Bereiche und Ursachen
„Historischer Rückblick
Während die Lebenserwartung in vorindustriellen Gesellschaften kurz war, ist sie seitdem stetig angestiegen. Kinder wurden damals primär als Alterssicherung und Arbeitskräfte angesehen. Heute haben sich die Lebensbedingungen vollkommen geändert. Der Lebensstandard von Familien sinkt mit der Geburt jedes Kindes und damit auch die Bereitschaft, mehrere Kinder aufzuziehen.
Lebenserwartung und Sterblichkeit
In vorindustriellen Gesellschaften war die Lebenserwartung der Menschen kurz […]. Noch um 1700 betrug sie für Neugeborene nicht mehr als 30 Jahre. Viele Kinder starben früh, denn die Ernährung war oft dürftig, die Hygiene miserabel und die medizinische Versorgung schlecht. Allerdings schwankte die Lebenserwartung zu damaliger Zeit je nach regionalen und zeitlichen Verhältnissen stark. Frieden und gute Ernten bedeuteten ein langes Leben, Kriege und Seuchen brachten den frühen Tod.
Etwa um 1750 begann die allgemeine Lebenserwartung in Deutschland zu steigen. Im folgenden Jahrhundert sorgten dann bessere Ernährung und der medizinische Fortschritt für ein immer längeres Leben. Aber noch um das Jahr 1875 kamen Männer im Deutschen Reich über eine Lebenserwartung von gut 35 Jahren und Frauen von 38 Jahren nicht hinaus.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging dann die Kindersterblichkeit stark zurück. Die Bevölkerung wurde jünger. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sank dann auch die Sterblichkeit im mittleren Lebensalter. Denn die Lebens- und Arbeitsbedingungen wurden besser, und man konnte die großen Infektionskrankheiten immer wirksamer bekämpfen. Die Sterblichkeit im höheren Lebensalter konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Fortschritte der (teuren) Altersmedizin und die verbesserte finanzielle Versorgung der älteren Menschen entscheidend reduziert werden […].
Die Lebenserwartung der Männer bzw. der Frauen hat so vor dem Ersten Weltkrieg auf 45 bzw. 48 Jahre zugenommen und ist bis zum Zweiten Weltkrieg auf etwa 60 bzw. 63 Jahre gestiegen. Am Ende der Nachkriegszeit, im Jahr 1973, konnten Eltern eines Neugeborenen schon damit rechnen, dass ihr Junge 68 bzw. ihr Mädchen 74 Jahre alt werden würde. Im Jahr 2000 betrug die Lebenserwartung Neugeborener schon 75 bzw. 81 Jahre. Es hat sich also ein stetiger Zuwachs an Lebenszeit ergeben. Dies trug dazu bei, die Gesellschaft altern zu lassen.
Geburten
Sieht man von regionalen Unterschieden und zeitlichen Schwankungen ab, so brachte in Mittelalter und früher Neuzeit jede Frau auf dem Gebiet des heutigen Deutschland durchschnittlich etwa sechs Kinder lebend zur Welt[…]. Dies sind mehr als vier Mal so viele Geburten wie heute. […]
In der Zwischenkriegszeit wurden schon weniger Kinder geboren, als langfristig zur Erhaltung der Bevölkerungszahl erforderlich waren. Dazu sind in modernen Gesellschaften ca. 2,1 Kinder pro Frau nötig. Die Geburtenzahlen schwankten von da an bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, änderten sich aber im Grunde nicht.
„Baby-Boom“ und „Pillenknick“
Danach wurden in Deutschland und vielen anderen Ländern viele Geburten „nachgeholt“, die der Krieg unmöglich gemacht hatte. Zudem führten die optimistische Grundstimmung jener Zeit und das „Wirtschaftswunder“ zu einem „Baby-Boom“: In Westdeutschland stieg die Geburtenrate von 1952 bis Mitte der 1960er-Jahre von 2,1 auf 2,5 Kinder pro Frau an. Die Bevölkerung begann wieder zu wachsen.
Von 1965 bis 1975 kam es zum vieldiskutierten „Pillenknick„. Die Menschen in Deutschland reduzierten die Zahl ihrer Kinder in nur zehn Jahren von 2,5 auf 1,4 pro Frau. An dieser Geburtenrate hat sich bis heute, anders als oft behauptet, in Westdeutschland nichts Wesentliches geändert. Damit kommen seit Mitte der 1970er-Jahre nur noch etwa zwei Drittel der Kinder zur Welt, die langfristig nötig wären, wollte man die Bevölkerungszahl konstant halten.
Bis etwa 1975 unterschied sich die Geburtenentwicklung in West- und Ostdeutschland kaum. Auch die DDR erlebte einen „Baby-Boom“ und einen „Pillenknick“. Danach förderte die Regierung der DDR die Familienbildung stark, vor allem durch direkte Maßnahmen wie Geldzuwendungen und bezahlte Freistellungen der Mütter von der Erwerbsarbeit. Die Geburtenrate stieg auf immerhin 1,8 Kinder pro Frau zu Anfang der 1980er-Jahre. Danach verpuffte die Wirkung dieser Maßnahmen langsam, und zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war die Geburtenrate in Ostdeutschland fast wieder so niedrig wie in Westdeutschland. Dies bestärkte viele Bevölkerungswissenschaftler in ihrer Meinung, dass direkte staatliche Maßnahmen zur Geburtenförderung – im Gegensatz zu indirekten – eher das Vorziehen ohnehin geplanter Geburten als zusätzliche Geburten bewirken.
Wandel von Lebensbedingungen und Kinderwunsch
Wer sich über die Zukunft der Geburtenentwicklung und über deren Beeinflussbarkeit Gedanken macht, sollte die Ursachen des ersten (ca. 1875 bis 1925) und zweiten (1965 bis 1974) Geburtenrückgangs kennen.
Beide Geburtenrückgänge entstanden, weil Lebensbedingungen seltener wurden, die zuvor für zahlreiche Geburten gesprochen hatten. So werden die eigenen Kinder seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer weniger als Alterssicherung und als Arbeitskräfte benötigt. Auch zwingt die geringe Kindersterblichkeit Eltern nicht mehr dazu, viele Kinder in die Welt zu setzen, weil damit gerechnet werden musste, dass nur wenige überleben. Schließlich propagieren die vorherrschenden gesellschaftlichen Werte (seit den 1960er-Jahren auch der Kirchen) nicht mehr eine maximale Kinderzahl, sondern das Ideal der „verantwortungsvollen Elternschaft“.
Außerdem wurden Lebensbedingungen häufiger, die gegen Kinder sprechen. Die Berufswelt, die Karrierewege, der Wohnungsmarkt sind in Industriegesellschaften „strukturell rücksichtslos“ (F. X. Kaufmann) gegen Kinder. Der Lebensstandard von Familien sinkt mit der Geburt jedes Kindes und damit auch die Bereitschaft, mehrere Kinder aufzuziehen.
Der zweite Geburtenrückgang wird zwar „Pillenknick“ genannt. Aber dieser Name täuscht. Die Verfügbarkeit der „Pille“ erleichterte es lediglich, den seit den 1960er-Jahren gewachsenen Wunsch nach weniger Kindern zu realisieren. Die eigentlichen Ursachen des zweiten Geburtenrückgangs stellten die veränderten Präferenzen der Menschen dar, entstanden durch die schnelle Vermehrung des Wohlstands, die den Wert der Selbstverwirklichung und der individuellen Autonomie auch und gerade für Frauen wichtiger werden ließ. Auch der damit verbundene Wunsch nach Erwerbstätigkeit und die schlechten Möglichkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren, ließen die Kinderzahlen damals zurück gehen. Schließlich dämpfte eine seit den 1970er-Jahren wachsende Zukunftsangst (wegen Umweltproblemen, Atomenergierisiken und militärischer Rüstung) den Wunsch nach Kindern.
Ein- und Auswanderungen
[…] noch bis zum Ersten Weltkrieg war Deutschland ein Auswanderungsland. Hauptziel waren die USA. Erst als dort 1890 die freie Siedlung auf Regierungsland nicht mehr möglich war, erlosch die Auswanderung bis 1914.
[…]
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland
Zwischen den beiden Weltkriegen hielten sich kleinere Auswanderungs- und Einwanderungswellen die Waage. Während Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg ein Auswanderungsland war, ist es seither zum Einwanderungsland geworden. Wenigsten fünf Wellen von Zuwanderern lassen sich unterscheiden […]:
In der Nachkriegszeit sind ungefähr 12 Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten nach Deutschland gekommen, davon etwa acht Millionen nach West- und ca. vier Millionen nach Ostdeutschland.
Bis zum Bau der „Berliner Mauer“ im August 1961 flohen etwa drei Millionen Menschen aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR in die Bundesrepublik.
Seit den späten 1950er-Jahren, verstärkt aber nach dem Mauerbau 1961, wurden „Gastarbeiter“ aus den Mittelmeerländern angeworben. 1973, als die Anwerbung beendet wurde, lebten knapp 4 Millionen Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Weitaus die meisten waren Gastarbeiter und ihre Familien.
Seit 1950, vor allem aber in den späten 1980er-und frühen 1990er-Jahren wanderten aus Osteuropa und aus der damaligen Sowjetunion mehr als zwei Millionen deutschstämmige Aussiedler ein, die in Deutschland einen Anspruch auf Einbürgerung hatten.
Schließlich kamen seit dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche politische Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland, der größte Teil von ihnen in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren. Viele sind zurückgekehrt oder in andere Länder weiter gezogen, doch mehr als eine Million leben in Deutschland.
Seit den 1950er-Jahren sind nach Abzug der Auswanderung insgesamt gut 9 Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert. Deutschland ist zum Einwanderungsland geworden. Jährlich zogen im Mittel knapp 200.000 Menschen mehr zu als fort. Freilich kann man Deutschland auch als „Drehtür“ für Ein- und Auswanderungen bezeichnen, denn sieben von zehn Zuwanderern sind wieder fortgezogen[…].
Im Gegensatz zu Geburten und Sterbefällen sind Außenwanderungen durch politische Maßnahmen und ökonomische Veränderungen sehr direkt beeinflussbar und waren deshalb in der Vergangenheit durch ein krasses Auf und Ab gekennzeichnet. Anfang der 1990er-Jahre nahm die Bevölkerungszahl durch eine immens hohe Zuwanderung jährlich um 700 – 800 Tausend Menschen zu. Seit 1993 sinkt die Zahl der Zuwanderer und 2008 übertraf die Zahl der Auswanderer sogar die der Einwanderer.
Bevölkerungszahl und Altersstruktur
Hohe Geburtenraten und Zuwanderungen sorgten von der Gründung der Bundesrepublik bis Mitte der 1960er-Jahre für eine rapide Bevölkerungsvermehrung […]: 1946 lebten in Westdeutschland erst 46 Millionen, 1966 schon 59 Millionen Menschen. Von da an wuchs die Bevölkerung Westdeutschlands bis Ende der 1980er-Jahre nur noch langsam. Seit 1972 sterben nämlich jährlich in Deutschland mehr Menschen, als geboren werden, und nur die Einwanderung ermöglichte ein bescheidenes Bevölkerungswachstum. Ohne Zuwanderung wäre die Bevölkerung seither geschrumpft. Um das Jahr 1990 wuchs nach den erheblichen Einwanderungen und der Wiedervereinigung die Bevölkerung nochmals deutlich an, um seither bei 82 Millionen zu stagnieren.
Der Baby-Boom sorgte dafür, dass in der Nachkriegszeit bis zum Beginn der 1970er-Jahre die Bevölkerung Deutschlands relativ jung war. Freilich war der Bevölkerungsanteil der Kinder längst nicht so hoch wie Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu war der Baby-Boom zu schwach und die Lebenserwartung mittlerweile zu hoch. In den 1980er-und 1990er-Jahren, als die geburtenstarken Jahrgänge herangewachsen waren, gab es viele Menschen im mittleren, erwerbsfähigen Lebensalter. Dies stärkte die Wirtschaftskraft und das Steueraufkommen und ermöglichte es, den (relativ wenigen) Rentnern hohe Altersrenten zu zahlen, trug aber auch zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit bei.“
[ Stefan Hradil auf https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138003/historischer-rueckblick?p=all, aufgerufen am 31.07.20, 21:05]