Die sozial-liberale Koalition

Die Ostpolitik der Regierung Brandt

Die große Koalition war in den Augen der meisten Unions- und SPD-Politiker ein Bündnis auf Zeit. Am 28.09.1969 fanden die Wahlen zum Deutschen Bundestag statt. Die CDU/CSU errang 242 Parlamentssitze, die SPD 224 und die FDP 30. Willy Brandt, der amtierende Außenminister und Vorsitzende der SPD, meldete unmittelbar nach der Wahl seinen Anspruch an, die Führung einer aus SPD und FDP gebildeten Bundesregierung zu übernehmen. Die FDP stimmte der Koalitionsbildung zu. Am 22.10.1969 stellte der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt sein Kabinett vor. Vizekanzler und Außenminister wurde der Vorsitzende der FDP, Walter Scheel. In seiner Regierungserklärung am 28.10.1969 kündigte Brandt ein sehr umfangreiches innenpolitisches Reformprogramm an. Sein Anspruch war, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen. Bezüglich der Deutschlandpolitik erkannte er die DDR als den anderen deutschen Staat an und signalisierte ihr gleichzeitig Verhandlungen auf Regierungsebene. In der Außen- und Sicherheitspolitik berief sich die neue Bundesregierung auf die Friedensnote Bundeskanzler Erhards vom März 1966 und die Regierungserklärung Bundeskanzler Kiesingers vom Dezember 1966. Sie kündigte die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages an. Brandt verband mit der Bekräftigung des westlichen Bündnisses auch die Absicht, mit der Sowjetunion und den anderen östlichen Staaten Gespräche zu führen, um den Frieden in Europa und in der Welt zu sichern. Damit kündigte Brandt seine Entschlossenheit an, in der Ostpolitik neue Wege zu gehen.

Bereits 1955 begannen die Gespräche der Bundesregierung über die Ostpolitik, eingeleitet durch die Moskaureise des damaligen Bundeskanzlers Adenauer. Im Anschluss an diese Reise nahm die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zur UdSSR auf. Diese konnten sich aber freilich in der Folgezeit nicht entfalten, da die Bundesregierung die Anerkennung ihrer Rechtsposition verlangte, die u.a. durch ein Beharren auf den Grenzen von 1937, die Nichtanerkennung der DDR sowie dem in der Hallsteindoktrin formulierten Alleinvertretungsanspruch bestand. Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel waren fest entschlossen, die Konfrontationen mit allen Ostblockstaaten einschließlich der DDR abzubauen, um so eine Verhandlungsbasis zu schaffen. Erklärendes Motiv für die Haltung der Bundesregierung in dieser Frage war das Interesse der BRD, den Zusammenhalt der ganzen deutschen Nation durch vermehrten Austausch zwischen den Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR zu wahren und zu fördern sowie die Lebensfähigkeit West-Berlins zu erhalten. Die Sowjetunion, Polen und die DDR ließen ihre Bereitschaft erkennen, mit der Bundesregierung bezüglich der Ostpolitik Gespräche und Verhandlungen zu führen. Auch der „Prager Frühling“ konnte den Entspannungsprozess zwischen den beiden Blöcken nicht wirklich stören.

Innerdeutsche Treffen in Erfurt und Kassel

Die Gespräche zwischen der Bundesregierung und den Regierungen in Moskau und Warschau über den Abschluss von Verträgen waren bereits eingeleitet, als es im Januar 1970 auch zu einem Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem Ministerpräsidenten der DDR, Willi Stoph, kam. Beide vereinbarten zwei Gipfeltreffen für den 19.03.1970 in Erfurt und den 21.05.1970 in Kassel. Die Vorbereitungen und Vorverhandlungen zu diesen Treffen gestalteten sich sehr schwierig. Die Regierung unter Willy Brandt war fest entschlossen, die Einheit der deutschen Nation zu wahren und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, die die Regierungsvertreter aus Ost-Berlin forderten, zu verweigern. In seiner Regierungserklärung vom 28.10.1969 hatte der Kanzler die Haltung der Bundesrepublik eindeutig formuliert: „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“

Zwischen den Politikern beider Staaten hatte es seit der gescheiterten Münchner Ministerpräsidentenkonferenz im Juni 1947 keine offiziellen Begegnungen mehr gegeben. Deshalb sah man in Ost und West diesem Treffen mit größten Spannungen entgegen. In Erfurt schlug dem Kanzler eine Welle der Sympathie entgegen. Hier fanden die Gespräche zwischen Stoph und Brandt in ruhiger und relativ harmonischer Atmosphäre statt. In Kassel hingegen wurde das Treffen durch rechtsextreme Entspannungsgegner gestört. Deshalb klang das Gipfeltreffen eher nüchtern und in fast frostiger Stimmung aus. Die DDR beharrte auf der vollen völkerrechtlichen Anerkennung. Bundeskanzler Willy Brandt akzeptierte die Gleichberechtigung der DDR und stimmte den Austausch von Bevollmächtigten, nicht aber von Botschaftern, zu. Brandt betonte: „[…] Beide Staaten haben ihre Verpflichtungen zur Wahrung der Einheit der deutschen Nation.“

Trotz der zahlreichen gegensätzlichen Standpunkte wurden die Gespräche zwischen Bonn und Ost-Berlin auf der Ebene der Staatssekretäre weiter geführt. Diese mündeten dann am 21.12.1972 in die Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik.

Willi Stoph und Willy Brandt auf dem  Erfurter Bahnhof

Die Ostverträge

Der Moskauer Vertrag

Egon Bahr, Staatssekretär im Bundeskanzleramt und enger Vertrauter Willy Brandts, leitete ab Ende Januar 1970 die Vorverhandlungen zu einem Vertragsabschluss zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion in Moskau. Diese Gespräche gestalteten sich anfänglich recht schwierig, da die russische Seite auf der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die BRD bestand. Die Bundesregierung strebte aber vordergründig ein Gewaltverzichtsabkommen an. Nach Absprache mit dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und Debatten innerhalb der Regierungskoalition durfte Bahr auch „konkrete Tatbestände“ in die Verhandlungen einbeziehen. Das hieß in diesem Fall, dass auch über die Frage der Grenzen gesprochen werden konnte. Das Eingehen der Bundesregierung auf die vom sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko geforderten Grenzgarantien hatte zur Folge, dass jetzt die völkerrechtliche Anerkennung der DDR im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss fallengelassen wurde. Zu innenpolitischen Auseinandersetzungen führte das vorzeitige Erscheinen des Verhandlungsdokuments in einer Illustrierten. Die Veröffentlichung dieses als Bahr-Papier bekannt gewordenen Dokuments führte dazu, dass die Opposition die Meinung vertrat, dass die Regierung zu eilfertig verhandle und unveräußerliche Rechtspositionen aufgegeben wurden bzw. man sich nicht genug abgesichert habe. Außenminister Walter Scheel führte die Abschlussverhandlungen in Moskau. Am 12.08.1970 unterzeichneten Bundeskanzler Willy Brandt und der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Kossygin, sowie die beiden Außenminister Scheel und Gromyko das Vertragspapier.

Der Warschauer Vertrag

Mit Beginn des Jahres 1970 bemühte sich die Bundesregierung auch um Gespräche mit der polnischen Regierung, um einen Vertrag zwischen beiden Staaten zur Normalisierung der Beziehungen in Gang zu bringen. Staatssekretär Duckwitz leitete für die deutsche Seite die Vorverhandlungen. Der Vertrag wurde am 07.12.1970 von Bundeskanzler Brandt, dem polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz sowie den beiden Außenministern unterzeichnet. Die schwierige Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze wurde durch eine Vertragsformel geregelt. Beide Seiten bekräftigten, dass diese Grenze „unverletzlich“ sei. Sie sei aber wegen des fehlenden Friedensvertrages noch nicht „endgültig“. Außerdem verpflichteten sich beide Seiten zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität. Außerdem bekräftigte die polnische Regierung ihre Bereitschaft, im Zuge der Familienzusammenführung Einwohner mit unstreitbar deutscher Volkszugehörigkeit ausreisen zu lassen.

Während seines Aufenthalts in Polen legte der Bundeskanzler am 07.12.1970 am Denkmal für die Opfer des jüdischen Ghettoaufstandes einen Kranz nieder. Protokollarisch unvorhergesehen kniete er eine Minute vor dem Denkmal nieder, um die jüdischen Opfer zu ehren. Das Bild vom Kniefall von Warschau ging um die Welt. das polnische Volk nahm diese Geste, diese Bitte um Versöhnung, mit Anteilnahme auf. Teile der deutschen Bevölkerung fanden aber Brandts Haltung als überzogen und unangebracht. Von je 100 Befragten empfanden 48% die Haltung Brandts als übertrieben, 41% als angemessen und 11% hatten keine Meinung dazu.

Die Bitte um Versöhnung

Aufgaben:

Welche inhaltlichen Punkte der Ostverträge werden zu Meinungsverschiedenheiten geführt haben und warum?

Der Moskauer Vertrag – Aus dem „Bahr-Papier“:

Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der europäischen und internationalen Sicherheit von den Zielen und Prinzipien, die in der Satzung der Vereinten Nationen niedergelegt sind, leiten lassen. Demgemäß werden sie ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und übernehmen die Verpflichtung, sich in Fragen, die die europäische Sicherheit berühren, sowie in ihren bilateralen Beziehungen gemäß Artikel 2 der Satzung der Vereinten Nationen, der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten. […]

3

Die BRD und die SU stimmen in der Erkenntnis überein, dass der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet.

Sie verpflichten sich, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren Grenzen uneingeschränkt zu achten.
Sie erklären, dass sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden.

Sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Abkommens verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der BRD und der DDR.

4

Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken berührt nicht die früher geschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Abkommen beider Seiten.

5

Zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken besteht Einvernehmen darüber, dass das von ihnen zu schließende Abkommen über … (einzusetzen die offizielle Bezeichnung des Abkommens) und entsprechende Abkommen (Verträge) der Bundesrepublik Deutschland mit anderen sozialistischen Ländern, insbesondere Abkommen (Verträge) mit der Deutschen Demokratischen Republik (vgl. Ziffer 6), der Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (vgl. Ziffer 8), ein einheitliches Ganzes bilden.

6

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt ihre Bereitschaft, mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik ein Abkommen zu schließen, das die zwischen Staaten übliche gleiche verbindliche Kraft haben wird wie andere Abkommen, die die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik mit dritten Ländern schließen. Demgemäß will sie ihre Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage der vollen Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, der Achtung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen, gestalten. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland geht davon aus, dass sich auf dieser Grundlage, nach der keiner der beiden Staaten den anderen im Ausland vertreten oder in seinem Namen handeln kann, die Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zu dritten Staaten entwickeln werden. […]

Zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken besteht Einvernehmen darüber, dass die mit der Ungültigkeit des Münchner Abkommens verbundenen Fragen in Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik in einer für beide Seiten annehmbaren Form geregelt werden sollen. [. ..]

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken begrüßen den Plan einer Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und werden alles von ihnen Abhängende für ihre Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung tun.

Texte zur Deutschlandpolitik des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen, Bd VI, S.90ff.

Hinweis: Das „Bahr-Papier“, benannt nach Egon Bahr, dem bundesdeutschen Vertreter bei den Moskauer Verhandlungen, bildete die Grundlage des Moskauer Vertrages, mit dem zum Teil wörtliche Übereinstimmungen bestehen.

Lösungen

  • Unantastbarkeit gegenwärtiger Grenzen
  • Keinerlei Gebietsansprüche
  • Unverletzlichkeit der Grenzen aller Staaten in Europa
    einschließlich der Oder-Neiße-Linie und der innerdeutschen Grenze
  • Gleichberechtigte Beziehungen mit der DDR
  • Ungültigkeit des Münchner Abkommens