Friedliche Revolution
Die Ereignisse im Jahr 1989
Eine tiefe innenpolitische Krise wurde vor allem bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 deutlich. Nach offiziellen Angaben erreichte der gemeinsame Wahlvorschlag der „Nationalen Front“ 98,85%. Erstmals in der Geschichte der DDR registrierte man weniger als 99% der Ja-Stimmen. Doch auch diese Angaben waren gefälscht. Nach den Wahlen kam es zu Protesten und Demonstrationen. Regimekritiker erstatteten Anzeige wegen Wahlfälschung und Manipulation und ließen damit ein gewachsenes Selbstbewusstsein gegen die Allmacht von Partei und Staat erkennen. In Ost-Berlin wurden im Juni 120 DDR-Bürger verhaftet, da sie Anzeige wegen Wahlfälschung erstatteten. Diese Reaktion der SED-Spitze auf die Fälschung bei den Kommunalwahlen machte deutlich, dass der Graben zwischen der Staatsführung und der Mehrheit des Volkes immer tiefer wurde. Immer deutlicher zeichnete sich die Realitätsferne der Partei- und Staatsführung ab. Hinzu kam der weiterhin vorherrschende Unmut innerhalb der Bevölkerung wegen der bestehenden Mangelwirtschaft und der strikten Ablehnung und Abschottung gegenüber jeglicher Reformansätze seitens der DDR-Führung. Offene Proteste rief auch die Zustimmung Honeckers zur blutigen Demokratiebewegung in Peking im Juni 1989 hervor.
In Ungarn und Polen waren die Demokratisierungsprozesse bereits weiter vorangeschritten. Das ungarische Parlament hatte bereits im Januar 1989 der Bildung weiterer Parteien zugestimmt. Im Februar folgte eine Verfassungsänderung in Ungarn, die die führende Rolle der Staatspartei nicht mehr festschrieb. Am 25.04.1989 verließen die ersten sowjetischen Truppen das Territorium von Ungarn. Im Mai 1989 begann im Beisein des ungarischen und österreichischen Außenministers der Abbau von Grenzanlagen an der österreichisch-ungarischen Grenze. Am 19.08.1989 nutzten etwa 700 DDR-Bürger, die sich als Urlauber in Ungarn aufhielten, die Gelegenheit, um bei einer Veranstaltung in Sopron nach Österreich und später in die Bundesrepublik zu fliehen. Die ungarische Staatsführung verwies darauf, dass diese Situation durch die beiden deutschen Staaten geregelt werden müsse. Daraufhin setzte Ungarn das mit der DDR geschlossene Reiseabkommen außer Kraft und gab damit den Weg für alle ausreisewilligen DDR-Bürger frei. Bis zum 01.10.1989 verließen 24500 Menschen die DDR über Ungarn. Die Allgemeine Deutsche Nachrichtenagentur (ADN) kommentierte diese Massenflucht mit dem wohl von Honecker stammenden Satz: „Man sollte ihnen keine Träne nachweinen.“
Flucht von DDR-Bürgern über die Grenze nach Österreich
Bereits am 11.01.1989 hatten DDR-Bürger mit der Besetzung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin zu erreichen versucht, dass ihre Ausreiseanträge zügig bearbeitet würden und ihnen Straffreiheit zugesichert werde. Im August 1989 wurden mehr als 100 DDR-Bürger, die die bundesdeutsche Botschaft in Budapest besetzt hielten, nach Wien ausgeflogen. Damit begann eine Flüchtlingsbewegung, die innerhalb weniger Wochen derart zunahm, dass Tausende DDR-Bürger in das Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag und Hunderte in die bundesdeutsche Botschaft in Warschau eindrangen. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher überbrachte am Abend des 30.09.1989 persönlich den 6000 Flüchtlingen in der Prager Botschaft die Mitteilung, dass mit der DDR-Führung vereinbart wurde, dass sie in Sonderzügen über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik ausreisen dürften.
Flüchtlingszüge aus Prag
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Von © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0, Link
Gartenseite der deutschen Botschaft in Prag im Palais Lobkowitz. Im Zentrum der halbrunde Balkon im ersten Stock, von dem aus Hans-Dietrich Genscher die Rede hielt.
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Von —Nightflyer (talk) 08:24, 7 April 2012 (UTC) – Eigenes Werk, CC BY 3.0, Link
Gedenktafel am Hauptbahnhof Dresden
Massendemonstrationen
Der 40. Jahrestag der DDR
In dieser Situation, in der Tausende Menschen die DDR verließen, erschienen die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR äußerst makaber. Im ganzen Land nahmen in den letzten Monaten die Massendemonstrationen zu. Am 04.09.1989 begannen in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit friedlichen Montagsdemonstrationen.
Montagsdemonstration in Leipzig
Sie forderten vor allem Reise- und Versammlungsfreiheit. Bis Ende September belief sich die Teilnehmerzahl auf 5000, und am 2. Oktober beteiligten sich etwa 20000 Menschen. Der Erfolg dieser Aktionen ermutigte auch zur Bildung neuer Parteien und Bürgerbewegungen. So konstituierte sich am 12.09.1989 das „Neue Forum“, am 07.10.1989 die Sozialdemokratische Partei der DDR und am 29.10.1989 der „Demokratische Aufbruch“. Die DDR sah sich mit einer zunehmenden Opposition im eigenen Land konfrontiert. Gerade deshalb war der Fackelzug, die Militärparade und der Empfang im Palast der Republik am 06.10.1989 durchaus unangebracht.
Honecker empfing in Ost-Berlin mehr als 4000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 Delegationen aus dem Ausland, unter ihnen auch die sowjetische Delegation mit Michail Gorbatschow. Die SED-Spitze hoffte, vom gewachsenen internationalen Ruf und der Anerkennung Gorbatschows zu profitieren. Aber auch für die Regimekritiker und die Opposition war Gorbatschow ein Hoffnungsträger, der den Reformprozess in der DDR in Gang bringen konnte. Am Abend des 6. Oktober beschränkten sich Honecker und Gorbatschow lediglich auf den Austausch von Nettigkeiten. Es wurde kein Wort über die Massenflucht und die internen Probleme der DDR gesprochen. Während des Fackelzugs am Abend gab es bereits spontane öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Aber auch die Mahnungen Gorbatschows am Tag darauf bei einer Unterredung im Schloss Niederschönhausen verpufften bei Honecker.
Gorbatschow sagte: „Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun […]. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort […]. Wir sind in einer Etappe sehr wichtiger Beschlüsse. Es müssen weitreichende Beschlüsse sein, sie müssen gut durchdacht sein, damit sie reiche Früchte tragen. Unsere Erfahrungen und die Erfahrungen von Polen und Ungarn haben uns überzeugt: Wenn die Partei nicht auf das Leben reagiert, ist sie verurteilt […]. Wir haben nur eine Wahl: entschieden voranzugehen.“
Nachdem Honecker nach diesem Plädoyer wieder nur die neuen Erfolge des Sozialismus in der DDR pries, erhob sich der sowjetische Generalsekretär abrupt, um anzudeuten, dass man das Treffen offenbar beenden möge. Wahrscheinlich gab es nichts mehr zu sagen. Während des Empfangs am Abend im Palast der Republik versammelten sich auf dem Alexanderplatz etwa 15000 bis 20000 Menschen. Sie wurden zunächst von „Agitatoren der Partei“ in Gespräche verwickelt. Die Menschenmenge formierte sich trotz der weiträumigen Absperrungen zu einem Demonstrationszug zum Palast der Republik. Man forderte freie Wahlen, Reisefreiheit, Reformen und appellierte immer wieder mit dem Ruf „Gorbi, Gorbi“ an den sowjetischen Staatschef. Ein Massenaufgebot von Polizei und Staatssicherheit ging mit äußerster Brutalität gegen die Demonstranten vor. Ähnliches ereignete sich zur gleichen Zeit in Leipzig, Dresden, Potsdam und anderen Städten.
Montagsdemonstrationen 1989/1990 in der DDR

Von Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link
Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 …

Von Bundesarchiv, Bild 183-1990-0108-033 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link
… und am 8. Januar 1990, jeweils in Leipzig
Führungswechsel
Der Sturz Honeckers
Für die SED-Spitze waren die Ereignisse während der Jahrestagsfeierlichkeiten ein schwerer Misserfolg. Vor allem Erich Honecker hatte bewiesen, dass er ohne Einsicht war und jeglichen politischen Instinkt verloren hatte, der ihn früher einmal auszeichnete. Zwei Tage nach dem Jubiläum ergriff daher Egon Krenz am Rande eines Treffens, auf dem Erich Mielke vor leitenden Sicherheitskadern über die Vorgänge berichtete, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges, in Ansätzen kritisches Papier. Es sollte vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden. Honecker, der allein das Recht hatte, Vorlagen im Politbüro zur Diskussion einzubringen, lehnte eine Erörterung dieses Papiers ab. Doch erklärte Krenz, dass die Parteiführung nicht länger schweigen dürfe, und kam schließlich telefonisch mit Honecker überein, die Angelegenheit am folgenden Tag nochmals zu besprechen.
Dieser Tag, der 09.10.1989, war besonders spannungsgeladen, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. Künftig sollten bis zum März 1990 jeden Montag – daher die Bezeichnung – friedliche Großdemonstrationen der Bevölkerung stattfinden, die in der Folgezeit von Mal zu Mal anschwellen sollten. In den Kirchen der Stadt und über den Leipziger Stadtfunk wurde daher ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften so unterschiedlicher Personen wie des Kapellmeisters des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, des Pfarrers Peter Zimmermann, des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und der drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung in Leipzig trug und zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte. In Ost-Berlin bemühte sich Krenz, die örtlichen Sicherheitsorgane von der Zentrale aus an die Leine zu legen. Tatsächlich blieb alles ruhig, und Krenz erreichte bei Honecker sein Ziel, seine Proklamation im Politbüro beraten zu lassen, auch wenn die unwirsche Reaktion seines langjährigen Ziehvaters ihn in der Überzeugung bestärkte, dass dessen baldige Ablösung unvermeidlich sei.
Als der Text schließlich am 12.10.1989 in leicht veränderter Form im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ veröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. Die Glaubwürdigkeit war so nicht wiederherzustellen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros im „Neuen Deutschland“ erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Bezirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag und die damit zusammenhängenden Zusammenstöße schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor. Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17.10.1989 den entscheidenden Schritt zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, verabredete er am 15.10.1989, dass Honecker gleich zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am folgenden Tag anlässlich eines seit langem terminierten Besuchs bei seinem sowjetischen Amtskollegen Stepan Schalajew in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren.
Da die Situation in den Bezirken eindeutig schien und auch aus Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17.10.1989 die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, auch Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für seinen sofortigen Rücktritt. Dieser wurde einstimmig beschlossen. Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selbst. Bereits am folgenden Tag wurde Egon Krenz auf Vorschlag des Politbüros vom Zentralkomitee der SED zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt.
40. Jahrestag der DDR

Von Bundesarchiv, Bild 183-1989-1007-402 / Franke, Klaus / CC-BY-SA, CC BY-SA 3.0 de, Link
Ehrenparade der Nationalen Volksarmee zum 40. Jahrestag der DDR

Von Bundesarchiv, Bild 183-1989-1006-410 / Schindler, Karl-Heinz / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link
Ankunft Gorbatschows (Berlin, 6. Oktober 1989)
Die Proteste gegen das SED-Regime setzten sich dennoch fort. So gingen während der ersten Montagsdemonstration nach der Ernennung von Krenz zum Generalsekretär allein in Leipzig mehr als 300000 Menschen auf die Straße – viele von ihnen mit Anti-Krenz-Parolen unter den Stichworten „Demokratie unbekrenzt“ und „Sozialismus krenzenlos“. Überall gab es weitere Großdemonstrationen, beispielsweise in Plauen, Dresden, Halle, Zwickau, Neubrandenburg und Jena sowie in Ost-Berlin, wo sich 5000 Demonstranten vor dem Palast der Republik versammelten, deren Losung lautete: „Demokratie – jetzt oder nie“. Als Krenz am 01.11.1989 in Moskau mit Michail Gorbatschow zusammentraf, war allerdings von einer Krise der DDR kaum die Rede. In Moskau hielt man den SED-Staat offenbar wieder für stabil, nachdem Honecker gestürzt und der Weg für Perestroika und das von Gorbatschow proklamierte neue Denken in der DDR frei geworden war.
Das Gegenteil war der Fall. Als in der Nacht zum 01.11.1989 die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wieder aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8000 DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger die Grenze zur CSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten bereits wieder 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. In der ersten Novemberwoche erreichte auch die Demonstrationsbewegung ihren Höhepunkt, als sich am 04.11.1989 mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelte und am 06.11.1989 ebenfalls wieder eine halbe Million in Leipzig, 60000 in Halle, 50000 in Karl-Marx-Stadt, 10000 in Cottbus und 25000 in Schwerin. Daraufhin traten am 07.11.1989 zunächst die Regierung der DDR (der Ministerrat) und am 08.11.1989 auch das Politbüro geschlossen zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im wesentlichen aus Anti-Honecker-Leuten bestand – unter ihnen Krenz, Modrow, Schabowski und Herger. Hans Modrow wurde zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt. Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, schien er für manche eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei zu verkörpern, auch wenn er kaum als Dissident oder gar als Oppositioneller zu bezeichnen war. Immerhin war es in seinem Parteibezirk Dresden zu den schwersten Übergriffen der Staatsmacht gegen Demonstranten gekommen.