Interpretationsaspekte

Kommunikation

Weil im Drama die Handlung dadurch dargestellt wird, dass die Menschen sich sprachlich äußern (Sprachhandlung), miteinander reden oder auch nur Monologe halten, konzentriert sich die Interpretation dramatischer Szenen auf die Figurenrede, um herauszufinden, wie die Personen handeln, wie sie sich verhalten. Nützliche Hinweise für die Analyse geben darüber hinaus die tatsächlichen Aktionen der Figuren. Welche Mimen setzen sie auf, welche Gesten machen sie, bewegen sie sich ruhelos über die Bühne oder verschanzen sie sich hinter einem Pult? All diese Fragen beantworten sich den wirklichen Zuschauer sofort. In der Prüfung kann man all dies natürlich nicht sehen, hat aber doch eine Quelle zur Verfügung, die über viele Fragen Aufschluss gibt, nämlich die Regie- und Bühnenanweisungen.

In der Interpretation kommt es darauf an, Gesprächspartner oder Kontrahenten dadurch zu charakterisieren, indem man die Art und Weise, in der sie ihre Gespräche führen, analysiert. Man klärt z.B., ob  eine Figur mit der anderen eine Art Verhör veranstaltet oder ob sie sich gleichberechtigt unterhalten. Man untersucht, welche Absichten hinter ihren Äußerungen stecken, welche Taktik sie einschlagen um ans Ziel zu kommen oder wie oft sie sich überhaupt zu Wort melden.

Aufschlussreich ist es auch zu klären, wie die Partner miteinander kommunizieren: Schüchtern sie das Gegenüber ein, versuchen sie den anderen geduldig zu überzeugen oder wird er eher ein manipulativer Überredungsversuch unternommen.

Interpretationsaspekte:

  • Gesprächsart
  • Sprechabsicht
  • Gesprächstaktik
  • Gesprächsanteil
  • Art der Interaktion

Aufgabenarten

Überblick

In der Regel kommen in der Abschlussprüfung die folgenden Aufgaben vor:

  • Inhaltszusammenfassung (i.d.R. knappe Inhaltsangabe)
  • Analyse der Gesprächsituation
    (Rolle und Haltung einer Person im Gespräch mit einer oder mehreren anderen)
  • Gesprächsform: Monolog
  • Gesprächs- bzw. Kommunikationsverhalten
    einer Person gegenüber einer anderen oder mehreren Personen
  • Beziehung der Figuren zueinander (Figurenkonstellation) zu erschließen aus ihrem Verhalten
  • Figurencharakteristik i.d.R. in Zusammenhang mit Sprachbetrachtung bzw. Sprachanalyse
  • Inhaltliche Charakterisierung einer Haltung, eines Standpunkts
  • Nonverbales Verhalten (z.B. auf Basis von Regieranweisungen)
  • Stellungnahme zu einer Problematik oder zur Aktualität einer Problematik
  • Stellungnahme zu Verhaltensweisen

Figurencharakteristik

Gesprächsart, Kommunikation und Figurendarstellung

Beispiel für die Analyse eines dramatischen Textes:

Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie

von Frank Wedekind

Das 1906 erstmals aufgeführte Theaterstück beschäftigt sich mit den Nöten einer von Elternhaus und Schule mit Unverständnis konfrontierten Jugend gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die vorliegende Szene III.1 spielt, nachdem sich Moritz Stiefel das Leben genommen hat, weil er von Schule und Elternhaus überfordert wurde. Melchior, der Moritz eine selbstverfasste Aufklärungsschrift zukommen ließ, um ihn von sexuellen Zwangsvorstellungen zu befreien, wird von der Schule für seinen Tod verantwortlich gemacht. Die zusammengerufene Lehrerkonferenz soll darüber beraten, ob Melchior der Schule verwiesen wird.

Drameninterpretation Auszug aus dem Drama
Bühnenanweisungen
Gesprächsart und Kommunikation
Figurendarstellung
Dritter Akt, erste Szene
Konferenzzimmer
Die beiden Schriftsteller vertreten eine freie Form der Pädagogik ohne Be- und Unterdrückung der zu Erziehenden. Der ironischer Kontrast soll den Verstoß gegenüber den pädagogischen Idealen verstärken. An den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch,
Metaphorischer Hinweis auf bedrückende Atmosphäre über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen
Sprechende Namen: lächerlich, gewalttätig, krank, anormal, unnatürlich die Professoren Affenschmalz, Knüppeldick, Hungergurt, Knochenbruch, Zungenschlag und Fliegentod.
Hinweis auf hierarchisches Denken in Vorgesetzter-Untergebener-Kategorie Am oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor Sonnenstich. Pedell Habebald kauert neben der Tür.
Sprechender Name, stark herabwürdigend

Längster Gesprächsbeitrag der ganzen Szene

Rhetorische Frage, die mit keiner Antwort rechnet (autoritärer Sprachstil).

Die Schule wird als Opfer des missliebigen Schülers dargestellt.

Stark appellative Wiederholung einer angeblichen unvermeidbaren Härte – vermutlich Angst vor der vorgesetzten Behörde

Personalpronomen in der 1. Person Plural: „wir“

Vortäuschen der Absicht, zum Wohl der Schüler zu handeln.

Rhetorische Frage, die mit keiner Antwort rechnet

SONNENSTICH. …. Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? – Meine Herren! – Wenn wir nicht umhin können, bei einem hohen Kultusministerium die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers zu beantragen, so können wir das aus den schwerwiegendsten Gründen nicht Wir können es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück zu sühnen, wir können es ebenso wenig, um unsere Anstalt für die Zukunft vor ähnlichen Schlägen sicherzustellen. Wir können es nicht, um unseren schuldbeladenen Schüler für den demoralisierenden Einfluss, den er auf seinen Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir können es zuallerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen Einfluss auf seine übrigen Klassengenossen auszuüben. (…) Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
Sprechender Name: gewalttätig

umständliche, hochgestochene Sprache

Themawechsel – symbolisch für muffige Atmosphäre

KNÜPPELDICK. Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschließen, dass es endlich an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen.
Sprechender Name: krank, psychische Deformation

Vergleich beinhaltet ebenfalls die bedrückende Atmosphäre in dem Lehrerzimmer

ZUNGENSCHLAG. Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen Kata-Katakom­ben, wie in den A-Aktensälen des weiland Wetzla­rer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes
Befehlsform SONNENSTICH. Habebald!
Unterwürfigkeit – Ausdruck der strengen Hierarchie HABEBALD. Befehlen, Herr Rektor!
Unkenntnis der Räumlichkeit SONNENSTICH. Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug draußen. – Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
Sprechender Name: harmlos und gewalttätig

Themenwechsel: Der Schüler und sein Schicksal scheinen vergessen zu sein. Äußerung besonderer Empfindlichkeit

FLIEGENTOD. Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen!
Wiederholung (s. o.) SONNENSTICH. Habebald!
HABEBALD. Befehlen, Herr Rektor!
SONNENSTICH. Öffnen Sie das andere Fenster! — Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
Vollständiger Themenwechsel – Ausdruck des Desinteresses an pädagogischen Fragen HUNGERGURT. Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an die Tatsache erinnern, dass das andere Fenster seit den Herbstferien zugemauert ist.
Wiederholung (s. o.) SONNENSTICH. Habebald!
HABEBALD. Befehlen, Herr Rektor!

Beziehung und Verhalten

Arbeitsauftrag:

Untersuchen Sie die Gesprächssituation zwischen Mutter und Tochter. Stellen Sie die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Frauen zum Thema Leben und Tod dar. Beziehen Sie dabei die von Kroetz verwendete Sprache mit ein.

Maria Magdalena

von Franz Xaver Kroetz

Erster Akt

1. Hochzeit

MARIE Ganz modern.

MAMA lächelt: Steht es mir?

MARIE Das tät mir auch passn.

MAMA Mir gehört es.

MARIE Ein bißl kürzer gmacht und es paßt.
„Omas Kleider der letzte Modeschrei“ wie man weiß.

MAMA Wo ich deine Mutter bin.

MARIE Das macht doch nix –
Todschick.

MAMA Das war schon zehnmal in und aus der Mode.
Lächelt:
Alles schon dagewesn!

MARIE Schenkst es mir?

MAMA Das laßt du stehn mein Hochzeitskleid.
Das zieh ich zu meiner Beerdigung an.

MARIE Und bis dorthin leihst es mir!

MAMA Da laßt du die Finger davon.
Das zieh ich in den Sarg an.
Mein letzter Wunsch der muß dir heilig sein.
Daß du mir ja nicht was anderes anziehn laßt,
wenn ich tot bin
und mich nimmer wehrn kann.

MARIE Wenn ich einmal tot bin könnens mich
von mir aus in blue-jeans in Sarg legn.
Das is mir wurscht wie ich ausschau
wo man nicht gesehn werden kann.

MAMA Dir vielleicht, weilst keine Pietät hast.
Mir nicht.
Ich weiß
was ich mir schuldig bin!
Schüttelt den Kopf
Nicht zu glauben was einem alles wegnehmen wollen.
Die Kinder und neidisch sind.
Pause.
Das Kleid is meine schönste Erinnerung
Und die darf niemand in die Finger kriegen
außer mir.
Räumt das Kleid weg.
Ja. Das könnts mir anziehn,
wenn ich einmal nimmer bin
weil ich hinüber muß in das Reich der Schatten.
Nickt.
Wer weiß,
was einen da erwartet
und wie schnell kann es gehn!

MARIE Sei ned sentimental!

MAMA Sentimental, wenn man vom Tod redt!
Nickt.

MARIE Kindisch.

MAMA Da frag ich dich dann,
wenns einmal so weit is,
obst du das kindisch findst,
das Sterbn.
Wenn mir uns nachher begrüßn im Jenseits!

MARIE lacht.

MAMA Einmal zieht man es mir über den steifn Kopf.
Das is so sicher wie das Amen im Gebet.

MARIE Vielleicht.

MAMA Ich seh es vor mir.

MARIE Wennst so weitermachst stirbst an der Einbildung
von dir.

MAMA Wo ich so krank war.

MARIE Die Hälfte Einbildung.

MAMA Das wirst du wissn.
Wo ich 8 Wochn im Kranknhaus war!

MARIE Aber Krebs war es keiner.

MAMA Weils im Herzen kein Krebs gibt.

MARIE Ebn.

MAMA Was verstehst denn du von der Gsundheit,
wo dir nix fehlt.
Tot is tot ob Herz ob Krebs.
Pause.
Man denkt zu wenig an seinen Tod.
Alles wird dunkel und die Lichter gehen aus.

MARIE Wo hastn das glesn?

MAMA Du hast keinen Respekt vorm Tod,
geschweige vor mir.
Nicht einmal die Kinder
sind einem mehr ein Trost
wenn es so weit is.
Pause.
Wo es nix im Lebn gibt
von mir
was der Reue würdig wäre.
Mir sind katholisch und ham getan was mir können.
Was will man mehr?
Mit dem bißl was dein Papa heimgebracht hat,
hat man ein Schuhgeschäft entwickelt.
Pause.
Genau.
Obwohl mir eine vierköpfige Familie sind
und dein Bruder nix taugt
und alle immer satt wollen sein.
Was will man mehr?
Immer für die Armen ein offenes Herz gehabt!
Erst gestern fünf Mark
für die Kriegsgräberfürsorge.
Wo niemand gefallen is von uns im Krieg.
Das soll erst einmal jemand nachmachen.
Dann redn mir weiter.
Caritas,
Müttergenesungswerk,
SOS Kinderdörfer,
Armeemuseum in Münchn!
Brot für die Welt und
Tierschutzverein.
Was du willst.
Mir ham das unsere beigetragen.
Wenn alle soviel gebn hättn wie mir,
es gäbe gar kein Elend auf der Welt.
Da bin ich sicher. Pause.
Eine Angst die zuvor kommt scheint unvermeidbar.
Vor der letzten Stunde.
Man krümmt sich wie ein Wurm!
Ich weiß es.
Alles nochmal anfangen wollen
und die Augen tief hinunterschlagen
vor dem lieben Gott. Wenn gar nix mehr was nutzt.
Pause.
Ich hab eine solche Angst vor dem Sterbn,
daß ich es niemand sagn kann.

MARIE Reg dich nicht auf und denk an dein Herz.

MAMA Ich sitz wieder fest im Sattl.
Ein paar Gedanken muß schon erlaubt sein.
Ich war krank und man lernt sich kennen.
Vielleicht tät ich auch schon tot daliegn,
wenn der liebe Gott sich nicht gedacht hätt:
Mir wolln ihr noch eine Chance gebn.
Sie soll umkehrn
und in sich gehn.

MARIE Glaubst,
der liebe Gott
hat nix anderes zum tun?
Der soll sich lieber um die Kinder
in Indien
kümmern.

MAMA Das kann er ja trotzdem tun.
Zuerst muß er sich um die Katholischen kümmern.
Das wird wohl unser gutes Recht sein,
wo mir so viel für ihn getan ham.

MARIE lacht.

MAMA Für die Gedankn deiner Mama hast du kein Herz.
Sei froh daß man was denkt!
Andere Kinder ham ganz andere Eltern.
Pause.
Ich werd noch einen Sprung in die Kirchn tun.
Das hab ich glernt, seit ich krank war.
Am Scheideweg!

MARIE Ich glaub nicht an Gott.

MAMA Du bist jung.
Das is es.

Franz Xaver Kroetz, Maria Magdalena. Komödie in drei Akten, frei nach Friedrich Hebbel. Frankfurt 1974

Lösungsbeispiel (Schülerarbeit)

Untersuchung der Gesprächssituation zwischen Mutter und Tochter

Der Dialog zwischen Mutter und Tochter lässt sich in zwei Passagen unterteilen. Die eine ist eine Art Streitgespräch, in dem die Personen sich in ihren Reden zumindest teilweise aufeinander beziehen, die andere ein reines Selbstgesprächs der Mutter, das keinerlei Bezug auf die Tochter erkennen lässt.

Zunächst streiten sich die beiden um das Hochzeitskleid der Mutter. Die Tochter möchte es als „letzte(n) Modeschrei“ (Z. 6) tragen, die Mutter hingegen will es für sich bis zu ihrer Beerdigung aufbewahren. Sie hofft, dass Marie so viel Pietät aufbringt, ihr dieses Kleid im Sarg anzuziehen (Z. 19 ff.).

In diesem Teil des Gesprächs sind beide Gesprächspartner direkt aufeinander bezogen (Z. 1 – 27), die Gesprächsanteile sind ungefähr gleich. Auffällig an den Gesprächsrollen ist, dass die Mutter ihre Rolle als Erziehungsberechtigte bei dem Versuch, den Nachwuchs zurechtzuweisen, nicht durchsetzen kann. Marie ordnet sich nicht unter, fordert das Kleid in einer teilweise recht provokativen Art ein (Z. 14, Z. 16), obwohl der Wunsch bereits abgelehnt war (Z. 4).

In der Fortführung des Dialogs (Z. 28 – 47) beziehen sich die Gesprächspartner nur noch formell aufeinander. Die Mutter führt eine Art Monolog, kümmert sich überhaupt nicht darum, ob ihre Tochter zuhört und an ihren Ausführungen interessiert ist. Sie bestätigt ihre Ausführungen durch Pausen (Z. 35) oder auch durch Kopfschütteln (Regieanweisung in Z. 32) und Kopfnicken (Regieanweisung in Z. 44).

Die Tochter wertet die Gedanken der Mutter über den Tod nur kurz ab: „Sei ned sentimental!“ (Z. 48), d.h., sie lässt sich auf deren Gefühlslage überhaupt nicht ein. Sie bezeichnet ihre Mutter als „kindisch“ (Z. 51), lacht sie schließlich aus (Z. 57) und entzieht sich damit einer Antwort. Im Weiteren macht sich Marie über sie lustig und erklärt ihre Krankheit aggressiv zu einer Einbildung. Sie zeigt also keinerlei Gefühle ihrer „Mama“ gegenüber, die ihrerseits Mitleid einzuklagen versucht (Z. 67).

Sie wirft ihrer Tochter deshalb mangelnden Respekt vor dem Tod vor (Z. 78) und verliert sich im Anschluss daran in einem von Klischees geprägten Monolog über ihr gottesfürchtiges Leben als Katholikin, um die sich „der liebe Gott“ „zuerst (…) kümmern“ (Z. 142) muss. Selbstgefällig führt sie vor, dass sie immer gespendet und somit im Sinne Gottes gelebt habe (Z. 100 ff.). Auch in dieser längeren Gesprächspassage finden sich wieder Pausen (Z. 83, 91 etc.), in denen sie sich selbst bestätigt, und kurze bekräftigende Sätze (Z. 92). Nach dem Monolog kommt es erneut zu einem direkten Schlagabtausch zwischen Mutter und Tochter (ab Zeile 126 bis Ende), in dem Marie die Mutter in ihrer Anspruchshaltung gegenüber Gott zurechtweist (Z. 136 ff.) und ihre Angst vor dem Tod schließlich respektlos auslacht (Z. 146).

Die deutlich längeren Gesprächsanteile der Mutter in diesem Textauszug verweisen insgesamt nicht darauf, dass sie im Gespräch eine überlegene Position einnimmt, da sie monologisiert und da ihre Ausführungen keinerlei erzieherische Wirkungen haben.

Gesprächsverhalten

Aufgaben:

1. Analysieren Sie die Sprache Voigts mit den Mitteln der Sprachanalyse.

2. Charakterisieren Sie anschließend die Dialoge zwischen Voigt und dem
Oberwachtmeister.

Der Hauptmann von Köpenick

von Carl Zuckmayer
Der „Hauptmann von Köpenick“ hat ein reales Vorbild. Das Drama wurde 1931 in Berlin uraufgeführt. In der folgenden Szene (Beginn der zweiten Szene), die um 1900 spielt, tritt die Hauptfigur, der Schuster Voigt, zum ersten Mal auf.

Erster Akt, zweite Szene

Personen: Oberwachtmeister, Wachtmeister, Wilhelm Voigt

Polizeibüro in Potsdam. Geschlossene Fenster, muffige Luft, viel Papier, Akten- und Kassenschrank. An der Wand Kaiserbild, Verordnungstafeln, Gendarmeriesäbel und Pickelhauben an Kleiderhaken. Oberwachtmeister und Wachtmeister sitzen einander gegenüber an Schreibtischen. Wilhelm Voigt, Hut und Paket in der Hand, steht dicht beim Oberwachtmeister hinter einer niedrigen hölzernen Schranke. Der Oberwachtmeister schreibt mit kratzender Feder, der Wachtmeister klebt Marken auf Stempelpapier.
Aus der Ferne erklingt das Potsdamer Glockenspiel.

Oberwachtmeister zieht seine Taschenuhr, kontrolliert Zwölfe. Er löscht ab, klappt Aktendeckel zusammen.

Voigt: Pardong, Herr Wachtmeester, ick wollte mir nur mal erkundigen –

Oberwachtmeister: Erstens ist von zwölf bis zwei geschlossen, das könnense draußen an der Türe lesen. Zweitens bin ich kein „Wachtmeester“, sondern Oberwachtmeister und Reviervorsteher, das erkennt man an den Knöpfen und am Portepee.

Voigt: Na, denn vazeihn se mal, Herr Komissär, ick warte nun schon seit halber zwelfe –

Oberwachtmeister: Drittens tretense mal In Schritt zurück. In einem Amtsraum hat ein Unbefugter so viel Abstand zur diensttuenden Behörde zu wahren, dass er die Aufschrift auf den Aktendeckeln mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Da kann ja jeder kommen und uns einfach über die Schulter kucken. Habense noch nie was vom Amtsgeheimnis gehört?

Voigt: Pardong, Herr Oberwachtmeester, ick hab ja ’n kurzes Ooge, zum Lesen da brauch ick ne Brille. Und mitn Amtsjeheimnis, da mecht ick mir jarnich inkrimmenieren, bei sowat seh’ck ieberhaupt lieber wech. Ich wollte mir nur mal heflichst erkundigt haben, wie det mit meine nachgesuchte Aufenthaltserlaubnis bestellt is, ick warte ja nu schon –

Oberwachtmeister: Sie heißen?

Voigt: Voigt, Wilhelm.

Oberwachtmeister: Schlickmann, mal rasch die Personalakten U-Z. Alter?

Voigt: Sechsundvierzig Jahre.

Oberwachtmeister: Beruf?

Voigt: Schuster.

Oberwachtmeister: Geboren in?

Voigt: Klein-Pinchow. (…)

Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick. Frankfurt 1980

Lösungen

Sprache: Voigt

· spricht Berliner Dialekt („… ick …wollte mir …) und Umgangssprache
· macht grammatikalische Fehler und
· verwendet Metaphern, die ebenso seine niedrige Bildung erkennen lassen: „kurzes Ooge“ statt Kurzsichtigkeit

Sprache: Oberwachtmeister

· Stilebene: Umgangssprache („Drittens tretense mal´n Schritt zurück.“), was aber einen herablassenden Eindruck macht.
· Sprachart: Behördensprache („Reviervorsteher“, „Unbefugter“, „Amtsgeheimnis“)
· überdeutliche Strukturierung seiner Rede: „Erstens …“; „Zweitens …“; „Drittens …“

Form des Dialog: Voigt

· Er unternimmt drei Anläufe, um eine Frage zu stellen – ihm wird aber das Wort abgeschnitten.
· Diese Form des Dialogs nennt man asymmetrische oder komplementäre Kommunikation, da einer der Beteiligten eingeschüchtert wird und dem anderen unterlegen ist.
· Er verwendet Metaphern, die ebenso seine niedrige Bildung erkennen lassen: „kurzes Ooge“ statt Kurzsichtigkeit.

Form des Dialog: Oberwachtmeister

· Der Beamte führt einen typisierten polizeilichen Frage-Antwort-Dialog.
· Er befindet sich in der überlegenen Situation, da er über Macht verfügt und daher eine übergeordnete Position innehat.
· Auch in Hinblick auf die Kontext ist Voigt unterlegen: Er tritt als Bittsteller auf.

Charakterisierung

Charakterisierung einer Haltung

Aufgaben:

1. Fassen Sie den Inhalt des Ausschnitts knapp zusammen.

2. Welche Intentionen verfolgt der Lehrer mit seiner Rede? Welche
sprachlich-rhetorischen Mittel setzt er dabei ein?

3. Zeigen Sie, inwiefern die in dieser Szene enthaltene Kritik auch heute
noch aktuell ist. Achten Sie dabei auch auf die Rolle der Medien.

Besuch der alten Dame

von Friedrich Dürrenmatt

Vorbemerkung: Alfred Ill, Vater des nichtehelichen Kindes seiner Jugendfreundin Kläri Wäscher, hat seine Vaterschaft seinerzeit vor Gericht erfolgreich abgestritten, indem er zwei Bekannte dazu veranlasst hat, einen Meineid zu leisten. Wäscher hat ihre Heimatstadt Güllen daraufhin bettelarm und in Schande verlassen müssen. Durch eine Heirat ist sie inzwischen zu unermesslichem Reichtum gelangt und kehrt nun als Claire Zachanassian in das krisengeschüttelte Güllen zurück, um Rache zu nehmen. Sie verspricht der Stadt und ihren Bürgern eine Milliarde, wenn diese dafür sorgen, dass Ill zu Tode kommt. Nach anfänglicher moralischer Entrüstung beginnt man sich mit dem Angebot Claires anzufreunden. Die folgende Szene setzt ein, als die Bürgerschaft zusammenkommt, um über das Angebot abzustimmen.

DER BÜRGERMEISTER Ich heiße die Gemeinde von Güllen willkommen. Ich eröffne die Versammlung. Traktandum: Ein Einziges. Ich habe die Ehre, bekannt geben zu dürfen, dass Frau Claire Zachanassian, die Tochter unseres bedeutenden Mitbürgers, des Architekten Gottfried Wäscher, beabsichtigt, uns eine Milliarde zu schenken – Ein Raunen geht durch die Presse.

DER BÜRGERMEISTER Fünfhundert Millionen der Stadt, fünfhundert Millionen an alle Bürger verteilt – Stille.

DER RADIOSPRECHER gedämpft Liebe Hörerinnen und Hörer. Eine Riesensensation. Eine Stiftung, die mit einem Schlag die Einwohner des Städtchens zu wohlhabenden Leuten macht und damit eines der größten sozialen Experimente unserer Epoche darstellt, Die Gemeinde ist denn auch wie benommen. Totenstille, Ergriffenheit auf allen Gesichtern.

DER BÜRGERMEISTER Ich gebe dem Lehrer das Wort.

Der Radioreporter nähert sich mit dem Mikrophon dem Lehrer.

DER LEHRER Güllener. Wir müssen uns klar sein, dass Frau Zachanassian mit dieser Schenkung etwas Bestimmtes will. Was ist dieses Bestimmte? Will sie uns mit Geld beglücken, mit Gold überhäufen, die Wagnerwerke sanieren, die Platz-an-der-Sonne-Hütte, Bockmann? Ihr wisst, dass dies nicht so ist. Frau Claire Zachanassian plant Wichtigeres. Sie will für ihre Milliarde Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit. Sie will, dass sich unser Gemeinwesen in ein gerechtes verwandle. Diese Forderung lässt uns stutzen. Waren wir denn nicht ein gerechtes Gemeinwesen?

DER ERSTE Nie!

DER ZWEITE Wir duldeten ein Verbrechen!

DER DRITTE Ein Fehlurteil!

DER VIERTE Meineid!

EINE FRAUENSTIMME Einen Schuft!

ANDERE STIMMEN Sehr richtig!

DER LEHRER Gemeinde von Güllen! Dies der bittere Tatbestand: Wir duldeten die Ungerechtigkeit. Ich erkenne nun durchaus die materielle Möglichkeit, die uns die Milliarde bietet; ich übersehe keineswegs, dass die Armut die Ursache von so viel Schlimmem, Bitterem ist, und dennoch: Es geht nicht um Geld, – Riesenbeifall – es geht nicht um Wohlstand und Wohlleben, nicht um Luxus, es geht darum, ob wir Gerechtigkeit verwirklichen wollen, und nicht nur sie, sondern auch all die Ideale, für die unsere Altvordern gelebt und gestritten hatten und für die sie gestorben sind, die den Wert unseres Abendlandes ausmachen! Riesenbeifall. Die Freiheit steht auf dem Spiel, wenn die Nächstenliebe verletzt, das Gebot, die Schwachen zu schützen, missachtet, die Ehe beleidigt, ein Gericht getäuscht, eine junge Mutter ins Elend gestoßen wird. Pfuirufe. Mit unseren Idealen müssen wir nun eben in Gottes Namen Ernst machen, blutigen Ernst. Riesenbeifall. Reichtum hat nur dann Sinn, wenn aus ihm Reichtum als Gnade entsteht: Begnadet aber wird nur, wer nach der Gnade hungert. Habt Ihr diesen Hunger, Güllener, diesen Hunger des Geistes, und nicht nur den anderen, profanen, den Hunger des Leibes? Das ist die Frage, wie ich als Rektor des Gymnasiums ausrufen möchte. Nur wenn ihr das Böse nicht aushaltet, nur wenn ihr unter keinen Umständen in einer Welt der Ungerechtigkeit mehr leben könnt, dürft ihr die Milliarde der Frau Zachanassian annehmen und die Bedingung erfüllen, die mit dieser Stiftung verbunden ist. Dies, Güllener, bitte ich zu bedenken – Tosender Beifall.

DER RADIOREPORTER Sie hören den Beifall, meine Damen und Herren. Ich bin erschüttert. Die Rede des Rektors bewies eine sittliche Größe, wie wir sie heute – leider – nicht mehr allzu oft finden. Mutig wurde auf Missstände allgemeiner Art hingewiesen, auf Ungerechtigkeiten, wie sie ja in jeder Gemeinde vorkommen, überall, wo Menschen sind.

DER BÜRGERMEISTER Alfred Ill –

DER RADIOREPORTER Der Bürgermeister ergreift wieder das Wort.

DER BÜRGERMEISTER Alfred Ill, ich habe an Sie eine Frage zu stellen.

Der Polizist gibt Ill einen Stoß. Der erhebt sich. Der Radiosprecher kommt mit dem Mikrophon zu ihm.

DER RADIOREPORTER Nun die Stimme des Mannes, auf dessen Vorschlag hin di, Zachanassian-Stiftung gegründet wurde, die Stimme Alfred Ills, des Jugendfreundes der Wohltäterin. Alfred Ill ist ein rüstiger Mann von etwa siebzig Jahren, ein senkrechter Güllener von altem Schrot und Korn, natürlicherweise ergriffen, voll Dankbarkeit, voll stiller Genugtuung.

DER BÜRGERMEISTER Ihretwegen wurde uns die Stiftung angeboten, Alfred Ill. Sind Sie sich dessen bewusst? Ill sagt leise etwas.

DER RADIOREPORTER Sie müssen lauter reden, guter alter Mann, damit unsere Hörerinnen und Hörer auch etwas verstehen.

ILL Ja.

DER BÜRGERMEISTER Werden Sie unseren Entscheid über Annahme oder Ablehnung der Claire-Zachanassian-Stiftung respektieren?

ILL Ich respektiere ihn.

DER BÜRGERMEISTER Hat jemand an Alfred Ill eine Frage zu stellen? Schweigen.

DER BÜRGERMEISTER Hat jemand zur Stiftung der Frau Zachanassian eine Bemerkung zu machen? Schweigen. […]

DER BÜRGERMEISTER Ich schreite zur Abstimmung.

Stille. Nur das Surren der Filmapparate, das Aufblitzen der Blitzlichter.

DER BÜRGERMEISTER Wer reinen Herzens die Gerechtigkeit verwirklichen will, erhebe die Hand.

Alle außer Ill erheben die Hand

DER RADIOREPORTER Andächtige Stille im Theatersaal. Nichts als ein einziges Meer von erhobenen Händen, wie eine gewaltige Verschwörung für eine bessere, gerechtere Welt. Nur der alte Mann sitzt regungslos, vor Freude überwältigt. Sein Ziel ist erreicht, die Stiftung dank der wohltätigen Jugendfreundin errichtet.

DER BÜRGERMEISTER Die Stiftung der Claire Zachanassian ist angenommen. Einstimmig. Nicht des Geldes –

DIE GEMEINDE Nicht des Geldes –

DER BÜRGERMEISTER sondern der Gerechtigkeit wegen –

DIE GEMEINDE sondern der Gerechtigkeit wegen –

DER BÜRGERMEISTER und aus Gewissensnot.

DIE GEMEINDE und aus Gewissensnot.

DER BÜRGERMEISTER Denn wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden –

DIE GEMEINDE Denn wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden –

DER BÜRGERMEISTER welches wir ausrotten müssen –

DIE GEMEINDE welches wir ausrotten müssen –

DER BÜRGERMEISTER damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden –

DIE GEMEINDE damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden –

DER BÜRGERMEISTER und unsere heiligsten Güter.

DIE GEMEINDE und unsere heiligsten Güter.

ILL schreit auf Mein Gott!

Alle stehen feierlich mit erhobenen Händen da, doch nun hat es bei der Kamera der Filmwochenschau eine Panne gegeben.

DER KAMERAMANN Schade, Herr Bürgermeister. Die Beleuchtung streikte. Bitte die Schlussabstimmung noch einmal.

DER BÜRGERMEISTER Noch einmal?

DER KAMERAMANN Für die Filmwochenschau.

DER BÜRGERMEISTER Aber natürlich.

DER KAMERAMANN Scheinwerfer in Ordnung?

EINE STIMME Klappt.

DER KAMERAMANN Also los.

Der Bürgermeister setzt sich in Pose.

DER BÜRGERMEISTER Wer reinen Herzens die Gerechtigkeit verwirklichen will- erhebe die Hand. […]

Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame, Zürich 1985

Lösungen

Lösungsbeispiel (Schülerarbeit)

Teil 1 Der Ausschnitt aus dem Drama „Besuch der alten Dame“, das 1955 von Friedrich Dürrenmatt geschrieben wurde, zeigt den Besuch Claire Zachanassians in ihrem Heimatdorf, in dem sie früher als junges Mädchen unter ärmlichen Verhältnissen lebte. Als Claire, damals noch unter anderem Namen, schwanger wurde und der Vater des Kinder; Alfred Ill, erfolgreich bei Gericht die Vaterschaft abstreiten konnte, musste sie das Dorf verlassen. Durch eine Heirat gelangte sie zu großem Reichtum. Als alte Frau kehrt nun in ihr Heimatdorf Güllen zurück. Sie bietet den Bürgern eine sehr hohe Summe, wenn sie Alfred Ill töten.

Teil 2 Die vorliegende Szene stellt eine Bürgerversammlung dar, bei der über die Frage, ob das Geld angenommen werden soll oder nicht, abgestimmt. Aber anstatt zur Rettung Ills aufzurufen, versuchen der Bürgermeister und der Lehrer des Ortes, die Bürger dazu aufzurufen, Gerechtigkeit walten zu lassen und früheres Unrecht wieder gutzumachen. Alfred Ill kommt dabei kaum zu Wort. Sowohl Gemeindevorstand als auch Presse schneiden das Thema der notwendigen Hinrichtung nicht an. Als die Gemeinde – ungeachtet der Enthaltung des Opfers – „einstimmig“ die Annahme des Geldes beschließt, fallen die Scheinwerfer des Kamerateams aus. Auf Wunsch des Fernsehens wird die Anstimmung wiederholt. Sie gleicht einem feierlichen Eid.

Lösungsbeispiel (Schülerarbeit)

Erarbeiten Sie hier weiter den Aufbau der Schülerlösung und setzen Sie die dreifarbige Markierung fort:

sprachliches Mittel, Textbeleg, Wirkung bzw. Intention

Schülerarbeit:

Bei der Bürgerversammlung soll über die Annahme der Offerte der alten Dame abgestimmt werden. Nach der Begrüßung der Gemeinde übergibt der Bürgermeister dem Lehrer das Wort, der wesentlich wortgewandter und zudem durch sein Amt glaubwürdig und vernünftig erscheint. Er hält vor der Versammlung eine beeindruckende Rede, in der er die Bürger von der Annahme des Geldes überzeugen möchte. Zu Anfang betont er, dass es sich um eine Schenkung von Frau Zachanassian handle (Z. 17), sie aber damit „etwas Bestimmtes“ (ebd.) verbinde. Durch diese vage und untertreibende Formulierung verschleiert der Lehrer den Tatbestand der die Tötung Ills und verstärkt die Vernebelung durch eine rhetorische Frage, die Claire Zachanassians Interesse als etwas Natürliches erscheinen lässt: Frau Zachanassian wolle die Gemeinde nicht „mit Gold überhäufen“ (Hyperbel in Z. 18), sie wolle „Wichtigeres“, nämlich „Gerechtigkeit“. Die Wiederholung des Schlagwortes soll jedem der direkt angesprochenen „Güllener“ (Z. 16) ein positives Gefühl geben, wenn er an die Tötung Ills denkt. Der Bürger darf sich aufgerufen fühlen, bei der moralischen einwandfreien Zielsetzung, „(…) unser Gemeinwesen in ein gerechtes (…)“ (Z. 21) zu verwandeln, mitzuwirken. So überzeugt der Lehrer die Gemeinde davon, dass etwas getan werden muss. Aus dem Publikum ertönen Rufe, die bestätigen, dass die früheren Missstände in Bezug auf die Gerechtigkeit nicht länger tragbar wären. Der Lehrer hat erreicht, dass die Gemeinde ein schlechtes Gewissen hat, appelliert an deren Moral und stachelt bewusst durch Fragen wie „Waren wir denn nicht ein gerechtes Gemeinwesen?“ (Z. 24), die auf den Heimatstolz des Einzelnen bauen, die Bürger an, nun endlich Gerechtigkeit zu üben. Die durch die Berufung auf die Tradition („Altvordern“, Z. 35) und die Überhöhung moralischer Werte sowie Übertreibungen wie „die Freiheit steht auf dem Spiel“ (Z. 36) betäubt er das schlechte Gewissen, aus Egoismus zu handeln. Er gibt zwar zu, dass sich durch Geld allerlei Wege auftun könnten, betont aber ausdrücklich mit dem Ausrufesatz: „Es geht nicht um Geld“ (Z. 32), der Alliteration „nicht um Wohlstand und Wohlleben“ und der Repetitio, „nicht um Luxus“ (Z. 33) den uneigennützigen Charakter ihres Tuns. Durch den Beifall des Publikums läuft der Lehrer zu Höchstform auf und verwendet nun pathetische Formulierungen wie es gehe um „die Ideale, (…) um den Wert unseres Abendlandes“ (Z. 36 f.). In einer Akkumulation häuft der Lehrer maßlose Übertreibungen an, wie dass die „Nächstenliebe verletzt“ wäre und „die Ehe beleidigt“ (Z. 37 f.) sei. Die Bürger fühlen sich dadurch schon so gut wie verpflichtet, den „Altvordern“ und den Werten der zivilisierten Welt zu folgen, indem sie das angebotene Geld annehmen. Dass Nächstenliebe und Freiheit aber mit Gerechtigkeit in Bezug auf die Gerichtsbarkeit nichts zu tun haben, wird vom Lehrer mit Begriffen wie „Gebot“ (Z. 37) und Verben wie „missachten“, „beleidigen“, „täuschen“ (Z. 37 f.), die negative Konnotationen aufweisen und Missstände verdeutlichen sollen, geschickt verdeckt. Durch philosophische Zitate wie „Reichtum hat nur dann Sinn, wenn aus ihm Reichtum an Gnade entsteht“ (Z. 40 f.), die wie Zitate aus der Bibel wirken, und die ständige Frage nach dem „Hunger des Geistes“ (Z. 42) nach Gerechtigkeit will er die Leute beschwichtigen, dass sie nicht wegen ihrer Armut, was der Lehrer als profanen, also nebensächlichen, unwichtigen Hunger abtut, den angebotenen Betrag annehmen , sondern allein wegen ihrer moralischen Wertvorstellungen. Dass die „Gerechtigkeit“ nur durch den Tod Alfred Ills erreicht werden kann, beschönigt er durch den Euphemismus „Stiftung“ (Z. 46), die dem Dorf angeboten werde. Der Lehrer beeinflusst die Gemeinde durch seine beeindruckende Rede, seine Wertvorstellungen und sein Auftreten und versucht sie davon zu überzeugen, dass es nur richtig, ja sogar ihre Pflicht ist, eine Milliarde anzunehmen. Er schafft es, dass die Menschen im Saal vergessen, wie unmoralisch es ist, jemanden zu töten, aus welchen Gründen auch immer. Durch die Rede des Lehrers werden sie von ihrem schlechten Gewissen befreit und gelangen zu einem guten Gefühl bei der Annahme des ausgeschriebenen Betrags.

Lösungsbeispiel (Schülerarbeit)

Die Aufgabe der Medien ist es in erster Linie, den Zuschauern, Zuhörern und Lesern ein breit gefächertes Spektrum an zuverlässigen Informationen zu liefern und durch möglichst objektive Berichte zu ihrer Meinungsbildung beizutragen.

In der ausgewählten Szene ist bei der besagten Bürgerversammlung auch die Presse anwesend. Das Treffen wird im Radio und im Fernsehen übertragen. In der Rede des Gemeindevorstands kommt nur eine Seite zu Wort. Niemand erhebt einen Einwand. Als nach der Abstimmung Alfred Ill Widerspruch laut werden lässt, fallen die Scheinwerfer aus, woraufhin die Journalisten den Bürgermeister bitten, seine Schlussrede nochmals zu halten. Der Grund für dieses Ansinnen kann nur Sensationsgier sein. Von einer ausgewogenen Berichterstattung, die beide Seiten zu Wort kommen lässt, kann jedenfalls nicht die Rede sein, dabei ist Neutralität unbedingt notwendig, um differenziert über eine Problematik reflektieren zu können. (…).

Sprachanalyse

Monolog

Aufgabe:

Analysieren Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln Dantons seine Verteidigungsrede gestaltet.

George Jacques Danton

Die Freiheit führt das Volk an (1830)

Dantons Tod

von Georg Büchner

Das Revolutionstribunal

Danton, Revolutionsführer in der Französischen Revolution und als Justizminister für die „Septembermorde“ mitverantwortlich, wendet sich gegen die Entwicklung der Revolution, als sie in eine Diktatur mit terroristischen Mitteln umzuschlagen droht, und wird dadurch zum Gegenspieler Robespierres. Er wird daraufhin vor dem Revolutionstribunal angeklagt und anschließend hingerichtet. Büchner übernahm die Rede Dantons weitgehend unverändert.

Herman (zu Danton): Ihr Name, Bürger.

Danton: Die Revolution nennt meinen Namen. Meine Wohnung ist bald im Nichts und mein Name im Pantheon der Geschichte.

Herman: Danton, der Konvent beschuldigt Sie, mit Mirabeau, mit Dumouriez, mit Orléans, mit den Girondisten, den Fremden und der Faktion Ludwigs des XVII. konspiriert zu haben.

Danton: Meine Stimme, die ich so oft für die Sache des Volkes ertönen ließ, wird ohne Mühe die Verleumdung zurückweisen. Die Elenden, welche mich anklagen, mögen hier erscheinen, und ich werde sie mit Schande bedecken. Die Ausschüsse mögen sich hierher begeben, ich werde nur vor ihnen antworten. Ich habe sie als Kläger und als Zeugen nötig. Sie mögen sich zeigen.
Übrigens, was liegt mir an euch und eurem Urteil? Ich hab es euch schon gesagt: das Nichts wird bald mein Asyl sein; – das Leben ist mir zur Last, man mag mir es entreißen, ich sehne mich danach, es abzuschütteln.

Herman: Danton, die Kühnheit ist dem Verbrecher, die Ruhe der Unschuld eigen.

Danton: Privatkühnheit ist ohne Zweifel zu tadeln, aber jene Nationalkühnheit, die ich so oft gezeigt, mit welcher ich so oft für die Freiheit gekämpft habe, ist die verdienstvollste aller Tugenden. – Sie ist meine Kühnheit, sie ist es, der ich mich hier zum Besten der Republik gegen meine erbärmlichen Ankläger bediene. Kann ich mich fassen, wenn ich mich auf eine so niedrige Weise verleumdet sehe? – Von einem Revolutionär wie ich darf man keine kalte Verteidigung erwarten. Männer meines Schlages sind in Revolutionen unschätzbar, auf ihrer Stirne schwebt das Genie der Freiheit. (Zeichen von Beifall unter den Zuhörern.) (…) Du elender St. Just wirst der Nachwelt für diese Lästerung verantwortlich sein! (…) Sie haben die Hände an mein ganzes Leben gelegt, so mag es sich denn aufrichten und ihnen entgegen treten; unter dem Gewichte jeder meiner Handlungen werde ich sie begraben. – Ich bin nicht stolz darauf. Das Schicksal führt uns den Arm, aber nur gewaltige Naturen sind seine Organe.
Ich habe auf dem Marsfelde dem Königtume den Krieg erklärt, ich habe es am 10. August geschlagen, ich habe es am 21. Januar getötet und den Königen einen Königskopf als Fehdehandschuh hingeworfen. (Wiederholte Zeichen von Beifall. – Er nimmt die Anklageakte.) (…) – Meine Ankläger mögen erscheinen! Ich bin ganz bei Sinnen, wenn ich es verlange. Ich werde die platten Schurken entlarven und sie in das Nichts zurückschleudern, aus dem sie nie hätten hervorkriechen sollen.

Herman (schellt): Hören Sie die Klingel nicht?

Danton: Die Stimme eines Menschen, welcher seine Ehre und sein Leben verteidigt, muss deine Schelle überschreien.
Ich habe im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristokraten geätzt. Meine Stimme hat aus dem Golde der Aristokraten und Reichen dem Volke Waffen geschmiedet. Meine Stimme war der Orkan, welcher die Satelliten des Despotismus unter Wogen von Bajonetten begrub. (Lauter Beifall)

Herman: Danton, Ihre Stimme ist erschöpft, Sie sind zu heftig bewegt. Sie werden das nächste Mal Ihre Verteidigung beschließen, Sie haben Ruhe nötig. – Die Sitzung ist aufgehoben.

Danton: Jetzt kennt Ihr Danton — noch wenige Stunden, und er wird in den Armen des Ruhmes entschlummern.

Georg Büchner, Dantons Tod, III 4. Stuttgart 1970

Lösungen

Lösungsbeispiel (Schülerarbeit)

Danton ist angeklagt, die Revolution verraten zu haben. Er verteidigt sich vor dem Revolutionstribunal, das über ihn zu richten hat. Anwesend sind auch Zuhörer aus dem Volk. Eine Chance, die Vorwürfe zu entkräften, hat er nur, wenn er die Zuhörer für sich einnimmt.

Seine Verteidigung besteht darin, seine Leistungen und Verdienste für die Revolution herauszustellen, um so zu widerlegen, dass er gegen sie konspiriert hat. Die Bedeutung seiner Person unterstreicht er durch die gewählt-gehobene Stilebene, die er teilweise mit dichterischen Formulierungen durchsetzt. Die Sätze sind relativ kurz und nur selten hypotaktisch. Gehäuft tritt die rhetorische Frage auf. Diese sprachlichen Besonderheiten zeigen, dass Danton sich an die Bevölkerung wendet und Wert darauf legt, sie direkt mit einzubeziehen.

Die Frage des Präsidenten des Tribunals, wie er heiße, beantwortet der Angeklagte nicht. Er reagiert vielmehr mit der Personifikation: „Die Revolution nennt meinen Namen“ (Z. 11). Er hebt so seine herausragende Stellung in der Revolution hervor und macht darüber hinaus deutlich, dass allein er durch die Revolution legitimiert sei. In einer Antithese, die er mit einem Parallelismus unterstreicht, betont er zudem, dass es ihm nicht um sein Überleben gehe, da er längst „im Pantheon der Geschichte“ (Z. 12 f.) stehe. Aus dieser Absicht erklärt sich auch die rhetorische Frage: „übrigens, was liegt mir an (…) eurem Urteil?“, mit der er den Zuhörern gegenüber die Richter abwertet. Er „sehne (sich) danach, es (das Leben, d.V.) abzuschütteln“ (Z. 28). Diese Metapher verbildlicht, dass das Leben für ihn zur Last geworden ist und nur seine Selbstachtung die Wahrheitssuche gebietet.

Das Mittel der Personifikation verwendet er häufig, wenn er seine Heldentaten aufzählt (besonders Z. 18 ff.). Oft gebraucht er Personal- und Possessivpronomina in der ersten Person Singular, die er zusätzlich wiederholt, um den Kampf, der gegen die Monarchie geführt wurde, mit seiner Person zu identifizieren (z.B. Z. 57 ff.). Später gebraucht er das Bild, „das Schicksal führt uns den Arm“ (Z. 55 f.), womit er verdeutlicht, dass er gar nicht angeklagt werden könne, da er nur den Willen der Geschichte ausgeführt habe.

Dem Vorwurf Hermans, Kühnheit sei die Eigenschaft eines Verbrechers (Z. 29), tritt er mit einem antithetischen Vergleich entgegen. Er stellt die Neologismen „Privatkühnheit“ und „Nationalkühnheit“ in einer Art Wortspiel gegenüber (Z. 31 f.), um eindringlich klarzustellen, dass er Kühnheit nicht für seinen persönlichen Vorteil gebraucht habe, sondern nur zum „Besten der Republik“ (Z. 35).

Im auffälligen Kontrast zur sprachlichen Aufwertung seiner Person und seiner Leistungen bedenkt er seine Gegner mit Schimpfwörtern und Hyperbeln wie „die Elenden“ (Z. 20), die „erbärmlichen Ankläger“ (Z. 36), „Schurken“, die er „in das Nichts zurückschleuder(t)“ (Z. 69 f.). Mit diesem Mittel versucht er das Publikum gegen das Tribunal aufzubringen, in dem er „auf eine so niedrige Weise verleumdet“ (Z. 36) werde.

Die Metapher „sie haben die Hände an mein ganzes Leben gelegt“ (Z. 52 f.), verbildlicht, dass er weniger sein Leben als die Integrität seiner Person vor der Geschichte verteidigt. So schwört er die Zuhörer mit der Hyperbel, St. Just sei nicht ihnen, auch nicht dem Gericht, sondern „der Nachwelt (…) verantwortlich“ (Z. 47 f.), auf ihre Verantwortung gegenüber der Geschichte ein – ihn selber berühre das nicht. Er, so die Metapher, werde „in den Armen des Ruhmes entschlummern“ (Z. 86).