\(\newcommand{\IR}{\mathrm{I\!R}} \newcommand{\curvelinks}{\style{display: inline-block; transform: rotate(0.5turn);}{\curvearrowleft}}\newcommand{\abl}[1]{{#1}^{\large\prime}}\newcommand{\abb}[1]{{#1}^{\large\prime \prime}}\newcommand{\fs}[1]{{#1}^{\large\prime}}\newcommand{\fss}[1]{{#1}^{\large\prime \prime}}\)Nullstellen und ihre Vielfachheit

Im Kapitel zur Linearfaktorform quadratischer Funktionen wurde bereits festgestellt, dass Funktionsgraphen ein besonderes Verhalten an der Nullstelle zeigen, wenn die Nullstelle mehrfach im Funktionsterm auftritt. Zur Erinnerung sind hier erneut die Graphen der beiden quadratischen Funktionen mit den Funktionsgleichungen \(f(x)=(x+1)(x-2)\) (links) und \(f(x)=-\frac12 (x-1)^2\) (rechts) abgebildet:

Im Falle des rechten Funktionsgraphen wird die \(x\)-Achse bei der Nullstelle nicht geschnitten, sondern berührt. Zur Erinnerung: da der Linearfaktor \( (x-1)\) im zweiten Funktionsterm doppelt vorkommt, heißt \(x=1\) doppelte Nullstelle von \(f\). Dies können wir verallgemeinern:

Definition: \(k\)-fache Nullstelle

Tritt ein Linearfaktor im Funktionsterm einer Funktion \(f\) \(k\)-fach auf (besitzt der Linearfaktor also den Exponenten \(k\)) als \( (x-x_1)^k\), so heißt \(x_1\) \(k\)-fache Nullstelle der Funktion \(f\). Man nennt \(k\) auch die Vielfachheit der Nullstelle \(x_1\).

Nachfolgend soll nun der Einfluss der Vielfachheit einer Nullstelle auf das Verhalten der Funktionsgraphen an der Nullstelle untersucht werden. Hierfür sind die Graphen der Funktionen auf der Definitionsmenge \(\IR\) mit den folgenden Funktionstermen nachfolgend abgebildet.

\[\begin{array}{llc}f_1(x)&=&x-1\hspace{2cm}&f_2(x)&=&(x-1)^2\\f_3(x)&=&(x-1)^3\hspace{2cm}&f_4(x)&=&(x-1)^4\end{array}\]

Überlegen Sie sich vor betrachten der Graphen, welche Nullstelle die Funktionen \(f_1\) bis \(f_4\) besitzen und welche Vielfachheit zu ihr gehört.

Alle Funktionen besitzen die Nullstelle \(x=1\), die Vielfachheit steigt von einfach bei \(f_1\) bis vierfach bei \(f_4\).

\(f_1(x)=x-1\)

\(f_2(x)=(x-1)^2\)

\(f_3(x)=(x-1)^3\)

\(f_4(x)=(x-1)^4\)

Versuchen Sie nun Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verhalten der Funktionsgraphen in Abhängigkeit der Vielfachheit der Nullstelle abzuleiten.

Suchen Sie Gemeinsamkeiten zwischen der einfachen und dreifachen sowie zwischen der doppelten und vierfachen Nullstelle. Suchen Sie Unterschiede zwischen den geraden und ungeraden Vielfachheiten.

Die Funktionsgraphen von \(f_1\) und \(f_3\) – also diejenigen mit ungeraden Vielfachheiten – wechseln an der Nullstelle das Vorzeichen von \(-\) (Graph verläuft unterhalb der \(x\)-Achse) zu \(+\) (Graph verläuft oberhalb der \(x\)-Achse). Bei den Funktionen \(f_2\) und \(f_4\), deren Nullstelle eine gerade Vielfachheit besitzt, berühren die Graphen die \(x\)-Achse lediglich, verlaufen aber links und rechts der Nullstelle oberhalb der \(x\)-Achse. Auch diese Beobachtung lässt sich verallgemeinern:

Verhalten von Funktionsgraphen in Abhängigkeit der Vielfachheit von Nullstellen

Ist \(x_n\) eine Nullstelle der Funktion \(f\) mit gerader Vielfachheit (also doppelt, vierfach, …), so berührt der Graph \(G_f\) die \(x\)-Achse, wechselt aber nicht das Vorzeichen. Je nach Leitkoeffizient liegt der Graph also dauerhaft unter oder über der \(x\)-Achse.

Ist \(x_n\) eine Nullstelle der Funktion \(f\) mit ungerader Vielfachheit (also einfach, dreifach, …), so schneidet der Graph \(G_f\) die \(x\)-Achse und wechselt deshalb das Vorzeichen. Je nach Leitkoeffizient ist der Vorzeichenwechsel von \(-\) zu \(+\) (Graph schneidet die \(x\)-Achse „von unten nach oben“) oder von \(+\) zu \(-\) (Graph schneidet die \(x\)-Achse „von oben nach unten“). Ab einer ungeraden Vielfachheit von drei verläuft der Vorzeichenwechsel mit einem Plateu, also einem abgeflachten Verlauf.

Mit steigender Vielfachheit verläuft der Funktionsgraph in der Nähe der Nullstelle immer flacher, er scheint auf einem kleinen Intervall auf der \(x\)-Achse zu liegen. Tatsächlich hat der Funktionsgraph aber stets nur einen gemeinsamen Punkt mit der \(x\)-Achse und verläuft nur so nah an der \(x\)-Achse, dass es mit bloßem Auge nicht erkennbar ist.

Rechnerischer Nachweis für die dritte Beobachtung:

Betrachtet man \(f_4\) von oben und wählt einen \(x\)-Wert in der Nähe der Nullstelle \(x=1\), also z.B. \(x=1,1\), dann ist der zugehörige Funktionswert \(f_4 (1,1)=(1,1-1)^4 =0,1^4=0,0001\). Der Wert ist zwar sehr nahe an \(0\), aber eben trotzdem von \(0\) verschieden, so dass der zugehörige Graphenpunkt nahe an der \(x\)-Achse, aber nicht darauf liegt.

Linearfaktorform

Wie von quadratischen Funktionen bekannt, können Funktionen natürlich auch mehr als eine Nullstelle besitzen. Kombiniert man das eben erlernte Wissen zu Nullstellen und ihren Vielfachheiten, ergibt sich die folgende Darstellungsform ganzrationaler Funktionen:

Definition: Linearfaktorform

Ist \(f\) eine ganzrationale Funktion mit der Funktionsgleichung \(f(x)=a(x-x_1)^{k_1}\cdot (x-x_2)^{k_2}\cdot … \cdot (x-x_n)^{k_n}\), so besitzt die Funktion die Nullstellen \(x_1, x_2, …, x_n\) mit den Vielfachheiten \(k_1, k_2, …, k_n\).

Den Grad der Funktion \(f\) erhält man durch Ausmultiplizieren der höchsten \(x\)-Potenzen der einzelnen Faktoren. \(a\in \IR\) ist wie bisher der Leitkoeffizient.

Hat man eine Funktion \(f\) in Linearfaktorform gegeben, so kann man mit wenigen Schritten den Funktionsgraphen skizzieren. Hierbei muss man nacheinander folgende Schritte durchlaufen – links die Schrittfolge allgemein, rechts anhand des Beispiels \(f(x)=-\frac12 (x-2)^2 (x+1)(x+2)\):

Schrittfolge:

  1. Nullstellen und Vielfachheiten aus dem Funktionsterm ablesen
  2. Grad der Funktion bestimmen
  3. Globalverlauf des Graphen aus Grad und Leitkoeffizient ermitteln
  4. Graph skizzieren

Im Beispiel:

  1. \(x_1=2\) (doppelt), \(x_2=-1\) (einfach), \(x_3=-2\) (einfach)
  2. Grad von \(f\): Ausmultiplizieren der höchsten \(x\)-Potenzen der einzelnen Faktoren, also
    \(x^2 \cdot x \cdot x = x^4 \quad \Rightarrow \quad \) Grad von \(f\): \(4\)
    Es gilt also:
    \(f(x)=-\frac12 (x-2)^2 (x+1)(x+2) = -\frac12 x^4 + … \)
  3. Leitkoeffizient ist negativ und Grad ist gerade \(\Rightarrow G_f\) verläuft aus dem III. in den IV. Quadranten
    (\(G_f\) verläuft von „links unten nach rechts unten“)

Mit einer solchen schnellen Skizze des Funktionsgraphen lassen sich zwar keine exakten Punkte des Funktionsgraphen bestimmen (mit Ausnahme der Schnittpunkte mit der \(x\)-Achse), für eine Idee über den Vorzeichenverlauf der Funktion oder das Lösen von Ungleichungen genügt sie allemal.

Bevor in den nächsten Kapiteln verschiedene Verfahren zur Bestimmung von Nullstellen betrachtet werden, wenn die Funktion nicht in Linearfaktorform gegeben ist, können Sie nachfolgend zu weiteren Funktionen die obigen Schritte üben. Für die Teilaufgaben e) und f) sind Hinweise verfügbar, die Sie bei Schwierigkeiten unterstützen können.

Aufgaben

Ermitteln Sie zu den nachfolgenden Funktionen die Nullstellen mit ihren Vielfachheiten. Skizzieren Sie anschließend die zugehörigen Funktionsgraphen unter Ausnutzung von Grad und Leitkoeffizient.

a) \(f(x)=\frac23 (x-1)(x+1)(x-2)(x+2)\)

b) \(g(x)=-1,5(x+0,5)^2(x-1)^2\)

c) \(h(x)=2(x-3)^3(x+1)^2\)

d) \(i(x)=(x+2,5)(x-2)^4\)

e) \(j(x)=(x^2-1)(x-3)^3\)

f) \(k(x)=\frac38(x+2)(x-1)(x^2+2)\)

\(f(x)=\frac23 (x-1)(x+1)(x-2)(x+2)\)

  1. \(x_1=1\) (einfach), \(x_2=-1\) (einfach), \(x_3=2\) (einfach), \(x_4-2\) (einfach)
  2. \(x \cdot x \cdot x \cdot x = x^4 \quad \Rightarrow \quad\) \(f\) hat Grad \(4\)
    \(f(x)=\frac23 (x-1)(x+1)(x-2)(x+2) = \frac23 x^4+ … \)
  3. Leitkoeffizient ist positiv und Grad ist gerade \(\Rightarrow G_f\) verläuft aus dem II. in den I. Quadranten

\(g(x)=-1,5(x+0,5)^2(x-1)^2\)

  1. \(x_1=-0,5\) (doppelt), \(x_2=1\) (doppelt)
  2. \(x^2 \cdot x^2 = x^4 \quad \Rightarrow \quad \) \(g\) hat Grad \(4\)
    \(g(x)=-1,5(x+0,5)^2(x-1)^2 = -1,5 x^4+ … \)
  3. Leitkoeffizient ist negativ und Grad ist gerade \(\Rightarrow G_g\) verläuft aus dem III. in den IV. Quadranten

\(h(x)=2(x-3)^3(x+1)^2\)

  1. \(x_1=3\) (dreifach), \(x_2=-1\) (doppelt)
  2. \(x^3 \cdot x^2 = x^5 \quad \Rightarrow \quad \) \(h\) hat Grad \(5\)
    \(h(x)=2(x-3)^3(x+1)^2 = 2 x^5+ … \)
  3. Leitkoeffizient ist positiv und Grad ist ungerade \(\Rightarrow G_h\) verläuft aus dem III. in den I. Quadranten

\(i(x)=(x+2,5)(x-2)^4\)

  1. \(x_1=-2,5\) (einfach), \(x_2=2\) (vierfach)
  2. \(x \cdot x^4 = x^5 \quad \Rightarrow \quad \) \(i\) hat Grad \(5\)
    \(i(x)=(x+2,5)(x-2)^4 = x^5+ … \)
  3. Leitkoeffizient ist positiv und Grad ist ungerade \(\Rightarrow G_i\) verläuft aus dem III. in den I. Quadranten

Der erste Faktor \((x^2-1)\) ist kein Linearfaktor, da der Exponent in der Klammer und nicht außerhalb steht. Versuchen Sie zunächst aus diesem ersten Faktor die Nullstellen zu berechnen.

\(j(x)=(x^2-1)(x-3)^3\)
Der erste Faktor \((x^2-1)\) ist nicht linear. Die Nullstellen dieses Faktors können nicht direkt abgelesen werden. Sie müssen separat berechnet werden.

\(j(x)=0 \quad \Rightarrow \quad (x^2-1)(x-3)^3=0\) (Satz vom Nullprodukt anwenden)
\((x^2-1)=0 \quad \Rightarrow x^2=1 | \sqrt \quad \Rightarrow \quad x_1=1, x_2=-1 \)
\((x-3)^3=0 \quad \Rightarrow x-3=0 \quad \Rightarrow x_3 = 3\)

  1. \(x_1=1\) (einfach), \(x_2=-1\) (einfach), \(x_3=3\) (dreifach)
  2. \(x^2 \cdot x^3 = x^5 \quad \Rightarrow \quad\) \(j\) hat Grad 5
    \(j(x)=(x^2-1)(x-3)^3 = x^5+ … \)
  3. Leitkoeffizient ist positiv und Grad ist ungerade \(\Rightarrow G_j\) verläuft aus dem III. in den I. Quadranten

Der Faktor \((x^2+2)\) kann nie den Wert \(0\) annehmen, da \(x^2\) stets größer oder gleich \(0\) ist und durch \(+2\) das Ergebnis immer positiv ist. Diese Klammer führt also zu keiner weiteren Nullstelle der Funktion \(k\).

\(k(x)=\frac38(x+2)(x-1)(x^2+2)\)

Wie im Hinweis beschrieben, liefern nur die ersten beiden Linearfaktoren Nullstellen der Funktion \(k\), da der Term \((x^2+2)\) immer ungleich \(0\) ist.
\(k(x)= 0 \quad \Rightarrow \quad \frac38(x+2)(x-1)(x^2+2)=0\)
\((x^2+2)=0 \quad \Rightarrow \quad x^2=-2\) (falsche Aussage)

  1. \(x_1=-2\) (einfach), \(x_2=1\) (einfach)
  2. \(x \cdot x \cdot x^2 = x^4 \quad \Rightarrow \quad \) \(k\) hat Grad \(4\)
    \(k(x)=\frac38(x+2)(x-1)(x^2+2) = \frac38 x^4 +… \)
  3. Leitkoeffizient ist positiv und Grad ist gerade \(\Rightarrow G_k\) verläuft aus dem II. in den I. Quadranten