Übung

Der Schweizer Autor Urs Widmer veröffentlicht 1997 sein Stück „Top Dogs“, das das Dilemma der globalisierten Industrie- und Wohlstandsgesellschaft darstellt. Die Top Dogs, also die Hauptfiguren des Stücks, sind entlassene Manager, die sich in einer Art ,,Auffanggesellschaft“ zusammengefunden haben. Dort arbeiten sie an ihren  sozialen und psychischen Folgen durch den Verlust des Arbeitsplatzes.

Aufgaben (Inhaltszusammenfassung und Figurencharakterisierung)

  1. Fassen Sie den Inhalt des vorliegenden Dramenauszuges knapp zusammen.
  2. Charakterisieren Sie Krause.

Sie sind entlassen, Krause!

KRAUSE Ich hätte das nie gedacht, nie hätte ich das für möglich gehalten, eine Entlassung, was ist das denn schon? Du bist entlassen, na – schön, da bist du eben entlassen, Hundert-tausende sind entlassen, das ist ja keine Schande. Du stehst auf der Straße, auf der stehen Millionen. Da fällst du weiter nicht auf. Dafür ist sie, da, die Straße, irgendwo müssen die Entlassenen ja stehen. Kämpft mit den Tränen.

JENKINS Macht nichts.

KRAUSE Hätt ich nie gedacht, dass ich so aus dem Leim gehe. Als der Henner mir das sagte. – Wir siezen uns zwar, er ist der oberste Boss, Henner Sie, Heinrich Sie, aber was haben wir nicht alles zusammen unternommen! – Als er es mir sagte, zur Tür hat er mich begleitet. Die Hand auf die Schulter gelegt. Grüße an zu Hause. So nett. Sie auch, sage ich. Und kaum war ich draußen, hat es mich nur so geschüttelt, geschluchzt habe ich, aber so was von geschluchzt, ich seh mich wie heut, was sind das jetzt, vier, fünf Monate vielleicht? Ich steh in der Tiefga-rage neben meinem Auto und hämmer den Kopf gegen einen Betonpfeiler. Auch jetzt, wenn ich dran denke, die Tränen … An was soll ich sonst denken … Da. Sehen Sie. Schon geht’s wieder los.

JENKINS Gut. Weiter.

KRAUSE Woher hat der Mensch die vielen Tränen? Ich kann in keine Tiefgarage mehr. Lacht. Ist nicht so schlimm, mein Auto ist eh weg. Meine Mutter konnte nicht weinen, hatte chronisch verstopfte Tränengänge. Aber ich! Kriegt von Bihler ein Taschentuch. Danke. –

JENKINS zu Bihler Danke.

KRAUSE Und dann ging das mit Lichtgeschwindigkeit. Das Auto. Das Haus. Das Apartment in Savognin. Und die Frau, weg, mit allen Kindern, wunderbare Kinder, Sabine und, ja, der andre, der Bub, mir aus dem Gesicht, … Pascal! genau, Pascal: weg ist sie mit beiden. Wohnt jetzt im Seefeld. Sagt, ich sei ein Ungeheuer. Ein sentimentales Ungeheuer. Ein Versager. Ich schlafe nicht mehr. Ich bin todmüde und liege da und kann nicht einschlafen. Ich höre auf die Geräusche im Haus, ob meine Frau, ob sie die Koffer packt, dabei hat sie die Koffer vor Wochen schon gepackt. Kein Mensch im Haus, totenstill. Wie soll ich da schlafen. Ich erwürg die noch, alle drei. Ich bringe mich um. Seil, Strick, in die Limmat, das ist gar nicht so einfach, sich umzubringen. Ein Hotelzimmer nehmen, oberster Stock, da hinunterzu… Ich bring mich um, das ist eins, was sicher ist.

Allgemeines Rumoren bei den andern Klienten. Anteilnahme.

JENKINS Herr Krause, wer wird denn gleich…

KRAUSE Ich. Greift sich in einem jähen Schmerz in den Nacken.  Au.

JENKINS Was ist denn jetzt?

KRAUSE Da. Mein Nacken. Hält ihn schief. Seit ich entlassen bin, bin ich muskulär so … Sehen Sie. Au. Hier auch. Das ist ein Hexenschuss. Ein beginnender Hexenschuss. Der schießt einem ganz unvermutet ins Kreuz. Den spüre ich stundenlang vorher kommen, wie eine Ahnung, eine absolut sichere Ahnung. Jetzt. Da. Auu.

JENKINS Herr Krause, versetzen Sie sich in die Lage Ihres Chefs …

KRAUSE Ich habe Ausschläge seither, Allergien, überall juckt es mich, unerträglich, an den Beinen, im Rücken, im After, Hämorrhoiden, da werden Sie wahnsinnig.

JENKINS Nur so ein Spiel, Herr Krause.

KRAUSE räuspert sich hysterisch Chch. Chch. Immer setzt sich da was fest. Chch. Da hinten. Chchchchchch. Brösel, ein Krümel genügt.

JENKINS Was würden Sie zu sich selber sagen.

KRAUSE  Jetzt! Da! Das Augenlid! Es zuckt immer. Sehen Sie!

JENKINS Was würden Sie zu sich selber sagen, wenn Sie Ihr Chef wären und  sich entlassen müßten?

KRAUSE Ich? Zu mir?

JENKINS Ja.

KRAUSE Ich, ja, Herr Krause, würd ich sagen. Also das ist ja eine seltsame Sache, sich selber.

JENKINS Sie sind der Chef Ihnen gegenüber steht Herr Krause. Zu Bihler. Sie sind so freundlich. Sie sind Herr Krause. Zu Krause. Sie sind gezwungen, Herrn Bihler zu entlassen. Herrn Krause, meine ich. Sich. Ihn. Bitte.

BIHLER Ja also, ich weiß nicht.

KRAUSE Also, Herr Krause. Ich bin gezwungen, Sie zu entlassen. Herr Bihler nickt. Sie haben ja zwar ganz ausgezeichnet, wirklich erstklassig, aber ich bin gezwungen, es tut mir außerordentlich leid, just den besten Mitarbeiter eigentlich … Er kämpft mit den Tränen, wie vorher.

JENKINS Ah, nein, nein, keine Tränen jetzt.

KRAUSE Keine Tränen jetzt, Herr Krause. Heinrich. Sie sind eine Heulsuse, das sage ich Ihnen jetzt ganz offen von Mann zu Mann, ein weinerlicher Waschlappen sind Sie.

BIHLER spielt seine Rolle, weinerlich Ich kann nicht anders, Henner. Es ist stärker als ich.

KRAUSE ahmt ihn angewidert nach Ich kann nicht anders, Henner. Es ist stärker als ich. -Ich kann Sie nicht ausstehen, Heinrich. Krause. Wie Sie dastehen mit Ihrem saublöden Babyface, tun so, als seien Sie ein Adler, Krause, dabei ist Ihre Nase ein einsames Erbstück von Ihrem Vater. DER war ein Adler, dem können Sie nie das Wasser reichen. Sie sind ein Kuckuck allenfalls, eine Ente sind Sie, ein Sittich. Ein Workaholic der dritten Art. Pathologisch. Die anderen Herren der Geschäftsleitung sehen rot, wenn sie Ihren Namen nur schon hören. Haben Sie eigentlich keine Frau?

BIHLER Doch,  ich habe natürlich eine Frau, Sie tragen mir doch immer Grüße für sie auf.

KRAUSE Wissen Sie denn nicht, was eine Frau will am Wochenende? FUN will die am Wochenende, ein kameradschaftliches SHOPPING am Samstagnachmittag, Mann, Krause, dann ein Dinner irgendwo mit einem guten Glas Roten, und dann heim und vielleicht daheim noch einen Schlummerwhiskey, ist Wochenende!, und dann Sex, Krause, Mann, eine Frau will Sex am Samstag!

BIHLER Sex.

KRAUSE Jede Frau will das, jede! Auch eine, die so gut aussieht wie Ihre, Krause. Sie hätten ja auch eine hässlichere heiraten können. Jetzt haben Sie die, und die will Sex am Samstag, und zwar etwas mehr als Beine in die Luft und zweimal rein und raus. Da müssen Sie auch mal Ihre Phantasie ins Spiel bringen. Die haben Sie ja in solchen Fragen, das weiß ich genau, Krause.

BIHLER lächelt stolz, bescheiden, abwehrendKRAUSE Sex ist etwas anderes als Jogging. Ihre Frau will eine richtige Schweinerei mal, etwas, was jede Grenze überschreitet, wo man sich danach voreinander schämt, und es war doch einzigartig herrlich. Hämmern Sie sich das endlich in Ihren behämmerten Schädel,            Krause.

BIHLER Ja, Herr Direktor.

KRAUSE Man könnte sich umbringen Ihretwegen. Einen steifen Nacken kriegt man. Hexenschuss. Alles juckt einen, von unten bis oben. Räuspert sich wie vorher. Hysterisch. Zuckt mit dem Augenlid. Sie sind ein Arschloch. Sie sind ein unerträgliches Arschloch, Krause. Schauen Sie mal in den Spiegel. Wenn ich Ihre Frau wäre, würde ich Ihnen noch gestern davonlaufen. Sie sind entlassen! – Geht das so?

Figuren Krause, Jenkins, Bihler spielen ein Entlassungszenerie in der Chefetage nach:

  • Krause berichtet von seiner Entlassung, er ist verzweifelt, er beklagt den durch die Entlassung bedingten Verlust seines Autos, seiner Familie (Ehefrau, Tochter Sabine und Sohn Pascal) und seines Apartments in Savognin
  • Krauses durch seine Entlassung bedingter Stress äußert sich in psychosomatischen Beschwerden
  • Jenkins fordert Krause auf, in die Rolle seines ehemaligen Chefs zu schlüpfen und seine Entlassung nachzuspielen
  • zuerst zögert Krause ein bisschen, auf das Angebot von Jenkins einzugehen, kommt aber dann dem Angebot nach, indem er sich immer mehr in Rage redet
  • „Krause als Chef“ begleitet die Entlassung „Bihlers als Krause“ mit herben Vorwürfen: er könne seinem erfolgreichen Vater als Manager nicht gleich-kommen und die Bedürfnisse seiner Ehefrau in materieller und sexueller Hinsicht überhaupt nicht befriedigen
  • abschließend beschimpft  „Krause als Chef“‘  „Bihler als Krause“ auf wüste Art und Weise und fragt Jenkins abschließend, ob er so die Entlassung „richtig“ gemacht hätte

Krause kann als Typus eines erfolgsgewöhnten Managers gesehen werden, der durch seine Entlassung völlig aus der Bahn geworfen wird:

  • seine soziale Stellung ist stark an oberflächlichen, konventionellen und materialistischen Werten orientiert: Auto, Ehefrau mit Kind, Apartment im Savognin (vgl. Z. 24ff), Luxuseinkäufe, Dinner, Sex am Wochenende (vgl. Z. 84)
  • er ist ganz stark leistungsorientiert: Vater Krauses als Vorbild (vgl. Z. 78); Sex mit der Ehefrau nur am Wochenende, während der anstrengenden Arbeitswoche kommt man ja nicht  dazu; auch beim Sex muss der Ehefrau einiges „geboten“ werden (vgl. Z. 87)
  • er ist von Minderwertigkeitskomplexen durchzogen:  Minderwertigkeitsgefühle gegenüber seinem Vater; diesen Minderwertigkeitskomplex kompensiert er in extrem abwertendem  Verhalten gegenüber seinem „Untergebenen“ während der „Entlassung“, ganz deutlich wird dies in der Verwendung einer wüsten Beschimpfung: „Sie sind ein unerträgliches Arschloch.“ (Z. 104f.)
  • sein Minderwertigkeitsgefühl äußert sich auch darin, dass er von seinen Managerkollegen ständig Mitleid erheischen will und sich bei Jenkins während der ,,Entlassung“ nachfragt: „Geht das so?“ (Z. 107)

Ganz bezeichnend für Krause ist, dass er die Wertenomen und Verhaltensmuster, die für die Managerkaste gelten, nicht hinterfragt oder sein Verhalten in Zukunft anders ausrichten will: er demaskiert sich selbst durch sein Verhalten als „Krause als Chef“ gegenüber „Bihler als Krause“; obwohl seine psychosomatischen Be-schwerden (vgl. Regieanweisung in Zeile 104) während der Entlassung auftreten, reflektiert er nicht selbstkritisch, dass er sich gegenüber „Bihler als Krause“ noch abwertender verhalten hat, als sein ehemaliger Chef gegenüber ihm.