Grundrechte im Spannungsverhältnis

Grundrechte stehen nicht immer in einem spannungsfreien Verhältnis. Manchmal lässt sich das eine Grundrecht nicht umsetzen, ohne dass ein anderes Grundrecht eingeschränkt wird. Dies macht dann eine heikle, häufig umstrittene Abwägung von Wertentscheidungen nötig, die in der Regel von unseren Gerichten durchgeführt wird. Ein konkretes Beispiel für die Abwägung von Grundrechten, die in einem Spannungsverhältnis stehen, wird im Folgenden dargestellt:

Aufgaben

  1. Nennen Sie die angesprochenen Grundrechte. Schauen Sie sich dazu nochmals die Seite „Grundrechte im Grundgesetz“ an.
  2. Benennen Sie die beteiligten Interessengruppen.
  3. Erläutern Sie die Begründungen, die von den Beteiligten als Argumente angeführt werden.
  4. Nehmen Sie zu dem Gerichtsurteil Stellung.

Lösungen

Die Urteilsentscheidung des Landgerichts Köln betrifft die Grundrechte Art. 2 Absatz 2 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit)Art. 4 (Freiheit des Glaubens und der freien Religionsausübung) und Art. 6 (Elternrecht bei Erziehung und Pflege). Die Grundrechte geraten dabei in ein Spannungsverhältnis.

Unmittelbare Interessensgruppen sind zunächst die Eltern und der betroffene vierjährige Junge. Darüber hinaus agiert die Staatsanwaltschaft als Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, deren primäre Aufgabe der Schutz der in Deutschland lebenden Menschen ist. Auch die Ärzte, die bisher bei religiös motivierten Bescheidungen in einer legalen Grauzone agierten, haben ein besonderes Interesse an der Klärung der Sachlage.

Die Eltern des Jungen argumentieren auf Grundlage des Art. 4 GG. Sie sehen das Verbot als einen schwerwiegenden Eingriff in die freie Religionsausübung. Auch beziehen sie sich auf die Inhalte des Art. 6 GG. Dieser legt Pflege und Erziehung als primäre Aufgabe der Eltern fest.

Das Gericht argumentiert auf Grundlage des Art. 2 Absatz 2 GG und dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes. Strafrechtler sehen das 2012 gefallene Urteil als wichtiges Signal für Gerichte und Religionsgemeinschaften, den Schutz von Kindern zu respektieren.

individuelle Lösung

Eine Entscheidung des Landgerichts Köln

Ein Urteil des Landgerichts Köln im Juni 2012 betrifft einen aus religiösen Gründen durchgeführten medizinischen Eingriff: die Beschneidung von Jungen. Sie ist künftig als Körperverletzung zu werten.

Der Fall: In Köln hatte ein muslimischer Arzt an einem vierjährigen Jungen auf Wunsch der Eltern eine Beschneidung vorgenommen. Zwei Tage später kam es zu Nachblutungen, die Mutter brachte den Jungen in die Kindernotaufnahme. Die Staatsanwaltschaft erhielt Kenntnis davon und erhob Anklage gegen den Beschneider. Nachdem das Amtsgericht den Eingriff für rechtens befand, legte sie Berufung ein. Das Landgericht wertete ihn jetzt als „schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit“.

Wer Jungen aus religiösen Gründen beschneidet, macht sich wegen Körperverletzung strafbar. Dies hat das Landgericht Köln in einem Urteil vom 26. Juni 2012 entschieden.
Weder das Elternrecht noch die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit können diesen Eingriff rechtfertigen, stellte das Gericht in seiner Urteilsbegründung klar. Damit stellt erstmals ein deutsches Gericht den religiösen Brauch unter Strafe.
Jährlich werden in Deutschland mehrere tausend Jungen in ihren ersten Lebensjahren auf Wunsch der Eltern beschnitten. In den USA wird sogar die Mehrheit aller Jungen – weitgehend unabhängig von der Religion – direkt nach Geburt beschnitten. Auch dort formiert sich nun aber massiver Widerstand gegen diese Praxis. Weltweit sind rund ein Viertel aller Männer beschnitten.
Über Jahrzehnte hatten Ärzte in Deutschland in einer juristischen Grauzone agiert, wenn sie Jungen aus rein religiösen Gründen beschnitten, ohne dass es eine medizinische Notwendigkeit gab. Bislang konnten sie sich jedoch darauf berufen, keine Kenntnis von der Strafbarkeit religiöser Beschneidungen gehabt zu haben. Selbst wenn ein Gericht den Einzelfall später als Körperverletzung anerkannte, musste der Arzt wegen des sogenannten Verbotsirrtums freigesprochen werden. Mit dem Kölner Urteil fällt diese Möglichkeit nun weg.
„Das Urteil ist vor allem für Ärzte enorm wichtig, weil diese jetzt zum ersten Mal Rechtssicherheit haben“, sagte Holm Putzke von der Universität Passau. Der Strafrechtler fordert seit Jahren ein ausdrückliches Verbot der religiösen Beschneidung. „Das Gericht hat sich – anders als viele Politiker – nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden“, lobte Putzke. „Diese Entscheidung könnte nicht nur die zukünftige Rechtsprechung prägen, sondern im besten Fall auch bei den betroffenen Religionen zu einem Bewusstseinswandel führen, Grundrechte von Kindern zu respektieren.“
Vor allem muslimische und jüdische Organisationen weisen die Forderungen nach einer Strafbarkeit der Beschneidung bislang entschieden zurück. Sie werten ein Verbot als „schweren Eingriff in das Recht auf freie Religionsausübung“. Der Richterspruch dürfte für Diskussionen sorgen. Seit Jahren ringen Politik und Verbände um eine bessere Integration der muslimischen Bevölkerung. Einige Muslime dürften das Kölner Urteil nun als einen Rückschritt auffassen. Experten gehen davon aus, dass nun weitere Fälle vor Gericht landen werden. Abschließend könnte die Frage nach der Strafbarkeit religiös motivierter Beschneidungen dann wohl vom Bundesverfassungsgericht geregelt werden.

Quelle: FTD vom 26.6.2012