Lyrik

Eigenheiten der Lyrik

Zwischen Reibeplätzchen und Pfannekuchen
Du fragst, warum ich bleibe, Schätzchen?
Ich warte noch auf Reibeplätzchen.
Drum laß mich nicht mehr lange lauern,
denn sollte das noch lange dauern,
dann kannst du mich bei Hanne suchen,
die backt die besten Pfannekuchen.
Günter Nehm: Laura & Leopold liebten sich lüstern. Unmögliche Gedichte. Essen 2001

Woran erkennt man Lyrik? Von den beiden anderen Gattungen, der Dramatik und der Epik, unterscheidet sie sich meistens durch ihre Kürze und dadurch, dass die Form eine besondere Rolle spielt.

Das Gedicht „Zwischen Reibeplätzchen und Pfannekuchen“ umfasst nur 6 Zeilen, auch Verse genannt, ist also recht kurz.
Die Wörter am Ende der  Verse reimen sich – und zwar immer paarweise, weshalb man von einer besonderen Betonung der Form sprechen kann.

Die Farben verdeutlichen den paarweise auftretenden Endreim.

Du fragst, warum ich bleibe, Schätzchen?
Ich warte noch auf Reibeplätzchen.
Drum laß mich nicht mehr lange lauern,
denn sollte das noch lange dauern,
dann kannst du mich bei Hanne suchen,
die backt die besten Pfannekuchen.

Auch dieses „unmögliche“, nicht sehr ernst zu nehmende Gedicht ohne besonderen Tiefgang weist typische Merkmale der Lyrik auf.

Auch der folgende Text gehört in den Bereich der Lyrik, obwohl er eine ganz andere Absicht verfolgt als das Gedicht „Zwischen Reibeplätzchen und Pfannekuchen“ von Günter Nehm.


schtzngrmm
schtzngrmm
schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
s——–c——–h
tzngrmm
tzngrmm
tzgrmm
grrmmmmm
schtzn
schtzn
t-t-t-t
t-t-t-t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
scht
scht
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t-t-t-t-t-t.t-t-t-t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t-tt
Ernst Jandl: Laut und Luise. Stuttgart 1976

Aber er wird sofort als Gedicht identifiziert, weil er die üblichen Kennzeichen aufweist: Das merkwürdig ausgefranste Druckbild, die Wiederholung einzelner Wörter und Laute.

So schräg dieses zur „konkreten Poesie“ gerechnete Gedicht auf den ersten Blick aussieht und klingt – es ist Nonsens mit Sinn. Ernst Jandl verzichtet in „schtzngrmm“ nämlich ganz auf Vokale, wodurch er das Getöse des Schützengrabens vernehmbar macht. Spielerisch arbeitet er mit den Lauten, aus denen die Sprache besteht und versucht etwas bis dahin noch nicht in Worte Gefasstes zum Ausdruck zu bringen. Weil diese relativ junge Art der Dichtung nicht auf die Bedeutung der Wörter setzt, sondern auf ihre Klangqualität, nennt man sie eben „konkrete Poesie“ – das Geheimnis dieser Gedichte ist die unauflösbare Einheit von Inhalt, Stoff, sprachlichem Material und Form.

Das folgende Gedicht steht beispielhaft für ein weiteres wichtiges Element von Gedichten: für den Takt bzw. den Rhythmus. In der gesprochenen Sprache wird jeweils ein Vokal betont. Das ist im Deutschen in einsilbigen bzw. nicht zusammengesetzten Wörtern i.d.R. der erste Vokal. Manchmal unterscheidet man an der Betonung auch den Sinn von Wörtern. Wird z.B. das Wort übersétzen auf der zweiten Silbe betont, dann geht es um zwei Sprachen, wird das Wort ǘbersetzen hingegen auf der ersten Silbe betont, dann hat der Vorgang etwas mit Wasser zu tun. Diese sprachliche Festlegung von betonten und unbetonten Vokalen benutzen Dichter, vereinfacht gesagt, um ihrem Werk zu einem eigenen Sprachfluss zu verhelfen.

Wenn Sie einen Trauermarsch oder ein Requiem hören, bemerken Sie sofort den Anlass und erkennen die Stimmungslage, die das Musikstück ausdrücken möchte. Bei Gedichten ist es genauso: Die verschiedenen Rhythmen bringen ganz verschiedene Gemütsverfassungen zum Ausdruck. So erkennen Sie z.B. sofort am Rhythmus eines Liedes wie auch Gedichtes, ob es eher fröhlich, aufmunternd oder ob es eher traurig oder nachdenklich ist.

Verklärter Herbst
Gewaltiendet so das Jahr Gêwáltîéndêt só dâs Jáhr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. Mit goldnem Weiund Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten. Und sind des Einsamen Gefährten.
Da sagt der Landmann: Es ist gut. Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut. Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise. Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.
Es ist der Liebe milde Zeit. Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht – Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –
Das geht in Ruh und Schweigen unter. Das geht in Ruh und Schweigen unter.
Georg Trakl

Aufgaben:

1 Arbeiten Sie den Reim und den Rhythmus heraus und geben Sie den Inhalt der 3 Strophen in eigenen Worten wieder.

Lösungen

Verklärter Herbst von Georg Trakl
Die Form:

Verklärter Herbst
Reimschema Rhythmus
Gewaltig endet so das Jahr a Gêwáltîéndêt só dâs Jáhr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. b Es handelt sich um einen so genannten
Rund schweigen Wälder wunderbar a vierhebigen Jambus mit der Betonung auf der 2. Silbe.
Und sind des Einsamen Gefährten. b Er vermittelt Freude, Optimismus, Zufriedenheit.

Der Inhalt der Strophen:

Verklärter Herbst
Reimschema
Inhalt der Strophen
Gewaltig endet so das Jahr a In Vers 1 und 2 beschreibt der Dichter die Fülle der Ernte. Er hat zu diesem Reichtum aber offensichtlich keinen Bezug, die Einsamkeit wird nicht überwunden, er fühlt sich den „schweigenden Wäldern“ verbunden.
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. b
Rund schweigen Wälder wunderbar a
Und sind des Einsamen Gefährten. b
Da sagt der Landmann: Es ist gut. c Drei Bilder: Der zufriedene Landmann, die Hoffnung, die aus den „Abendglocken“ entsteht, obwohl sich das „Ende“ nähert, und der „Vogelzug“, der auf den ersten Vers Bezug nimmt: „…so endet das Jahr“.
Ihr Abendglocken lang und leise d
Gebt noch zum Ende frohen Mut. c
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise. d
Es ist der Liebe milde Zeit. e Liebende gleiten „den blauen Fluss hinunter“, ziehen unaufhaltsam vorbei. Dem Einsamen reihen sich die Bilder wie flüchtige Impressionen aneinander (3. Vers). Die letzte Verszeile nimmt das in der 1. Strophe aufgegriffene Motiv des Schweigens wieder auf. All die Impressionen gehen „in Ruh und Schweigen unter.“
Im Kahn den blauen Fluß hinunter f
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht – e
Das geht in Ruh und Schweigen unter. f
Georg Trakl

Beispiel: „Kleines Solo“ von Erich Kästner

Aufgaben:

2 Identifizieren Sie die typischen Merkmale der Lyrik.


Kleines Solo


Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Musst erfahren,
dass es nicht die Liebe ist …
Bist sogar im Kuss alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Erich Kästner: Der tägliche Kram. Zürich o.J.

Lösungen

Merkmale der Lyrik in dem Gedicht „Kleines Solo“

Merkmale der Lyrik „Kleines Solo“
· Gedanken, Stimmungen, Gefühle werden ausgedrückt  (= persönliche Sichtweise des Autors). Das lyrische Ich schaut aus dem Fenster und hängt seinen Gefühlen nach.
· Daher ist die Lyrik die subjektivste Gattung. Die Aussage „Einsam bist du sehr alleine“ gilt zunächst nur für das lyrische Ich – sie wird nicht verallgemeinert.
· Lyrische Texte sind in sprachlich gebundener Form
dargestellt:
Das Gedicht hat Ähnlichkeiten mit Musik. Das merkt man am Rhythmus und an den Klängen.
· ·  Strophenform Es besteht aus 4 Strophen. Unter Strophe versteht man die Kombination mehrerer Verse (= Zeilen, auch Verszeilen genannt) zu einer Einheit, die sich von den anderen Verseinheiten abhebt.
· ·  Reimschema Das Reimschema für die erste Strophe lautet:
abccba
· ·  Versmaß Man kann eine regelmäßige Tonfolge erkennen, die aus der Zahl und dem Abstand der betonten Silben entsteht.

Einsendeaufgaben

Interpretieren Sie das folgende Gedicht nach Form und Inhalt.


Kleines Solo


Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.

Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Musst erfahren,
dass es nicht die Liebe ist …
Bist sogar im Kuss alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Erich Kästner: Der tägliche Kram. Zürich o.J.

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