Die Charakterisierung einer literarischen Figur im Bereich Epik
Lesen Sie zunächst den folgenden Text aufmerksam durch.






1. Die Aufgabenstellung
Die literarische Charakterisierung ist die Antwort auf die Frage, welches Gesamtbild einer Figur beim Leser aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Aussagen und Gedanken entsteht. Vor der Ausarbeitung der Charaktereigenschaften einer Figur wird in der Abschlussprüfung im Bereich 2 (Epik) immer eine kurze Inhaltsangabe des vorliegenden Ausgangstextes gefordert.
Der Kern einer A-Aufgabe zum Textauszug aus „About a boy“ könnte also wie folgt aussehen:
Fassen Sie den Romanauszug knapp zusammen und charakterisieren Sie Will Freeman.
Diese Aufgabenstellung kann durch zusätzliche Schwerpunktsetzungen noch erweitert werden, die auf den entsprechenden Seiten genauer erläutert werden. Hier konzentrieren wir uns im Folgenden ganz auf die Zusammenfassung und die Charakterisierung der Figur.
2. Die Zusammenfassung eines epischen Textes
Jede Epik-Aufgabe beginnt mit einer Zusammenfassung des Ausgangstextes. Dazu wird der Text zuerst mehrmals aufmerksam gelesen und im Idealfall im Zuge dessen gleich in Sinnabschnitte unterteilt. Achten Sie auf Ortswechsel, Zeitsprünge, Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive, die Einführung neuer Figuren, etc. Dies sind Elemente, die dem Text eine Struktur geben. Für die Zusammenfassung ist die wichtigste Anforderung, den Originaltext zu abstrahieren, damit in der Zusammenfassung nicht einfach das Geschehen nochmals nacherzählt wird. Wichtiges gilt es somit von Unwichtigem zu trennen und die Vorgänge zusammenzufassen, um eine Verknappung zu erreichen.
Folgende Struktur (in drei Schritten) ist für eine Zusammenfassung immer empfehlenswert:
1. Quellensatz
Im Quellensatz werden die wichtigsten Informationen zur Quelle des Ausgangstextes verarbeitet. Diese finden Sie meist am Ende der Textvorlage. Relevant sind üblicherweise: Autor, Titel des Textes, Textsorte, Erscheinungsjahr und Erscheinungsort.
2. Kernsatz
Der Kernsatz versucht den Inhalt der vorliegenden Erzählung in einem Satz wiederzugeben. Er ist der Versuch, die Frage „Wovon handelt der Text“ in einem Satz zu beantworten.
3. Chronologische Wiedergabe der wichtigsten Handlungsschritte
An den Kernsatz anschließend wird der Ablauf der Erzählung in wenigen Sätzen zusammengefasst dargestellt. Besonders wichtig ist hier die Verwendung von „Metasprache“, die den Leser durch die Struktur des vorliegenden Textes führt. Zeigen Sie also mithilfe von Strukturwörtern und Formulierungen wie „Zu Beginn des Text“, „Im Anschluss“, „Zur Mitte der Szene“, „Der Romanauszug endet damit, dass…“ wo in der Geschichte Sie sich gerade befinden und wie der Text aufgebaut ist.
Achten Sie hier auch auf eine Balance zwischen innerer und äußerer Handlung. Oft enthalten die Texte Passagen mit ausführlichen Reflexionen und Gedankengängen der Figuren, auch wenn äußerlich gerade nichts passiert. Diese inneren Vorgänge können genauso relevant für den Inhalt des Textes sein wie die äußeren Ereignisse.
Aufgabe zur Textzusammenfassung
Fassen Sie den Romanauszug knapp zusammen.
(Bilden Sie also einen Quellensatz, einen Kernsatz, und stellen Sie den Ablauf der Geschichte von Anfang bis Ende in wenigen Sätzen dar.)
Lösungsvorschläge:
3. Gesamtaufbau des Aufsatzes einer Charakterisierungsaufgabe
Mit der Inhaltsangabe ist nun der erste Teil einer A-Aufgabe im Bereich Epik fertiggestellt.
Den Gesamtaufbau eines solchen Aufsatzes kann man wie folgend darstellen (wobei die fertige Zusammenfassung als Einleitung dient):

4.1 Charakterisieren einer lit. Figur – Die Deutungshypothese
Die literarische Charakterisierung ist die Antwort auf die Frage, welches Bild des Charakters einer Figur beim Leser aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Aussagen und Gedanken entsteht.
Vor der Ausarbeitung einzelner Charaktereigenschaften steht die Deutungshypothese. Sie ist der Versuch eines Gesamt-Interpretationsansatzes zur Figur, der dann mit Hilfe der Ausarbeitung der Charaktereigenschaften veranschaulicht wird. Ähnlich wie der Kernsatz versucht, den Inhalt des Textes auf einen Satz zu reduzieren, versucht die Deutungshypothese den Charakter der Figur auf eine Aussage, einen Typ zu reduzieren.
Als Leitfrage könnten dienen:
Welches Gesamtbild der Figur entsteht beim Lesen? Ist diese Figur ein bestimmter Typ von Figur?
Diese Vorgehensweise entspricht zwar dem Gesamtaufbau des Aufsatzes, oft ist es jedoch schwierig, schon am Anfang der Bearbeitung der Aufgabe zu einer stimmigen Deutungshypothese zu gelangen, da man sich mit dem Text und der Figur noch gar nicht so intensiv befasst hat. Wenn Sie also noch keine gute DHT zu Beginn im Kopf haben, lassen Sie zunächst einige Zeilen frei und ergänzen die DHT später. Oft gelangt man erst zu einem guten Gesamtbild, wenn man sich intensiv mit den einzelnen Charakterzügen der Figur befasst und diese ausgearbeitet hat.
Aufgabe zum Bilden einer Deutungshypothese
Aufgabe: Formulieren Sie eine Deutungshypothese zu Will Freeman.
Wenn Sie noch keine Idee haben, überspringen Sie diesen ersten Schritt, bis die Sammlung der Charaktereigenschaften abgeschlossen ist. Dann kennen Sie die Figur besser.
Mögliche Lösung:
4.2 Charakterisieren einer lit. Figur – Charaktereigenschaften sammeln
Den Kern jeder Charakterisierung bildet die Bearbeitung der Charaktereigenschaften einer Figur.
Hierbei ist eine Herangehensweise empfehlenswert, die man sich analog zur Bearbeitung der Argumente einer Erörterung vorstellen kann.
Im ersten Schritt werden „Argumente“ gesammelt; hier sind das die Eigenschaften, die man der Figur zuweist.
Vorsicht! Äußerliche Merkmale wie sportlich oder gutaussehend zu sein sind nicht als Thesen für die Charakterisierung geeignet. Es geht um die inneren Persönlichkeitsmerkmale, die aus dem Sprechen, Denken und Handeln einer Figur hervorgehen.
Aufgabe zum Herausarbeiten der Charaktereigenschaften
Sammeln Sie Charaktereigenschaften für Will Freeman.
(Legen Sie eine stichpunktartige Stoffsammlung an, indem Sie eine These zur Figur aufstellen und dazu Textstellen notieren, die diese Eigenschaft zeigen)
Beispiel:
- Die Figur verhält sich taktlos, gefühllos, wenig empathisch
- Will kümmert sich nicht um die Gefühle seiner „Freunde“
- er äußert sich innerlich ihnen gegenüber mehrmals abschätzig
(Z. 80, 110ff.,)
4.3 Charakterisieren einer lit. Figur – Charaktereigenschaften ausformulieren
Wie eingangs erwähnt, lassen sich bei der Bearbeitung der Charaktereigenschaften Ähnlichkeiten zur Vorgehensweise bei argumentierenden Texten beschreiben. Wie ein Argument zu einer These beginnt auch die Charakterisierung anfangs mit einer Behauptung (zur Persönlichkeit einer Figur). Diese wird dann durch die Analyse von zwei geeigneten Textbelegen ausführlich erklärt, um somit in eigenen Worten zu beweisen und zu veranschaulichen, dass die ursprüngliche Behauptung korrekt ist.
Für jede Charaktereigenschaft, die einer Figur zugewiesen wird, sollten Sie die folgende Vorgehensweise im Hauptteil der Arbeit wiederholen:
- These zur Figur aufstellen (Die Figur ist wenig empathisch.)
- Erklärung der Eigenschaft (Personen, die über wenig Empathie verfügen erkennt man daran, dass…)
- Verweis auf die erste geeignete Textstelle mit Zitat (Will Freeman verhält sich gegen Ende des Ausschnitts gefühllos, als er…)
- Analyse des ersten Textbelegs (Wenig empathisch ist er hier, weil…)
- Verweis auf eine zweite geeignete Textstelle mit Zitat (s.o.)
- Analyse des zweiten Textbelegs (s.o.)
- Rückführung (Beide Textbelege zeigen somit…)
Besonders die gelb markierten Schritte sind zu beachten, denn hier verbirgt sich der mit Abstand größte Teil der Eigenleistung einer Charakterisierungsaufgabe. Es genügt nicht, Textstellen gefunden zu haben, in der sich die Figur entsprechend zur These verhält und diese zu zitieren. Erst eine ausführliche Erklärung des Belegs in eigenen Worten liefert den Beweis, dass das Verhalten der Figur tatsächlich so ist, wie in der These behauptet.
Analog zur Bearbeitung einer Erörterung ist es ebenfalls sinnvoll, die Eigenschaften nach einem Steigerungsprinzip zu ordnen, sodass weniger zentrale Eigenschaften zu Beginn und die wichtigsten Aspekte der Figur am Ende des Hauptteils aufgezeigt werden.
Aufgabe zum Ausformulieren einer Eigenschaft
5. Der Schluss der Charakterisierung
Für den Schlussteil der Charakterisierung gibt es verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung.
- Einen Rückbezug zur Deutungshypothese aufstellen
Unter diesem Aspekt kann ein abschließendes Fazit die Deutungshypothese nochmals im Lichte der Ergebnisse aus dem Hauptteil aufgegriffen und bewertet werden. Da die Deutungshypothese im Idealfall eine übergeordnete These zu den Charaktereigenschaften bildet, sollten sich die Eigenschaften, die im Hauptteil erarbeitet wurden nun rückblickend wie beweise für diese These lesen lassen. - Einen interessanten Gegensatz, Widerspruch oder Kontrast aufzeigen
In der Regel sind die in der Fachabiturprüfung zu charakterisierenden Figuren komplex und haben recht unterschiedliche Eigenschaften, die man im Schluss kategorisieren kann. So bilden sich Gegensätze oder Kontraste, deren Ursache meist das zentrale Problem im Text ist, mit dem die Figuren zu kämpfen haben. So kann man eventuell positive und negative Seiten einer Figur im Schluss gegenüberstellen oder zeigen, dass ein Protagonist aufgrund einer speziellen Lebenssituation auch gegensätzliche Eigenschaften haben kann.
Aufgabe zum Schluss
Sammeln Sie Ideen für ein Fazit zur Figur Will Freeman.
Lösung aufklappen:
6. Varianten der Aufgabenstellung
Manchmal weichen die Charakterisierungsaufgaben auch etwas vom oben beschriebenen 08-15 Muster ab und enthalten kleine Varianten.
Beispiel (aus der Abschlussprüfung 2019 – Themenbereich Drama):

Auch wenn man hier mit der unerwarteten Aufgabe konfrontiert wird, gleich zwei Figuren zu charakterisieren, sollte man deswegen nicht in Panik ausbrechen oder gleich zu einer anderen Aufgabe wechseln. Die grundlegende Vorgehensweise ändert sich durch diese Variante nicht. Auch kann es nicht Ziel der Aufgabe sein, jetzt doppelt so viel Arbeit zu leisten. Stattdessen muss man nun nach einer möglichst effektiven Strategie suchen, um nicht einen höheren Arbeitsaufwand zu betreiben, der dann dazu führt, dass man in Zeitnot gerät:
- entweder ergänzen sich die Figuren so, dass es möglich ist, gemeinsame Thesen zu bilden, die wechselweise an Textbelegen zu jeder Figur bewiesen werden
- oder die Figuren sind von vornherein so unterschiedlich, dass sie klare Kontraste bilden, die man anhand der Textbelege gegenüberstellen kann
Weitere Besonderheiten können die Schwerpunktsetzungen zur Charakterisierung enthalten, bei denen man in Verknüpfung mit den Charaktereigenschaften noch genauer auf sprachliche oder stilistische Besonderheiten, Figurenkonstellationen oder das Gesprächsverhalten zwischen den Figuren eingehen muss.