Koalition mit Bruchstellen
Kriegskoalition
Aufgabe
Analysieren Sie das sowjetische Propagandaplakat.
Erläutern Sie den historischen HIntergrund, vor dem es zu verstehen ist.

Sowjetisches Plakat zur Anti-Hitler-Koalition, Alex Keil, Moskau/Leningrad, 29. Juli 1944, Deutsches Historisches Museum Berlin.
Der Text stammt von dem sowjetischen Dichter Alexander Scharow: „Es heult der Besessene. Er hört, wie die Stunde der nahen Vergeltung schlägt!“
Das Bild zeigt den Kopf von Adolf Hitler in der Mitte eines großen Hakenkreuzes. Der Mund ist geöffnet, die Gesichtszüge furchtsam verschoben. Von drei Seiten wird ihm jeweils eine Faust in das Gesicht geschlagen. Die Fäuste tragen jeweils als Manschette die Flaggen Großbritanniens, der USA und der UdSSR.
Das Plakat möchte einen gemeinsamen Kampfgeist der sehr unterschiedlichen Länder beschwören, der es ihnen ermöglicht, Hitler in seine Schranken zu verweisen.
Das Plakat entstand 1944, als alle drei Nationen im Zweiten Weltkrieg gemeinsam gegen Deutschland und Japan kämpften. Auch wenn die Ideen des Westens und die der UdSSR in vielen Aspekten schwer vereinbar schienen (vgl. vorhergehendes Kapitel), stellten die faschistischen Länder einen gemeinsamen Gegner dar. Unterschiedliche Ansichten und Interessen wurden für die Dauer des gemeinsamen Kampfes zurückgestellt.
Der Weg in den Kalten Krieg
Allen ideologischen Gegensätzen zum Trotz hatten sich die Westmächte in der Anti-Hitler-Koalition zunächst immer wieder auf gemeinsame Ziele einigen können. Grundlage waren die von allen Gegnern der Achsenmächte unterzeichneten Prinzipien der Atlantik-Charta. Die Vision einer auf kollektiver Sicherheit beruhenden Nachkriegsordnung, wie sie vor allem der US-amerikanische Präsident Roosevelt mit seiner „Politik der Einen Welt“ formulierte, erschien allen ein lohmnedes Ziel. Die Gründung der Vereinten Nationen (UNO) am 24.10.1945 in San Francisco kann als ein letztes Ergebnis dieser Politik angesehen werden. Hinter den Kulissen hatte die Koalition allerdings längst Risse bekommen.
Aufgabe
Informieren Sie sich im Folgenden über die Entwicklungen, die zu einer zunehmenden Entfremdung innerhalb der Anti-Hitler-Koalition führten.
Beurteilen Sie, welche Schritte besonders bedeutsam waren und an welchen Stellen andere Entscheidungen möglich gewesen wären.
Bereits auf den Kriegskonferenzen der Anti-Hitler-Koalition taten sich große Differenzen auf. Der sowjetische Staatschef Stalin bestand darauf, dass die Gebiete, die von der UdSSR im Zweiten Weltkrieg von Polen zurückerobert hatte, auch bei der UdSSR bleiben sollten. Die Ostgrenze Polens würde somit mit der sogenannten Curzon-Linie übereinstimmen, die nach dem Ersten Weltkrieg festgelegt worden war. In der Zwischenkriegszeit hatte Polen allerdings seine Grenzen nach Osten ausgedehnt, was die Mitglieder der polnischen Exilregierung auch beibehalten wollten. Nach dem Wunsch Stalin sollte Polen als Ersatz deutsche Territorien im Westen bekommen, Polen sollte also – bildlich gesprochen – „nach Westen verschoben“ werden. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, hatte die Rote Armee mit der Vertreibung von Deutschen und Polen im Sinne einer Westverschiebung begonnen. Die West-Alliierten sahen diese Entwicklungen skeptisch; mit den Vertreibungen bahnte sich nicht nur eine humanitäre Katastrophe an, sondern auch eine offensichtliche Verletzung des in der Atlantik-Charta postulierten Selbstbestimmungsrechts der Völker. Da sie aber davon ausgingen, die UdSSR, die die Hauptlast des Krieges trug, noch auf unabsehbare Zeit als Partner zu brauchen, erklärten sie sich einverstanden.
Um den westlichen Einfluss in Europa nach dem Krieg gegen eine übermächtige UdSSR zu stärken und auch für den Fall zu gewährleisten, dass sich die USA wieder aus Europa zurückzogen, setzte sich Großbritannien mit seiner Forderung durch, auch Frankreich an der Besatzung Deutschlands zu beteiligen, obwohl die offizielle französische Armee ja gegen Deutschland kapituliert hatte.
Zu einem letzten Kompromiss konnten sich die Alliierten nach der Kapitulation des Deutschen Reiches in der Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945 durchringen. Noch immer musste ein Mindestmaß an Kooperation erhalten bleiben, da der Krieg gegen Japan ja noch nicht beendet war. Man einigte sich formelhaft auf die sogenannten 5Ds (Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentraliusierung, Demontagen, Demoktratisierung) ohne z.B. genau zu definieren, worin eine „Demokratisierung“ genau bestand. Gemäß ihrer unterschiedlichen Ideologie (vgl. vorhergehendes Kapitel) bedeutete dies für die westlichen Siegermächte die Freiheit von Wahlen und den Aufbau von Parlamenten, für die UdSSR dagegen in erster Linie die Sozialisierung von Produktionsmitteln. Die Westverschiebung Polens wurde ebenso akzeptiert wie die Vertrteibung und „Umsiedlung“.
Die Bereitschaft der USA, sich mit der UdSSR als Partner im Zweiten Weltkrieg immer wieder arrangieren zu müssen, war nach dem Kompromiss der Potsdamer Konferenz extrem gesunken. Viel sinnvoller erschien es der US-amerikanischen Regierung den Krieg gegen Japan mit einem radikalen Schritt schnell und eigenständig zu beenden und damit auch die eigene militärische Überlegenheit gegenüber der UdSSR zu dokumentieren. Im Sommer 1945 waren die US-amerikanischen Arbeiten an der Entwicklung einer Atombombe zu ersten handfesten Ergebnissen gekommen und man entschied sich, mit dem Abwurf von Atombomben auf japanische Großstädte Japan zur Kapitulation zu zwingen.
Am 6. Und am 9. August wurden auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki Atombomben abgeworfen, deren Explosion ca. 100 000 Menschen sofort tötete, an Folgeschäden verstarben bis Ende 1945 ca. 130 000 Menschen zusätzlich, Spätfolgen sind bis heute festzustellen. Wenige Tage nach den Bombenabwürfen gab der japanische Kaiser das Ende des „Großostasiatischen Krieges“ bekannt. Mit der offiziellen Kapitulation Japans am 2. September endete der Zweite Weltkrieg.
Die USA hatten mit dem Atombombenabwurf der Welt gezeigt, dass sie auch ohne die UdSSR einen Krieg gewinnen können, vor allem aber auch, dass sie in der Lage und willens sind, ihre Interessen mit Hilfe überlegener Technik und ohne ethische Skrupel zu verfolgen.
Im Einflussbereich der Roten Armee hatte die UdSSR bereits während des Zweiten Weltkriegs begonnen, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in ihrem Sinne umzugestalten. Mit Hilfe einheimischer kommunistischen Politikern, die z.T. in der UdSSR im Exil gelebt hatten, wurden „Marionettenregierungen“ ins Leben gerufen, die von der UdSSR abhängig waren und ihre Entscheidungen an dieser ausrichteten. Wo das nicht möglich erschien, beteiligten sich moskautreue kommunistische Parteien an bürgerlichen Regierungen um diese Stück für Stück zu unterwandern und vor allem Schlüsselressorts, mit denen man Staat und Gesellschaft nachhaltig prägen konnte, in ihre Gewalt zu bekommen.
Kommunistische Regime entstanden auf diese Weise z.B.
- in Polen am 22. Juli 1944 unter dem kommunistischen „Polnischen Komitee der nationalen Befreiung“ (1952 VR Polen);
- in Bulgarien nach dem Einmarsch der Roten Armee am 8. und 9. September 1944, nach dem es am 9. September zur Bildung der „Vaterländischen Front“ als provisorische Regierung und am 15. September 1946 zur Proklamation der Volksrepublik Bulgarien kam;
- in Rumänien, wo es bei Wahlen nach Einheitsliste am 9. November 1946 zu massiven z. T. gewaltsamen Wahlmanipulationen kam, so dass die Kommunisten auf 80 % der Stimmen kamen. König Mihai dankte am 30. Dezember 1947 ab und es kam am 13. April 1948 zur Ausrufung der Rumänischen Volksrepublik;
- in der Tschechoslowakischen Republik (CSR, erst ab 1960 CSSR) kam es nach dem Februarumsturz 1948 zur Errichtung eines kommunistischen Regimes;
- in Ungarn nach der Auflösung der demokratischen Parteien und der Parlamentswahl im Mai 1949 mit der „Partei der Ungarischen Werktätigen“ als einzige zugelassene Partei sowie der Annahme der neuen Verfassung der Ungarischen VR am 20. August 1949.
Aufgabe
Analysieren Sie die beiden Texte. Gehen Sie dabei nach folgenden Kriterien vor:
- Wie wird die Lage beschrieben?
- Welche Definition von „Demokratie“ ist erkennbar? Sie können dabei auch die unten stehende Definition miteinbeziehen.
- Welche Konsequenzen werden nahegelegt oder gefordert?
Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit dem Schaubild.
Abgesehen von der Bewilligung von Geldmitteln bitte ich den Kongress die Entsendung von zivilen und militärischen Fachkräften nach Griechenland und der Türkei auf Ersuchen dieser beiden Länder zu genehmigen. Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 576 f.
Während der Krieg im Gange war, marschierten die Alliierten im Kampfe gegen Deutschland und Japan zusammen und bildeten ein einziges Lager. Nichtsdestoweniger bestanden sogar während des Krieges im alliierten Lager im Hinblick auf die Definition sowohl der Kriegsziele als auch der Aufgaben der Nachkriegsorganisation der Welt Meinungsverschiedenheiten. Die Sowjetunion und die demokratischen Länder sahen ihre hauptsächlichen Kriegsziele in der Wiederherstellung und Konsolidierung der demokratischen Ordnung in Europa, in der Beseitigung des Faschismus und der Verhinderung der Möglichkeit einer neuen Aggression seitens Deutschlands und in der Herstellung einer allseitigen, dauerhaften Zusammenarbeit unter den Nationen Europas. Die Vereinigten Staaten von Amerika – und Großbritannien im Einvernehmen mit ihnen – stellten sich ein anderes Kriegsziel: Sie wollten die Konkurrenten auf den Märkten – Deutschland und Japan – loswerden und ihre eigene Überlegenheit sichern. Dieser Unterschied in der Definition der Kriegsziele und der Aufgaben der
Nachkriegsregelung begann in der Nachkriegsperiode deutlich zu werden. Zwei entgegengesetzte Kurse der Politik nahmen Gestalt an: Auf der einen Seite strebte die Politik der UdSSR und der demokratischen Länder nach der Überwindung des Imperialismus und der Konsolidierung der Demokratie. Auf der anderen Seite strebte die Politik der Vereinigten Staaten und Großbritanniens nach der Stärkung des Imperialismus und der Abwürgung der Demokratie. Angesichts der Tatsache, dass die UdSSR und die Länder der neuen Demokratie die Verwirklichung der imperialistischen Pläne für den Kampf um die Weltvormachtstellung und um die Vernichtung der demokratischen Bewegungen verhinderten, wurde eine Kampagne gegen die UdSSR und die Länder der Demokratie proklamiert und von den eifrigsten imperialistischen Politikern in den USA und Großbritannien durch Drohungen verschärft.
So sind zwei Lager entstanden: das imperialistische, antidemokratische Lager, dessen Hauptziel darin besteht, die Weltvormachtstellung des amerikanischen Imperialismus zu erreichen und die Demokratie zu zerstören, und das antiimperialistische, demokratische Lager, dessen Hauptziel es ist, den Imperialismus zu überwinden, die Demokratie zu konsolidieren und die Überreste des Faschismus zu beseitigen.
Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 156 f.
Kampf der Deutungen
Aufgabe
Die Polarisierung in der Phase des Kalten Kriegs schlug sich auch in der historischen Forschung nieder. Es haben sich dabei mehrere Deutungen für die Entstehung des Kalten Krieges herauskristallisiert.
1. Erarbeiten Sie, wer für die Autoren die Hauptverantwortung für die Entstehung des Kalten Krieges trug. Fassen Sie dazu die jeweiligen Argumentationslinien zusammen.
2. Ordnen Sie die Deutungen mit Hilfe des Überblicks zu den Deutungsansätzen den jeweiligen Hauptströmungen zu.
A) Der amerikanische Historiker William Appleman Williams
Nicht der Besitz der Atombombe war es, der die amerikanischen Führer zu einer harten Haltung gegenüber Russland veranlasste, sondern ihre Perspektive der offenen Tür, in deren Licht die Bombe als die letzte Garantie dafür erschien, dass sie künftig noch schneller auf dem Weg zur Vorherrschaft in der Welt voranschreiten konnten.
Lange bevor noch jemand wusste, dass die Bombe funktionieren würde, operierten die Führer Amerikas aufgrund dreier Prämissen oder Ideen, welche die Welt unter dem Gesichtspunkt des Kalten Krieges definierten. Die erste besagte, dass Russland zwar böse, aber schwach sei. […]
Die amerikanischen Führer, die weit davon entfernt waren, mit einem unmittelbar bevorstehenden Angriff Russlands zu rechnen, […] konzentrierten sich […] darauf, den amerikanischen Einfluss in Osteuropa wiederherzustellen und die Russen auf ihre traditionellen Grenzen zurückzudrängen. […]
Eine weitere Grundauffassung der amerikanischen Führer definierte die Vereinigten Staaten als das Symbol und den Agenten des Positiven, Guten, im Gegensatz zum sowjetischen Übel, und unterstellte, dass die Kombination von amerikanischer Stärke und russischer Schwäche es ermöglichen würde, die Zukunft der Welt in Übereinstimmung mit dieser Beurteilung zu gestalten. […]
Der dritte wesentliche Aspekt der Perspektive der offenen Tür, der ebenfalls vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Erscheinung trat, war die Befürchtung, dass das Wirtschaftssystem Amerikas in eine schwere Depression geraten würde, wenn es nicht seine Expansion in Übersee fortsetzte. […]
Präsident Harry S. Truman war ein begeisterter und militanter Verfechter der Vorherrschaft Amerikas auf der Welt.
Quelle: William Appleman Williams, Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie (1962), Übers. Nils Lindquist, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, S-261-271.
B) Der deutsche Historiker Wilfried Loth
Was 1955 an sein Ende gekommen war, war der Prozess der Blockbildung in Ost und West: der Prozess der Etablierung einer neuen internationalen Ordnung nach dem Zusammenbruch des europäischen Staatensystems infolge der nationalsozialistischen Expansion – ein Prozess, der vom machtpolitischen und ideologischen Gegensatz der USA und der UdSSR dominiert wurde, von der gesellschaftlichen Verfassung der beteiligten Staaten ausging und auf diese polarisierend zurückwirkte, von der wechselseitigen Furcht vor einem Übergreifen der Gegenseite auf die eigene Sicherheitssphäre geprägt wurde und darum zur Zweiteilung Deutschlands und Europas, zu Mentalitäten und Praktiken eines permanenten Belagerungszustands und zu weltweiter Konkurrenz um Einflusssphären führte. […]
Der Prozess der Blockbildung vollzog sich so nach dem Prinzip der «self fulfilling prophecy»: Die westliche Politik der Kooperationsverweigerung und Pressionen provozierte die Abschliessung und einheitliche Ausrichtung des Sowjetblocks, die die antikommunistischen Dogmatiker schon zuvor behauptet hatten; die Mo-
nolithisierung Osteuropas und die Obstruktion des Marshall-Plans riefen die westliche Blockbildung hervor, gegen deren vermutete Folgen sie gerichtet waren; und beide Seiten fanden in der gegnerischen Blockbildung Anlass, die Überschätzung der Kräfte der Gegenseite bestätigt zu sehen – so wenig die Thesen vom prinzipiellen Imperialismus der Gegenseite jemals tatsächlich berechtigt waren.
Wilfried Loth, Die Teilung der Welt, Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955, München, 1980, S. 333 und S. 337.
C) Der amerikanische Historiker John Lucacs
Schon vor Kriegsende stand es außer Frage, daß Rußland als eine der großen Weltmächte aus dem Krieg hervorgehen würde. Es war klar, daß es nicht nur sein Ansehen, sondern in noch stärkerem Maße seine Macht und seine Besitzungen vermehren würde; es stand ebenfalls außer Frage, daß sein Hauptehrgeiz nicht das internationale Prestige des Kommunismus betraf, sondern in erster Linie auf die Beherrschung Osteuropas gerichtet war. All das gab Stalin selbst lange vor Jalta und noch im Anfangsstadium des Krieges zu verstehen. Es stand außer Frage, daß die Westalliierten in Anbetracht des großen russischen Beitrags zum Kriege und ihrer eigenen geographischen Lage es nicht würden umgehen können, einzelne der russischen Forderungen zu erfüllen. Die Tragödie war, daß sie – insbesondere die Vereinigten Staaten – der Situation erst ins Gesicht sahen, als es schon zu spät war, denn die Russen besaßen bereits größere Gebiete, als ihre Verbündeten und vielleicht auch sie selbst jemals erwartet hatten […].
Hier liegt der Ursprung des Kalten Krieges.
Quelle: John Lukacs, Konflikte der Weltpolitik nach 1945. Der Kalte Krieg, München 1970, S. 17 f.
Die atemberaubende Dynamik der Auseinandersetzung forderte früh Erklärungen. In der historischen Forschung wurden in den 45 Jahren der Auseinandersetzung vier Hauptdeutungen präsentiert.
(1) Nach der traditionellen Vorstellung, der frühesten Erklärung, war für die Entstehung und Forcierung des Kalten Krieges die marxistisch-leninistische Ideologie mit ihrem Anspruch auf die Weltrevolution verantwortlich. Diese habe die Sowjetunion prinzipiell auf einen aggressiven Kurs gegenüber dem Westen festgelegt. Pragmatische Annäherungen in Entspannungsphasen seien zwar möglich gewesen, nicht jedoch eine Abschwächung des Expansionsdranges. Wichtige Vertreter dieser Auffassung kamen aus der amerikanischen Regierung: George Kennan, der «Erfinder» der Eindämmungspolitik (Containment Policy), und John Foster Dulles, der Schöpfer der Befreiungspolitik (Liberation Policy). Als Kronzeuge aus dem Osten galt den Anhängern der traditionellen Interpretation lange Jahre Milovan Djilas. Der maßgebliche Theoretiker des jugoslawischen Kommunismus teilte in seinen quellenkritisch höchst umstrittenen Erinnerungen unter dem Titel Gespräche mit Stalin (dt. 1962) mit, der sowjetische Diktator habe ihm im April 1945 anvertraut, er werde das sowjetische System überall dort einführen, wohin die Rote Armee vordringe.
(2) Die revisionistische Erklärung betonte seit den sechziger Jahren die amerikanische Verantwortung für die Entstehung des Kalten Krieges. Die Sowjetunion sei aus dem Zweiten Weltkrieg geschwächt hervorgegangen und habe dem Westen nahezu hilflos gegenübergestanden. Stalins Politik sei weniger von imperialen Vorstellungen ausgegangen als von der Bewahrung und Sicherung des bestehenden Staates. Die Ursache des Konflikts müsse man daher vielmehr in der politisch-wirtschaftlichen Struktur der Vereinigten Staaten sehen, die auf permanente Erschließung neuer Absatz- und Rohstoffmärkte ausgerichtet sei. […]
(3) Beide Positionen näherten sich seit den siebziger Jahren in der postrevisionistischen Interpretation des Kalten Krieges an: Sie geht davon aus, daß die Fehlinterpretation beider Seiten für die rasante Entstehung und bedrohliche Entwicklung der Auseinandersetzung maßgeblich war. Kontinuierlich habe
die verfehlte Wahrnehmung falsche Entscheidungen produziert. […] Vieles, was in den letzten Jahren nach der Öffnung bisher verschlossener Archive zutage gefördert wurde, weist in diese Richtung.
(4) Die nach 1991 unter Nutzung neuer Archivalien entstandene vierte, mentalitätsgeschichtlich-empirische Erklärung unterstreicht dagegen, daß der Kalte Krieg von den Hauptbeteiligten keineswegs als Mißverständnis betrachtet wurde. Vielmehr wurde er von ihnen von Beginn an und auf beiden Seiten bewußt und mit vollem Einsatz als ein «Krieg anderer Art» geführt. Er sollte zwar — wenn möglich — nicht zum Atomkrieg führen, aber er sollte gewonnen werden. Daß diese Interpretation die Realität trifft, zeigen nicht zuletzt die heftigen Debatten um Sieger und Besiegte nach 1991.
Quelle: Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, 2012, S. 9-11
A) Der amerikanische Historiker William Appleman Williams
Die USA mit ihrer auf globaler (insbesondere ökonomischer) Vorherrschaft abzielenden Politik der „offenen Tür“ sind der entscheidende Faktor (weniger die Atombombe), die auf drei Annahmen fußte
- unter der Annahme, dass die Sowjetunion (SU) böse aber schwach ist, versuchten die USA den Einfluss der SU in Osteuropa zu beschränken und zurückzudrängen
- die Vorstellung, dass die USA sich als Repräsentant des Guten sahen, rechtfertigte in ihren Augen, die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten
- eine weltweite Expansion wurde als notwendig gesehen, um eine Wirtschaftskrise in den USA zu verhindern
B) Der deutsche Historiker Wilfried Loth
Sowohl die USA als auch die SU haben einen entscheidenden Anteil an der Blockbildung, dem Gegenüberstehen zweier grundverschiedener Gesellschaftssysteme, bestimmt von machtpolitischen und ideologischen Gegensätzen.
Die Polarisierung folgte dem Prinzip der „self-fulfilling prophecy“, also der wechselseitigen Furcht vor der jeweils anderen Seite, die zu Fehlwahrnehmungen der Absichten des Gegners führte.
C) Der amerikanische Historiker John Lucacs
Die SU mit ihrem Expansionsstreben ist hauptsächlich verantwortlich
• die SU ging aus dem 2. Weltkrieg als große Weltmacht hervor
• die SU wollte ihre Macht und ihre Besitzungen vermehren, v.a. ging es ihr um die Beherrschung Osteuropas
• die Zugeständnisse der Westalliierten sind aufgrund der geografischen Lage und des Beitrags der SU im Krieg einerseits verständlich, andererseits aber tragisch, da die Westmächte (und insbesondere der USA) zu spät auf das aggressive Vorgehen der SU reagierten
A) William Appleman Williams gilt als Repräsentant der revisionistischen Deutung.
B) Wilfried Loth wird den Vertretern eines postrevisionistischen Erklärungsansatzes zugeordnet.
C) John Lucacs interpretiert die Entstehung des Kalten Krieges nach traditionellen Vorstellungen.
