot{\left(-\frac{1}{4}\right)}}\)

\(\Rightarrow x_{1} = -1, x_2 = 3\)

\(\Rightarrow z(x) = -\frac{1}{4}(x+1)(x-3)\).

Die Faktorisierung des Zählers gelingt mithilfe der Nullstellen, so dass sich anschließend tatsächlich wieder der Term \((x+1)\) kürzen lässt.

Da \(-\frac{1}{4} (x-3) \) der Term einer ganzrationalen Funktion ist, stimmt der Grenzwert mit dem Funktionswert überein, also dürfen wir nun endlich \(x=-1\) einsetzen.

\(\limb{{\color{red}{-1}}^{+}}{\frac{f(x)-f({\color{red}{-1}})}{x-({\color{red}{-1}})}}\)

\(= \limb{{\color{red}{-1}}^{+}}{\frac{{\color{blue}{-\frac{1}{4}(x-1)^2 -1}}-({\color{orange}{-2}})}{x+1}}\)

\(= \limb{{\color{red}{-1}}^{+}}{\frac{-\frac{1}{4}(x-1)^2 +1}{x+1}}\)

\(= \limb{{\color{red}{-1}}^{+}}{\frac{-\frac{1}{4} x^2+\frac{1}{2} x+\frac{3}{4} }{x+1}}\)

\(= \limb{{\color{red}{-1}}^{+}}{\frac{-\frac{1}{4} (x+1)(x-3) }{x+1}}\)

\(= \mylim{{\color{red}{-1}}^{+}}{ -\frac{1}{4} (x-3) }\)

\(=  -\frac{1}{4} ({\color{red}{-1}}-3) =  1\)

Zusammenfassung und Folgerung:

\(\limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{–}}}{\frac{f(x)-f({\color{black}{-1}})}{x-({\color{black}{-1}})}} = 0\)
\(\limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{black}{-1}})}{x-({\color{black}{-1}})}} = 1\)

D.h. \(\limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{–}}} {\frac{f(x)-f({\color{black}{-1}})}{x-({\color{black}{-1}})}} \neq \limb{{\color{red}{-1}}^{\color{black}{+}}}{\frac{f(x)-f({\color{black}{-1}})}{x-({\color{black}{-1}})}}\)

Also ist \(f\) bei \({\color{red}{x_0=-1}}\) nicht differenzierbar.
Somit kann auch \(f\) insgesamt nicht differenzierbar sein.

Zusammen mit der im 1. Schritt nachgewiesenen Stetigkeit folgt, dass der Graph von \(f\) bei \(x_0=-1\) einen Knick hat.

 

 

Testen Sie Ihr Wissen: Differenzierbarkeit 1

Testen Sie Ihr Wissen: Differenzierbarkeit 2