Komplexe technische Systeme – kontrollierte Kernspaltung

Kettenreaktion

Bei der Spaltung eines U-235-Kerns entstehen im statistischen Mittel 2,3 freie Neutronen. Werden die freien Neutronen benutzt, um ihrerseits U-235-Kerne zu spalten, so kommt es zu einer Kettenreaktion.

In der Abbildung ist eine Kettenreaktion schematisch dargestellt. Nur durch sie ist es möglich, mittels Spaltung Energie in größeren Mengen freizusetzen. Würde jedes der 2 bis 3 frei werdenden Spaltneutronen wieder eine Spaltung verursachen, so würde die Anzahl der Spaltungen lawinenartig anwachsen. Diese unkontrollierte Kettenreaktion wird bei der Atombombe ausgenutzt. Um die Kettenreaktion genauer zu erfassen, definiert man den Vermehrungsfaktor k, der angibt, um welchen Faktor sich die Anzahl der nachfolgenden Spaltungen im Vergleich zu der Anzahl der vorherigen Spaltungen (von einer Generation zur nächsten) durchschnittlich verändert. Es sind drei Fälle zu unterscheiden:

k < 1: Anzahl der Spaltungen abnehmend, z.B. beim Herunterfahren eines Kernreaktors → unterkritisch k = 1: Anzahl der Spaltungen konstant bleibend, z.B. im stationären Betrieb des Reaktors → kritisch k > 1: Anzahl der Spaltungen zunehmend, z.B.  beim Hochfahren eines Reaktors → überkritisch

Um eine Kettenreaktion aufrechterhalten zu können, muss eine Mindestmenge, die kritische Masse, an Spaltstoff vorhanden sein. Ist die kritische Masse unterschritten, so verlassen zu viele Neutronen ohne Spaltung den Spaltstoff. Die kritische Masse kann verringert werden, wenn man den Spaltstoff mit einem Neutronenreflektor umgibt, der die austretenden Neutronen in das Spaltmaterial zurückwirft.

Wechselwirkung zwischen Neutronen und Kernen

Wenn ein Neutron einen Kern trifft, so ist nicht von vornherein gesagt, dass der Kern gespalten wird. Vielmehr gibt es drei Möglichkeiten, wie Neutron und Kern miteinander reagieren können. Es sind dies Streuung, Absorption und Spaltung. Welche der drei Wechselwirkungen eintritt, hängt u.a. von der Stabilität des Kerns und von der kinetischen Energie des Neutrons ab. Es ist deshalb üblich, Neutronen nach ihrer kinetischen Energie und damit nach ihrer Geschwindigkeit in Gruppen einzuteilen:

a) schnelle Neutronen
b) mittelschnelle Neutronen
c) langsame Neutronen

Die drei o.g. Reaktionen spielen bei der Energiegewinnung durch Kernspaltung eine wichtige Rolle, weswegen sie nachfolgend genauer betrachtet werden:

Spaltung: Beim Beschuss von Kernen mit Neutronen zeigt sich, dass sich Kerne mit gerader Massenzahl (wie z.B. U-238) nur durch energiereiche schnelle Neutronen spalten lassen, während die Spaltung von Kernen mit ungerader Massenzahl (wie z.B. U-235 oder Pu-239) auch durch langsame Neutronen möglich ist. Die drei möglichen Wechselwirkungen zwischen Neutronen und Kernen, Spaltung, Streuung und Absorption, finden gleichzeitig statt, wenn man Kerne mit Neutronen beschießt. Entscheidend ist die Wahrscheinlichkeit, mit der die einzelnen Reaktionen eintreten. Die Spaltung eines U-235- oder Pu-239-Kerns durch langsame Neutronen ist um mehr als 1000-mal wahrscheinlicher als die Spaltung eines U-238-Kerns mit schnellen Neutronen. Man kann deshalb feststellen, dass U-238-Kerne für die Spaltung ungeeignet sind. Die Wahrscheinlichkeit für die Spaltung von U-235-Kernen nimmt aber mit zunehmender Geschwindigkeit der Spaltneutronen ab, so dass langsame Neutronen für die Spaltung von U-235 und auch Pu-239 am besten geeignet sind.

Streuung: Unter Streuung versteht man einen Stoßvorgang, bei dem Neutron und Kern zusammenstoßen und Energie austauschen, selbst aber erhalten bleiben (ähnlich wie zwei aufeinander treffende Billardkugeln). Dadurch wird das Neutron aus seiner Bahn abgelenkt und gibt Energie an den streuenden Atomkern ab, wodurch es an Geschwindigkeit verliert. Diese Abbremsung bewirkt, dass schnelle Neutronen nach einigen Stößen zu langsamen Neutronen werden. Den Bremsvorgang bezeichnet man als Moderation und den Stoff, in dem er stattfindet, als Moderator (Verlangsamer). Da bei der Spaltung von U-235-Kernen zunächst schnelle Neutronen frei werden, zur Spaltung aber langsame Neutronen erforderlich sind, spielt der Moderator in einem Reaktor eine zentrale Rolle. Moderatorstoffe benötigen selbst eine niedrige Massenzahl, damit die Abbremsung der Neutronen möglichst effektiv erfolgt. Folgende Stoffe erweisen sich als geeignete Moderatoren: Wasser, schweres Wasser, Beryllium und Grafit.

Absorption: Unter Absorption wird das Einfangen des Neutrons durch den Kern verstanden, d.h. es kommt zu folgender Kernreaktion: Der neu entstandene Kern ist radioaktiv, zumindest sendet er, da er durch das Einfangen angeregt wird, g-Strahlen aus. Es gibt Stoffe, die die Neigung haben, Neutronen einzufangen. Zu ihnen gehören Lithium, Bor, Cadmium u.a. Diese Stoffe sind im Reaktorkern einerseits erwünscht, weil sie in den Regelstäben enthalten sind, mit denen man überschüssige Neutronen einfangen kann, um beispielsweise den Vermehrungsfaktor auf den Wert k = 1 einregeln zu können. Andererseits entstehen während des Betriebs eines Reaktors durch die Kernspaltung zunehmend Stoffe, die Neutronen einfangen, so dass die Kettenreaktion nach einer gewissen Zeit zum Erliegen käme, wenn diese Stoffe nicht aus dem Reaktor entfernt würden. Diese Neutronenfänger werden als Reaktorgifte bezeichnet. Bei der Konstruktion eines Reaktors müssen Strukturmaterialien verwendet werden, welche keine Tendenz zum Neutroneneinfang besitzen. Das gleiche gilt für den Moderator, da sonst keine Kettenreaktion möglich ist. Hinzu kommt noch, dass die Fähigkeit zum Neutroneneinfang bei manchen Stoffen ganz wesentlich von der kinetischen Energie der Neutronen abhängt.