Funktionale Differenzierung:

Parsons und Luhmann

„Der Begriff ist integraler Bestandteil der Soziologie von Niklas Luhmann, der ihn zur theoretischen Analyse der Gesellschaft verwendet. Beispiele gesellschaftlicher Teilsysteme sind nach Luhmann das „Trennen von wahrem und unwahrem Wissen“ (Wissenschaft) oder „allgemein verbindliches Entscheiden“ (Politik). Klassiker der Differenzierungstheorie sind u. a. Herbert Spencer, Emile Durkheim und Georg Simmel.

Geerbt hat Luhmann das Konzept von Talcott Parsons, in dessen Theorie der Evolution von Gesellschaften es eine Schlüsselrolle spielt. Einig sind sich Parsons und Luhmann darin, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft eine „evolutionäre Errungenschaft“ darstellt. Sie ist geradezu „das“ Kennzeichen der Moderne.

Die Differenz zwischen beiden zeigt sich in den Bezugspunkten der Ansätze: Parsons begreift Funktionen als aus dem normativen Strukturrahmen einer Gesellschaft abgeleitet. Man könnte schlagwortartig sagen: functions follow norms. – Soziales Handeln sei in normative Bezugsschemata eingebettet. Nur so könne ein anomisches Auseinanderdriften der systemischen Eigenrationalitäten verhindert und eine integrative gesamtgesellschaftliche Vernunft garantiert werden.

Luhmanns Perspektive ist anders. Bei ihm sind es autonome Funktionssysteme, die sich ihre Strukturen je nach Bedarf und äußerer Anforderung selbst geben (Autopoiesis). Ob dabei ein übergeordneter Wert bemüht wird oder ob es bloße Kosten-Nutzen-Kalküle sind, die die Strukturwahl bestimmen – dies zu analysieren liegt im Ermessen des (soziologischen) Beobachters.

Funktionssysteme nach Luhmann

Jedes einzelne Teilsystem betrachtet nach Luhmann das Gesamtsystem aus einem anderen Blickwinkel. So beobachtet etwa das Teilsystem Wissenschaft Vorgänge im System nur danach, ob etwas wahr ist oder nicht; das Teilsystem Politik stellt die Frage, ob Macht vergrößert werden kann oder nicht; und die Wirtschaft interessiert sich ausschließlich dafür, ob Zahlungen erfolgen oder nicht. Weitere in diesem Sinne autonome Teilsysteme sind Kunst, Religion, intime Beziehungen, Erziehung, Recht und Familie.

Funktionssysteme im Sinne Luhmanns sind nicht zu verwechseln mit Organisationen (die sich ihrerseits meist primär an bestimmten Funktionssystemen orientieren, wie Parteien an der Politik, Firmen an der Wirtschaft, Galerien an der Kunst, Krankenhäuser an der Medizin). Das Wirtschaftssystem etwa wird überall dort reproduziert, wo eine Zahlung erfolgt, und nicht etwa nur in „der Wirtschaft“ im alltagssprachlichen Sinne (also zwischen Firmen). Auch das Rechtssystem wird nicht nur in Gerichtssälen reproduziert, sondern überall dort in der Welt, wo in einer Kommunikation die Unterscheidung recht/unrecht in Anspruch genommen wird.

„Ein Behördenchef sagt zu der Frau, die gekommen ist, um sich für eine Beförderung ihres Mannes einzusetzen, weil sie sieht, wie sehr er unter der Nichtbeförderung leidet: Ich habe nicht das Recht, mit Ihnen über dienstliche Angelegenheiten zu sprechen. Er sagt es, um sie loszuwerden; aber dies ist nur sein Motiv. Die Kommunikation selbst ist nach unserem Verständnis eine Kommunikation im Rechtssystem.“

[https://de.wikipedia.org/wiki/Funktionale_Differenzierung, aufgerufen am 24.07.20, 13:26]

Aufgaben:

Analysieren Sie diese Kommunikation im Kontext der im weiteren Text folgenden Aspekte: überschaubare Steigerung von Komplexität und unterschiedliche Bewertung durch verschiedene Teilsysteme. Welche Teilsystem konkurrieren hier? Wie bewerten Sie die Qualität des gesellschaftsrationalen Handelns in dieser Konkurrenz der Teilsysteme?

„Das Kommunikationsereignis in diesem Beispiel ist ein Element im Funktionssystem Recht. Wie offiziell oder wie unscheinbar das Ereignis ist, spielt dabei keine Rolle. Das System entsteht dadurch (und erfüllt dann seine Funktion), dass sich mit dieser einfachen Unterscheidung recht/unrecht alle anderen Kommunikationen, die sich an derselben einfachen Unterscheidung orientieren, potenziell miteinander in Bezug setzen lassen. Die Kommunikation reizt das System sogar zur Reproduktion, weil sie Vernetzung mit systemgleichen Kommunikationen sucht (oder behauptet) und Bedarf für weitere Kommunikationen im Rechtssystem in Anspruch nimmt (etwa, wenn man sich gerichtlich über das Problem streitet und die Aussage in Frage gestellt wird).

Aus der Perspektive der Person des Behördenchefs erfüllt das Recht die Funktion, einen Teil seiner Welt nicht zu kompliziert werden zu lassen. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist es die Funktion der Funktionssysteme, dass sie immens viele Kommunikationen an jedem beliebigen Ort und unter Beteiligung jedes beliebigen Teilnehmers einem bestimmten Gesellschaftsbereich zuführen. Diese Aufteilung ist so erfolgreich, dass sich die moderne Gesellschaft entlang ihrer spezifischen Funktionen strukturiert und mit diesen strukturiert sich auch die gesellschaftliche Kommunikation. Mit dieser halbwegs überschaubaren Steigerung von Komplexität kann die extrem komplexe moderne Gesellschaft ihre eigene Komplexität in Zaum halten.

Dabei kann ein und derselbe gesellschaftliche Vorgang von verschiedenen Teilsystemen simultan jeweils unterschiedlich bewertet und bearbeitet werden (strukturelle Kopplung). Funktionssysteme sind also thematisch offen. Luhmann schließt einen „funktionalen Primat“, das heißt die Vorrangstellung eines Teilsystems, ausdrücklich aus. Damit stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftsrationalen Handelns sowie der Steuerung ökologischer und sozialer Probleme.“

[https://de.wikipedia.org/wiki/Funktionale_Differenzierung, aufgerufen am 24.07.20, 13:26]

Zukunftsprognosen

Die funktionale Differenzierung ist eine historisch gewachsenes, evolutionär entstandenes und also kontingentes Phänomen. Es könnte auch anders sein, etwa wenn die Gesellschaft sich verändert, vor allem in Hinblick auf ihre Komplexität. Da sie das fortwährend tut, lässt sich die Frage stellen, ob neben oder anstelle der funktionalen Differenzierung auch noch andere Differenzierungsformen vorstellbar sind.

Der Systemtheoretiker und Luhmann-Schüler Dirk Baecker betont die Rolle des Buchdrucks als Auslöser der funktionalen Differenzierung, da die allgemeine Alphabetisierung eine Ordnung in thematische Teilbereiche notwendig machte. In diesem Sinne könnten die elektronischen Medien, mediale Vernetzung und Globalisierung (also das Ende der Buchdruckgesellschaft) ein Ende der funktionalen Differenzierung als Primärform bedeuten. Die Bedeutung von Netzwerken, deren Kommunikationen sich nicht in erster Linie an den Leitdifferenzen der Funktionssysteme orientieren, nimmt jedenfalls zu. Die Form dieses neuen Differnzierungsprinzips lässt sich allenfalls „erahnen, nämlich das Netzwerk, jedoch nicht ihre Struktur“.

[https://de.wikipedia.org/wiki/Funktionale_Differenzierung, aufgerufen am 24.07.20, 14:24]